Donnerstag, 31. März 2016
42
Die abendländische Säkularität ist ein einzigartiges Phänomen. Nirgendwo sonst wird die Weltwirklichkeit so transzendenzvergessen wahrgenommen und bearbeitet, wie auf dem alten Kontinent Europa.
Donnerstag, 24. März 2016
41
Sich bestimmten Ruhe-, Feier- und Festtagen aus religiösen Gründen zu unterwerfen, ist unnötiger Götzendienst – so, wie es Götzendienst ist, sich bestimmten Texten, Dogmen, Ethiken, Verfassungen, Institutionen oder Menschen zu unterwerfen. Allerdings ist es aus anthropologischen Gründen durchaus hilfreich, bestimmte Regelmäßigkeiten und Wiederholungen zu pflegen, solange wir diese so einrichten und gebrauchen, dass sie sich nicht verselbständigen und sich unserer bemächtigen.
Mittwoch, 23. März 2016
40
Es ist ein bemerkenswertes Ereignis, dass Derridas Dekonstruktion die Erneuerung paulinischen Denkens provoziert – und dies nicht etwa in der Theologie, sondern in der französischen und italienischen politischen Philosophie. Kant entdeckt in der Theologie den „stolzen Anspruch“, die Philosophie sei bloß „ihre Magd“ – und fügt dieser Beobachtung die bissige Frage bei, ob die Philosophie wohl „ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt“. Was Paulus betrifft, so wäre zu wünschen, dass sich die politische Philosophie als Fackelträgerin erweisen würde. Dies aber nicht im Dienste einer schlichten Neuauflage paulinischer Theologie in der Gegenwart – dafür ist der „garstige Graben“ (Gotthold E. Lessing) zwischen Paulus und uns doch zu breit und zu tief. Es bedarf vielmehr einer Neuaneignung paulinischer Denkstrukturen unter den Interpretations- und Lebensbedingungen des 21. Jahrhunderts – also eines reformatorischen Aktes, der vergleichbar ist mit dem des 16. Jahrhunderts. Dazu einige vorläufige häretische Thesen.
Dienstag, 22. März 2016
39
Mein Denkweg nach dem Ende eines
transzendenten Gottes, den es „gibt“, führt in der Gottesfinsternis von Bonhoeffers Religionslosigkeit über Derridas
Dekonstruktion zurück zu Paulus. Wie das?
38
Die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang - aber auch ihr Ende.
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Da haben wir doch einen Studenten in der mündlichen Prüfung tatsächlich "auf dem völlig falschen Schlauch erwischt"!
Montag, 21. März 2016
36
Der katholische Theologe Karl Rahner hat gegen Bonhoeffers ohnmächtigen und mitleidenden Gott vorgebracht, dass ein Gott, dem es offenbar „genauso dreckig geht“ wie uns, kaum noch wirklichkeitsrelevant sein kann. Damit ist ganz richtig gesehen, dass uns der Verzicht auf positive Gültigkeitsbeziehungen zwischen Transzendenz und Immanenz hineinführt in Offenheit und Schwäche. Beides verschärft sich in Derridas Dekonstruktion, da hier nicht allein, wie schon bei Kant, die Weltwirklichkeit gegenüber transzendenten Gründen und Verheißungen abgeschlossen ist, sondern weil hier, in einem nächsten Aufklärungsakt, überdies alle bevollmächtigenden säkularen Ideale entzaubert sind.
Sonntag, 20. März 2016
35
Dass über Derridas Dekonstruktion hinausgedacht werden muss, gilt für mich als ausgemacht. Mit ihren Göttern und Ideen versuchen Religion und Metaphysik, das in der Vernunft Vernommene sinnstiftend zu erklären, ihm Anfang und Ziel, Grund und Verheißung zu geben. Auf die eine oder andere Weise vermitteln sie dabei zwischen verschiedenen Vorstellungen von Transzendenz und Immanenz. Irgendein Verhältnis zwischen „jenseits“ und „diesseits“, zwischen „oben“ und „unten“ soll den an sich chaotischen Erscheinungen der Weltwirklichkeit Struktur verleihen und der menschlichen Existenz Halt und Orientierung bieten. Diese Stabilisierungsversuche sind mit Derridas Dekonstruktion überwunden. Das stählerne Gehäuse der Weltwirklichkeit ist endgültig verschlossen, die einzig verbleibende Wirklichkeit ist entgöttert und damit sinnentleert.
Samstag, 19. März 2016
34
Bonhoeffers Religionslosigkeit ist eine erste Annäherung an den Versuch, Gott jenseits des Scheiterns der säkularen Rekonstruktion des christlichen Gottes in der Moderne zu behaupten. Auf der Linie dieses Versuches schreitet gerade nicht die noch ganz moderne Gott-ist-tot-Bewegung voran, sondern vielmehr die französische Nachkriegs-Phänomenologie. Der Philosoph Dominique Janicaud hat auf eine darin vollzogene „theologische Wende“ aufmerksam gemacht. Diese Wende lässt sich auch zurückführen auf starke Impulse aus dem jüdisch inspirierten politischen Denken nach Auschwitz.
Freitag, 18. März 2016
33
Das ist der Lauf der Dinge: Die sichtbaren Götter, alles, woran wir uns in der Weltwirklichkeit mit Vernunft oder Gefühl hängen und was gerade darin Macht gewinnt über uns, verliert früher oder später seinen Reiz, offenbart sich als enttäuschend anders oder kommt an sein natürliches, manchmal allzu unappetitliches Ende: das unbedingt notwendige neue Kleidungsstück, das Glück mit einem neuen Partner, die großen beruflichen Ziele, der Traum von globalem Frieden und Wohlstand.
Donnerstag, 17. März 2016
32
Gestern Abend, der Augenblick ist gekommen: Der Bachelor wählt endlich die Dame, die zu seinem Herzen gesprochen hat, bei der er plötzlich schon von Beginn an gewusst haben will, dass da etwas Besonderes sein muss. Echt? Nun könnte man zunächst die Frage stellen, warum der FC Bayern, der sich gleichzeitig gegen Juventus Turin durch das Champions League Viertelfinale quält, erst Tore zu schießen beginnt, nachdem der Bachelor seine Entscheidung getroffen hat. War das etwa geplant? Sollten die Quoten gesichert werden? Also erst was für's Frauenherz, dann was für die Männerseele – ganz ohne Streit um die Fernbedienung?
Mittwoch, 16. März 2016
31
Jedes halbwegs geschickt eingerichtete religiöse oder metaphysische System lässt den Zweifel als Anomalie zu. Durch die Integration des Zweifels werden Systeme nachhaltiger.
Dienstag, 15. März 2016
30
„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Diese frühe Intuition Bonhoeffers, formuliert in seiner Habilitationsschrift „Akt und Sein“ (1930), kann zunächst ganz traditionell christlich gedeutet werden. Selbstverständlich weiß die gesamte christliche Theologie, dass Gott (auch) anders ist, dass er in der Weltwirklichkeit nicht aufgeht. Insofern „gibt“ es ihn nicht einfach. Auch kennt das christliche Denken breite und einflussreiche Strömungen negativer Theologie, in denen die Annäherung an Gott gerade in der Betonung seines Anderssein versucht wird.
Montag, 14. März 2016
29
Manchmal muss man das Kind mit dem Bade ausschütten, um es vor dem Ertrinken zu retten.
28
Eine erste psychoanalytische Aufklärung: Aufgewachsen bin ich in einem durchaus schillernden frommen Milieu, das man im weitesten Sinne als evangelikal bezeichnen kann. Die frühe bewusste Zeit meines Lebens habe ich in einem christlichen Freizeit- und Ferienheim verbracht, dessen Aufbau und Leitung mein Vater übernahm, als ich knapp zwei Jahre alt war. Das Heim lag auf einem leichten einsamen Hügel, umgeben von herrlich weitläufigen Wiesen und Wäldern. Etwas abgesetzt im Tal gab es ein kleines 250-Seelen-Dorf.
Sonntag, 13. März 2016
27
Der alles entscheidende Augenblick, in dem sich der sichtbare Gott endgültig entzieht, ist unübertroffen simuliert in der berühmten Construct-Szene des ersten Teils der Matrix-Trilogie. Ihr ist das Symbol meines Blogs entnommen. Neo kann der Wahrheit nicht länger ausweichen, dass seine bisherigen Wirklichkeitswahrnehmungen und -interpretationen pure Illusion sind. Die reale Realität ist erschreckende Finsternis: „Welcome to the Desert of the Real.“
Dieser Augenblick, der Jahre währen kann, ist gefährlich. Es drohen Verzweiflung, mystische Uminterpretation oder der totale Verfall an die Götter der Scheinwirklichkeit. In diesem Augenblick entscheidet sich, ob das alte Wort vom Kreuz verwässert, verworfen oder vollmächtig wird. Fromme Selbsttäuschung, Sklaverei oder Glaube und Kampf.
In der Kälte dieses Augenblicks hilft nur eine gehörige Portion reformatorischen Starrsinns: „Lieber noch ein wenig zähneklappern, als Götzen anbeten“ (Nietzsche).
Dieser Augenblick, der Jahre währen kann, ist gefährlich. Es drohen Verzweiflung, mystische Uminterpretation oder der totale Verfall an die Götter der Scheinwirklichkeit. In diesem Augenblick entscheidet sich, ob das alte Wort vom Kreuz verwässert, verworfen oder vollmächtig wird. Fromme Selbsttäuschung, Sklaverei oder Glaube und Kampf.
In der Kälte dieses Augenblicks hilft nur eine gehörige Portion reformatorischen Starrsinns: „Lieber noch ein wenig zähneklappern, als Götzen anbeten“ (Nietzsche).
Samstag, 12. März 2016
26
Zwischen Luther und Calvin brechen die Epochen. Für Luther ist die Weltwirklichkeit noch religiös aufgeladen. Im Streit der sichtbaren und unsichtbaren Mächte, die in ihm und um ihn herum wirken, ist er zutiefst besorgt, wie er sich Gott nähern und in seiner Nähe halten kann. Luther sucht nach dem gerechten Gott, dem er selbst gerecht werden kann, findet allerdings den rechtfertigenden Gott, dem kein Mensch gerecht ist – dem aber auch niemand gerecht werden muss, weil er selbst gerecht macht. In dieser reformulierten Verhältnisbestimmung von Transzendenz und Immanenz halten sich noch zahlreiche religiöse Interpretationsmuster, aber es ist erstaunlich, wie viel Christentum darin bereits verabschiedet und wie viel paulinischer Messianismus zurückgewonnen ist.
Freitag, 11. März 2016
25
Alle Zeiten haben ihre eigenen Weltanschauungen und Weltgestaltungsversuche. Immer gibt es auch Skeptiker oder Abweichler, aber insgesamt erweisen sich bestimmte Weltanschauungen und entsprechende Weisen, die sich stellenden Probleme zu lösen, zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt als erfolgreich, akzeptiert und dominant.
Donnerstag, 10. März 2016
24
Seit etwa drei Jahrzehnten wird in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine „Wiederkehr der Religion“ beobachtet und bearbeitet.
Mittwoch, 9. März 2016
23
Alles Denken, alles Reflektieren ist der Versuch, sich in Raum und Zeit zu orientieren und möglichst zu befestigen.
22
Gestern Abend: großer Organspende- und Transplantationsabend auf SAT 1. Dazu der Film "Zwei Leben. Eine Hoffnung", vollgestopft mit sogenannten ethischen Dilemmata. Gemeint sind ausweglose Pflichtenkollisionen, in denen die eine wie die andere Entscheidung als gut oder als böse, als richtig oder als falsch wahrgenommen werden kann - abhängig davon, welche Perspektive eingenommen wird. In seiner Botschaft ist der Film allerdings eindeutig: Organspendeausweis besorgen und ausfüllen. Nun ja - wenn diese elenden Pflichtenkollisionen nicht wären...
Dienstag, 8. März 2016
21
Spätestens seit 1945 hat das Abendland damit begonnen, die Welt nach modernen politischen Vorstellungen einzurichten. Als Ideale gelten der säkular-liberale Rechtsstaat und die demokratische Regierungstechnik. Mit dem Ende des Kalten Krieges scheinen die letzten totalitären Systeme überwunden, und bloß noch ein paar wild gewordene Islamisten bereiten Probleme. Wenn diese jedoch eingefangen sind, dann könnten alle weltpolitischen Konflikte grundsätzlich gelöst und das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) könnte gekommen sein.
Montag, 7. März 2016
20
Der Zugang zum paulinischen Messianismus ist uns durch verschiedene Umstände erschwert.
Sonntag, 6. März 2016
19
In vorsäkularer, religiöser Zeit werden Glaube und Vernunft insofern als Einheit wahrgenommen, als dass das Göttliche selbstverständlich als das der Weltwirklichkeit Vorausliegende, die Weltwirklichkeit Bestimmende und sie Durchdringende gilt. Göttliches und Wirkliches werden ganz unterschiedlich vorgestellt, ebenso die Verbindung zwischen beiden. Manche sehen das Göttliche eher in den Ideen der Vernunft, andere eher in den natürlichen Erscheinungen abgebildet. Immer aber verstehen sich Glaube und Vernunft als komplementäre Interpretationseinheit, die beide gemeinsam darum ringen, wie das Göttliche im Wirklichen und damit das Wohl von Welt und Mensch zu realisieren sei. Dabei nennt die Theologie das Vorausliegende Gott, die Philosophie spricht eher unpersönlich von Metaphysik.
Samstag, 5. März 2016
18
Rudolf Bultmanns theologisch begründetes Entmythologisierungsprogramm hat nicht nur den biblischen Texten, sondern religiösen (Offenbarungs-)Texten überhaupt jede hermeneutische Tiefe und damit alle geheimnisvolle „Herrlichkeit“ (Karl Jaspers) genommen.
17
Wenn wir von Selbstbewusstsein sprechen, dann meinen wir üblicherweise, dass Menschen sich ihres Wertes, ihrer Besonderheiten und Stärken bewusst sind. In einer ermutigenden Wendung dieses Begriffs wollen wir dann deutlich machen, dass Menschen ihr Selbstbewusstsein in Haltung und Handlung ausdrücken und ihre damit verbundenen Ziele verwirklichen sollen. Also: "werde, der Du bist".
Freitag, 4. März 2016
16
Es ist nicht unerheblich, dass das frühe Christentum in weltanschauliche und politische Krisen hinein entwickelt wird. Das antike Denken und seine Verheißungen verlieren ihre Überzeugungskraft, die politische Weltordnung als Pax Romana wird brüchig. In diesem Verfallsprozess bietet sich die neue Religion zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert zunehmend als Zuflucht und Rettung an.
15
Nach dem Damaskus-Ereignis zieht Paulus sich erst einmal mehr als 10 Jahre aus der Öffentlichkeit zurück. Von dieser Zeit wissen wir nichts - bis auf die wenigen kryptischen Andeutungen, die Paulus später in seinen Briefen hinterlässt.
Donnerstag, 3. März 2016
14
Eine andere Analogie zwischen Isaak und Jesus, Morija und Golgatha lässt sich denken: Abraham hat nicht im Glauben damit gerechnet, dass er Isaak letztlich doch nicht opfern müsste. Er hat ihn wirklich glaubend geopfert, während er zugleich glaubend ins nun wieder völlig Unbestimmte hinein an der Erfüllung göttlicher Verheißung festhielt. Als Gleichnis dafür, dass das Verheißene tatsächlich etwas ganz anderes ist, als das in der Weltwirklichkeit Empfangene, wurde ihm Isaak wiedergegeben (Jak 2,21; Hebr 11,17-19).
Mittwoch, 2. März 2016
13
Das Christentum hat uns an eine eigentümliche Pointierung des messianischen Ereignisses gewöhnt: Es gibt insofern eine Analogie zwischen Isaak und Jesus, Morija und Golgatha, als dass nach diesen Ereignissen das Verheißene in der Weltwirklichkeit (wieder) empfangen werden darf. Nach Jesus, so sagt man uns, ist der reale Empfang des Verheißenen sogar ohne jedes weitere Opfer möglich. Und mehr noch: Über die jüdische Vorstellung hinausgehend wird das Verheißene nicht nur ganz weltlich gedacht. Inkarnationstheologisch wird sogar das Göttliche im Weltwirklichen als kommend behauptet. Würde Paulus mit dieser Idee konfrontiert, er würde ihr ins Angesicht widerstehen.
Dienstag, 1. März 2016
12
Wie kann es gelingen, einen Anderen von meiner eigenen Interpretation der Wirklichkeit zu überzeugen?
11
Es kommt nicht von ungefähr, dass Pippi Langstrumpf allein in einem Haus am Rande einer namenlosen Stadt wohnt. Sag Deinen Kindern "Sei Du selbst" (was auch immer das ist) - dann füllst Du die Welt mit bunten, aber einsamen und unzuverlässigen Langstrümpfen.