Samstag, 19. Oktober 2024
1059
Das wesentliche Merkmal der sogenannten Generation Z ist wohl nicht ihre Neigung zum Müßiggang. Ihr wesentliches Merkmal ist ihre Existenz unter dem Diktat der Authentizität. Unter diesem Diktat verliert sie die Fähigkeit, in den für den Fortbestand unserer Kultur und ihrer ausdifferenzierten Sachbereiche notwendigen Rollen zu funktionieren. Bei Max Weber galt noch: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein.“ Heute gilt: Wir müssen noch Berufsmenschen sein, – die uns folgende Generation kann es nicht mehr sein. Wenn man eine große diagnostische Linie ziehen wollte, dann müsste man wohl sagen: Das Christentum frisst heute seine säkularisierten Kinder.
1058
Selbstbehauptung oder Selbstaufklärung. Entweder – Oder. Beides ist nicht zugleich zu haben.
Freitag, 11. Oktober 2024
1057
Eine Notiz zu Joker: Folie à Deux. Der Film ent-täuscht im besten Sinne des Begriffs. Als Realität entspricht er nicht den Bildern, die man sich von ihm entworfen hat.
Was an dieser Ent-Täuschung amüsiert: Gerade sie ist das, was der Film bezeichnet. Die ent-täuschende Differenz zwischen Sein und Schein. Der Film zeigt den Wahn dessen, was wir Liebe nennen. Er inszeniert den Zwang des Scheins, den die Liebe erzeugt. Und er inszeniert den Zwang zum Schein, dem uns die Liebe unterwirft. Wir lieben nie das Sein selbst, sondern immer nur unser Bild des Seins. Und wenn das Bild verweht, wenn es sich auflöst und die Realität erscheint, dann verweht zugleich die Liebe. Das Reale jenseits der Bilder kann man nicht lieben.
Als ent-täuschender Film ist Joker: Folie à Deux schlechtweg großartig. Großartig als Ent-Täuschende sind vor allem auch Joaquin Phoenix und Lady Gaga. Unerbittlich demaskieren sie die Liebe. Und unerbittlich demaskieren sie zugleich das ent-täuschte Publikum.
Freitag, 4. Oktober 2024
1056
Wenn wir annehmen, Wirklichkeit sei eine Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen (siehe Nr. 1013, 1017), dann stellt sich vor allem auch die Frage nach der geeigneten Handhabung des Wirklichen noch einmal neu und anders.
Es mag dann durchaus nach wie vor entlastend und entängstigend erscheinen, wenn wir uns Zuverlässigkeiten entwerfen, wenn wir in Denken und Praxis Behausungen errichten und aufsuchen. Es muss uns allerdings bewusst sein und bleiben, dass alle erschaffenen Beständigkeiten und Stabilitäten immer schon im Vergehen begriffen sind. Was wir in Denken und Praxis haben, können wir immer nur noch so haben, als hätten wir es nicht.
Samstag, 21. September 2024
1055
Es ist auch unser Freiheitsbegriff, der uns irreführt und im Wirklichen abträglich wirkt. Mit Kant nehmen wir nach wie vor an, Freiheit sei das Vermögen, einen Zustand, damit zugleich auch eine Reihe von Begebenheiten oder Folgen schlechthin von selbst anzufangen. Wir glauben daran, dass unser Wille unbewirkte, erste Ursache sein kann. Dieser Freiheitsbegriff ist noch durchtränkt von der religiösen Annahme einer göttlichen creatio ex nihilo, zugleich von der christlich-theologischen Annahme einer Analogie zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf.
Dieser Freiheitsbegriff ist in mehrfachem Sinne ein überheblicher. Mit ihm gaukeln wir uns vor allem vor, unser Bewusstsein sei etwas der Natur Enthobenes, etwas den Bedingtheiten des Wirklichen Entrücktes. Abgesehen davon, dass diese Gaukelei mittlerweile längst als solche durchschaut ist: Sie reizt uns einerseits zwar zu beeindruckenden schöpferischen Akten (wobei wir tatsächlich nichts aus dem Nichts erschaffen, sondern bloß natürlich funktionieren), sie reizt uns damit aber zugleich auch zu unausgesetzter, aggressiver Wirklichkeitsdestruktion (alles Neue ist immer Destruktion des Vorhandenen).
Es gilt, einen veränderten Freiheitsbegriff ausfindig zu machen, einen demütigen und demütigenden Freiheitsbegriff, der als bloß uneigentliche Bezeichnung begriffen wird und der uns nicht länger destruktiv durch das Wirkliche hindurchtreibt. Weniger destruktiv wäre etwa ein messianischer Freiheitsbegriff. Messianische Freiheit ließe sich vielleicht als Vermögen begreifen, im kontingenten und paradoxen Dickicht unablässig sich wandelnder Relationen des Wirklichen das eigene, selbst immer als bewirkte Ursache begriffene Wollen und Entscheiden durch aufmerksame Interpretation und Selbsterinnerung so zu prägen und auszurichten, dass im unmittelbar von Wollen und Entscheiden betroffenen Wirklichkeitsraum die regulären, erwartbaren Kausalitäten unterbrochen, also in ihrer Dynamik abgefedert und gedämpft werden, dass der durch Wollen und Entscheiden immer auch aufgebaute, destruktive Druck abgefangen, aufgefangen, umgeleitet und abgeleitet wird.
Freitag, 13. September 2024
1054
In der Fiktion des Ewigen ist das Wirkliche nicht manifestiert. Es ist darin vielmehr aufgehoben und überwunden.
1053
Leben ist das, was im Vergehen begriffen ist, während wir es zu realisieren versuchen.
Donnerstag, 12. September 2024
1052
Es gibt Hoffnungsverwirklichungen, über die man sich kaum noch freuen, für die man kaum noch Dankbarkeit empfinden kann. Weil die Kosten des Wartens so hoch sind.
Sonntag, 18. August 2024
1051
Kürzlich hat sich das MCU mit Deadpool & Wolverine um eine nächste Erzählung erweitert. Der Film ist in jeder Hinsicht drüber. Vielleicht – so meine stille Hoffnung – ein strategisches Zuviel. Wir werden sehen.
Intellektuell anregend an Deadpool & Wolverine ist wohl allein die Einführung der Figur des Ankerwesens (anchor being). Ankerwesen sichern das Gefüge von Raum und Zeit, stabilisieren Existenz überhaupt. Ohne Ankerwesen sterben ganze Welten.
Ein durchaus spannender Gedanke, wenn man ihn in geeigneter Weise symbolisch wendet. So lassen sich Ankerwesen als Symbol durchaus auch messianisch interpretieren. Der Begriff symbolisiert dann das, was ich selbst mit dem Begriff des messianischen Subjekts anzudeuten versuche. Messianische Subjekte sind Ankerwesen der Ungültigkeit in kleinen Wirklichkeiten unmittelbarer Gültigkeiten. Paradox stabilisieren sie nicht die Existenz der Welt an sich, aber die Existenz ihrer jeweiligen Mikrowelten. Ohne sie treiben die Gültigkeiten dieser Welten auseinander und zerfallen.
Samstag, 17. August 2024
1050
Das postmoderne Denken, sofern man überhaupt von einem solchen sprechen kann, nähert sich dem Wirklichen an, ist dem Wirklichen näher und gemäßer als etwa das metaphysische oder das religiöse Denken. Dem postmodernen Denken gerät dabei allerdings aus dem Blick, welchen Nutzen Denken für uns haben soll und muss, zu welchem Zweck wir überhaupt denken: Denken zielt auf Selbstbefestigung im Wirklichen. Nicht zufällig provoziert daher das postmoderne unmittelbar auch das regressive Denken.
Freitag, 16. August 2024
1049
Das Viele übersehen, um das Eine wahrzunehmen, was nottut.
Dienstag, 13. August 2024
1048
Einer der Geburtsfehler des Christentums: die nahezu unmerkliche Verkehrung einer weltfreien in eine weltgebundene Weltlichkeit.
1047
Eines der Motive aus der Jubiläumskampagne der Diakonie: „Manchmal heisst Liebe, einfach da zu sein.“ Die messianische Wendung dieses Motivs ließe sich wohl so fassen: Liebe heißt auch Dasein.
Samstag, 3. August 2024
1046
Im messianischen Sinne mündig sein meint auch: auswählen können, auf welches Wirkliche wir uns einlassen, welchem Wirklichen wir gestatten, Macht zu haben über uns – das Wirkliche sei geistiger, sinnlicher oder materieller Natur.
Dienstag, 30. Juli 2024
1045
Seit einigen Wochen beobachte ich hier und da einen neuen Stern am Literatur- und Theoriehimmel: Lea Ypi. In ihrem aktuellen Buch rekonstruiert sie Kants Architektonik der Vernunft, öffentlich wahrgenommen wurde sie aber vor zwei Jahren vor allem mit der autobiographischen Analyse ihrer Kindheit und Jugend im poststalinistischen Albanien. Als (politische) Philosophin steht Ypi für das, was sie selbst moralischen Sozialismus nennt – für einen kapitalismuskritischen und radikaldemokratischen Versuch, aus der theoretischen Verschlingung von Kant und Marx ein neues gesellschaftliches und politisches Ideal zu gewinnen.
Montag, 29. Juli 2024
1044
Man sagt, Religion diene der Kontingenzbewältigung. Wir haben Religion, wir sind religiös zum Zwecke der Handhabung von Offenheit und Ungewissheit des Wirklichen. Das gilt aber wohl für alle Erzählungen, die wir vom Wirklichen und über das Wirkliche erfinden oder ausfindig machen. Vielleicht kann man sogar sagen: Sprache überhaupt ist Kontingenzbewältigungspraxis. Sprache ist das Instrument unseres Bewusstseins zur Bewältigung der ängstigenden Ohnmacht inmitten einer als kontingent wahrgenommenen Wirklichkeit.
Mittwoch, 24. Juli 2024
1043
Am vergangenen Sonntagabend in Köln, zwischen Hauptbahnhof und Heumarkt, der inzwischen gewohnte Weg durch die Altstadt. An diesem Abend ist alles ein wenig anders: Ich muss durch die menschlichen, hier und da allzumenschlichen Residuen der ColognePride 2024 hindurch.
Dienstag, 23. Juli 2024
1042
Max Weber fragt und sucht nach möglichen Bestimmungsgründen und Bedingungen für die Revolution okzidentaler Moral zwischen Mittelalter und Moderne, für die Überwindung der Moral der Mäßigung durch die Moral des Mehr. Wesentlich sind hier Impulse aus der reformatorischen Uminterpretation des Wirklichen und ihren modernen Anverwandlungen.
Nicht weniger spannend ist die Suche nach Bestimmungsgründen und Bedingungen für die Revolution des okzidentalen Selbstverständnisses zwischen Reformation und Spätmoderne, für die Überwindung des Selbst als Sünder durch das Selbst als Subjekt, für die Überwindung unbedingter Selbstkritik durch unbedingte Selbstbehauptung. Wesentlich sind hier wohl Impulse aus der modernen Uminterpretation des Wirklichen und ihren postmodernen Anverwandlungen.
Die Pointe hier wie dort: Das wirkliche Ergebnis beider Revolutionen weicht deutlich ab von dem, was die jeweils Uminterpretierenden noch im Sinn und vor Augen hatten.
1041
Was meine ich, wenn ich Verzweiflung sage: Mit Verzweiflung meine ich nicht etwa einen psychischen Zustand letzter Verzagtheit, kein Gefühl überbordender Schwermut. Mit dem Begriff Verzweiflung bezeichne ich vielmehr einen interpretatorischen Zustand, in dem nichts übrigbleibt als ein allerletzter interpretatorischer Akt – der Sprung in den Ab-Grund, das Wagnis des Nichts.
Montag, 22. Juli 2024
1040
Während der langen Bahnfahrten, die ich derzeit über mich ergehen lassen muss, klicke ich mich hin und wieder durch Podcasts mit mehr oder weniger philosophischen oder theologischen Inhalten.
1039
Was uns verführt und verleitet: dass wir an unsere Begriffe glauben.
Mittwoch, 17. Juli 2024
1038
Was Kant selbst noch wusste: Sein kategorischer Imperativ, sein als ob jeder Praxis, hat nur wenig zu tun mit dem, was man gemeinhin als Goldene Regel bezeichnet. Das triviale quod tibi fieri nolueris alteri ne feceris, so Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, könne gerade nicht als Prinzip dienen, weil es keinen allgemeinen und insofern verbindlichen Grund angebe. Kants Imperativ, so muss man Kants Beobachtung messianisch interpretierend verschärfen, hat schon gar nichts gemein mit der praktischen jesuanischen Empfehlung, der Einzelne solle dem Anderen alles tun, was er von ihm wolle, dass dieser es ihm auch tun solle (Mt 7,12).
Dienstag, 16. Juli 2024
1037
Vor einigen Tagen das Attentat auf Donald Trump. Trump selbst wird nur leicht verletzt. Im Fokus der nachträglichen Aufarbeitung des Ereignisses steht auch eine leichte Kopfbewegung Trumps unmittelbar vor dem Schuss. Die Bewegung – Trump hatte seinen Blick in diesem Augenblick wohl auf eine Anzeigetafel richten wollen – rettet dem US-Präsidentschaftskandidaten das Leben.
Montag, 15. Juli 2024
1036
Zu Nr. 1034: Das Christentum selbst ist keine (notwendige) Bedingung der Möglichkeit der Ungültigkeitsinterpretation. Es steht dieser Interpretation eher im Wege. Möglich ist allerdings, dass die Deutungsarbeit an zwei christlichen Bildern eine Atmosphäre stiftet, in der die Annäherung an das messianische als ob nicht zumindest erleichtert wird: unmittelbar die Arbeit am Bild des Kreuzes, wenn und insofern sie das Ende der Gottesrepräsentation im Wirklichen vorbereitet, mittelbar die Arbeit am Bild der Auferstehung, wenn und insofern sie die Hoffnungen auf eine heilende Gottesrepräsentation im Wirklichen überdehnt und die Hoffenden damit zuletzt in die Entzauberung hineintreibt.
Donnerstag, 11. Juli 2024
1035
Meine Erkenntnis richtet sich sowohl gegen meine Natur als auch gegen meine Prägung. Nun ist es leicht, diese Erkenntnis zu haben in Zeiten, in denen die Lebensbedingungen die Bedürfnisse von Natur und Prägung halbwegs befriedigen. Schwer wird es erst dann, wenn diese Befriedigung fehlt oder ausbleibt. Erst dann muss sich tatsächlich bewähren, was ich erkannt habe. Das Erkannte bewährt sich, wenn es mir gelingt, mit seiner Hilfe den Vergegenwärtigungsdruck, dem mich meine Natur und meine Prägung aussetzen, zu lösen, zumindest zu moderieren.
Mittwoch, 10. Juli 2024
1034
Einige meiner stillen Überlegungen der vergangenen Wochen haben mich hier und da zum Streit zwischen Barth und Brunner zurückgeführt. Mich beschäftigt nach wie vor und immer wieder die Vermittelbarkeit des messianischen als ob nicht. Mich beschäftigen damit gerade auch die Bedingungen der Möglichkeit des als ob nicht überhaupt. Unter welchen Voraussetzungen wird Ungültigkeitsinterpretation allererst möglich (siehe u.a. Nr. 262, 326)?
Dienstag, 9. Juli 2024
1033
In der Theologie des Christentums setzt sich fort, was sich auch in der Theologie des Judentums schon beobachten lässt: eine Sakralisierung des Ertrotzten. Herausragend und folgenschwer ist die Heiligsprechung des Gesetzes (siehe auch Nr. 838).
Mittwoch, 26. Juni 2024
1032
Social Media: Verlust der Wirklichkeitsdistanz durch Hingabe an das Alltägliche. Überzeichnung, Verzerrung, Überdehnung des Banalen und Belanglosen. Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit des Nichtigen. Purer, vollkommender Nihilismus.
1031
Was Tradition wird, hat seine Substanz längst verloren.
1030
Der nachwachsenden Generation ist eigentümlich, dass sie keiner Großerzählung mehr folgt. Sie folgt unzähligen zufälligen, fragmentierten, unverbundenen Kleinerzählungen. Dabei ist sie sich des Verlustes nicht mehr bewusst, verspürt keine Trauer, keine Wehmut. Ihr scheint nichts zu fehlen.
Was den Kleinerzählungen gemeinsam ist, ist die Tendenz zur Unterkomplexität, zugleich zur Überzeichnung und Dramatisierung. Das macht die nachwachsende Generation neu und anders anfällig für Radikalisierungen.
Was den Kleinerzählungen gemeinsam ist, ist die Tendenz zur Unterkomplexität, zugleich zur Überzeichnung und Dramatisierung. Das macht die nachwachsende Generation neu und anders anfällig für Radikalisierungen.
1029
Anlässlich aktueller Debatten: Die deutsche Idee des Staatsbürgers in Uniform, man muss es vielleicht einmal so sagen, ist (neben anderen) eine lebensverlängernde Maßnahme für eine sterbende okzidentale Großerzählung. Der Versuch alter weißer Menschen, ein universales und ökumenisches Ideal zu retten.
1028
Die Erzählungen, denen wir folgen, einen uns nicht. Sie halten uns vielmehr auf Distanz. Oder besser: Sie fügen der Differenz der Natur die Differenz der Sprache als Ausdruck der Differenz der Bewusstheiten hinzu.
1027
Alt werden heißt Ohnmacht anerkennen lernen.
1026
Unsere Erzählungen müssen sich erst dann bewähren, wenn die Wirklichkeit dem, was wir uns versprechen, allmählich die Bedingungen der Möglichkeit entzieht.
1025
Auf hartem Grund hinterlässt man keine Spuren. Das gilt im materiellen wie im ideellen Sinne.
Sonntag, 2. Juni 2024
1024
Die Bedingung der möglichen Wirklichkeit dessen, was wir wollen, ist das Wirkliche selbst, nicht ein absolutes Vernünftiges. Das Vernünftige ist nicht unbedingt das wirklich Mögliche.
Samstag, 1. Juni 2024
1023
Zum Zwecke der Selbstirritation folge ich hier und da den Herrnhuter Tageslosungen. Gestern noch einmal einer dieser irritierenden Sätze: „Alle, die dem HERRN widerstehen, werden zu ihm kommen und beschämt werden“ (Jes 45,24).
Wenn wir uns im Wirklichen dem Wirklichen fügen oder widersetzen, können wir nie sicher sagen, wem wir uns da eigentlich beugen, wem wir da eigentlich widerstehen: dem Wirklichen oder Gott selbst.
Dass Gott und Wirklichkeit nicht identisch sind, das haben selbst die Religiösen begriffen. Zumindest die Gebildeten unter ihnen. Und doch machen es sich gerade auch die gebildeten religiösen Moralisten in der Frage von Ergebung und Widerstand nicht selten allzu leicht.
Donnerstag, 30. Mai 2024
1022
In der alltäglichen, vor allem sprachlichen Begegnung mit Menschen am Rande der Adoleszenz, steht mir nahezu unausgesetzt Wittgensteins Einsicht vor Augen: Die Grenze unserer Sprache ist immer zugleich die Grenze unserer Welt. Das meint im Kern: Wenn wir Welt überhaupt ergreifen und haben wollen, dann brauchen wir Begriffe. Fehlen uns Begriffe, fehlt uns Sprache, so fehlt uns die Welt. Zumindest wird unsere mögliche Welt kleiner, unspezifischer, dürftiger, brüchiger, wenn uns Begriffe, wenn uns Sprache verloren geht. Und gerade das lässt sich beobachten: Die junge Generation läuft zunehmend Gefahr, mit ihrer Sprache zugleich auch die Welt zu verlieren.
Montag, 20. Mai 2024
1021
Eine Freundin, höchst geschickt in Wahrnehmung, Analyse und Interpretation, bemerkt kürzlich eher beiläufig, sie würde sich gelegentlich wünschen, so denken zu können wie ich. Dieser Satz soll keine Bewunderung zum Ausdruck bringen (was auch völlig verfehlt wäre). Dieser Satz formuliert den bisweilen sich aufdrängenden Wunsch, die eigenen Fragen mit den Denkmitteln des anderen beantworten zu können.
Dieser Satz, dieser Wunsch geht mir noch eine Weile nach. In ihnen verbirgt sich ein altes abendländisches, gerade auch christliches Ideal: das Ideal eines möglichen Austauschs, einer möglichen Verständigung, gar einer möglichen Einheit im Denken. Dieses Ideal ist geradezu der Eckstein des christlichen Abendlandes. Entfernt man diesen Stein, so brechen Theorie und Praxis der gesamten abendländischen Kultur regelrecht in sich zusammen. Theorie und Praxis der abendländischen Kultur stützen sich letztlich auf eine zählebige, erstaunlich unsterbliche Fiktion. Denn nicht mehr als dies ist das Ideal einer möglichen Einheit im Denken: pure Fiktion. Ein zwar tapferes, aber zum Scheitern verurteiltes als ob. Tatsächlich, wirklich ist und bleibt es nämlich so: Nie und nirgendwo teilen wir die Denkvoraussetzungen des anderen. Deshalb können wir uns nie und nirgendwo im Denken austauschen, verständigen, vereinigen. Nicht auszudenken, was das bedeuten könnte und müsste. Für unsere philosophischen, theologischen, pädagogischen und therapeutischen, nicht zuletzt auch für unsere politischen Konstrukte und Zwecke.
Sonntag, 19. Mai 2024
1020
Manche Menschen nehmen die Form als Substanz – und sind zufrieden. Der ihnen angemessene Lebensraum ist die Großinstitution, das ausgreifende Ordnungs- und Regelsystem. Etwa die Kirche. Oder auch die Streitkräfte. Hier sind sie besonders willkommen. Sie funktionieren ohne ernsthafte Anfragen.
Sonntag, 12. Mai 2024
1019
Alle Erfahrung ist Differenzwahrnehmung. Differenzwahrnehmung nötigt zu Differenzminimierung. Erfahrung hat, wer sich dieser Nötigung zu entziehen vermag. Differenzwahrnehmung ist permanent auch jenseits aller Differenzminimierung. Erfahren sein heißt, Differenz und ihre Wahrnehmung so zu handhaben, dass beide permanent erträglich bleiben.
Sonntag, 14. April 2024
1018
Derzeit noch einmal mitten im Kairos (siehe Nr. 639). Noch einmal mitten im Augenblick wartender Tat. Denken ist ausgesetzt, muss pausieren. Die Eigentümlichkeit dieses Kairos: Erstmals in dieser Dimension, erstmals mit dieser Tragweite ist der Kairos selbst verursacht, angestiftet, provoziert. Und dies nicht bloß als Simulation, nicht bloß als Fiktion zu anderen oder gar gegenteiligen Zwecken. Es wird in einer sich zunehmend verselbstständigenden Dynamik wirklich, was rückblickend mit einem noch gänzlich offenen und unspezifischen Vielleicht seinen Anfang genommen hat. Die wesentliche (auch theologische) Frage, die mich in dieser ergreifenden Dynamik bewegt: Lässt sich Fügung fügen? In religiöser Diktion: Ist Gott tatsächlich mit mir in allem, was ich tue (Jos 1,9)? Die allgemeine Antwort auf diese Frage ist mir nicht fraglich. Fraglich ist mir allein das Einzelne: ob sich mir wirklich fügend fügt, was ich wirklich will. Ob das Wagnis des Willens in der Fügung die gewollte Wirkung hat, oder ob sich der Wille am Ende doch wieder dem sich Fügenden fügen muss.
Samstag, 23. März 2024
1017
Wirklichkeit als Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen (siehe Nr. 1013): eine Bezeichnung, mit deren Hilfe sich vieles klären und aufklären lässt. Etwa der messianische Gedanke der Vergängnis, die Wahrnehmung und Interpretation des Wirklichen als etwas, das im Vergehen begriffen ist. Dieser Gedanke verliert unmittelbar seinen finalen, damit auch seinen katastrophischen Charakter.
1016
Wissenschaft kann regressiv wirken, wenn sie nicht eingebettet ist in eine aufgeklärte Interpretation. Wissenschaft und Aufklärung sind nicht identisch.
1015
Nicht alles, was ist, muss auch bezeichnet werden.
Samstag, 2. März 2024
1014
Die Idee, die Hoffnung der AI: Annäherung an das Göttliche durch künstliche Optimierung menschlichen Bewusstseins, durch künstliche Perfektionierung menschlicher Rationalität. Eine alte, gerade auch eine christliche Verirrung: die Verirrung in die Analogie. Als habe Gott Bewusstsein, als sei Gott rational, als sei er irgendwie sonst dem Menschen ähnlich oder vergleichbar. Wir kommen Gott oder dem Göttlichen nicht näher durch Optimierung oder gar Perfektionierung des Menschen. Wir optimieren und perfektionieren lediglich die ontologische Differenz. Das gilt schon für den gesamten Prozess okzidentaler Rationalisierung, das gilt nun insbesondere für den kommenden vorläufigen Höhepunkt dieses Prozesses: AGI.
Montag, 12. Februar 2024
1013
Physiker sagen uns, es gäbe keine Zeit. Es gäbe lediglich Veränderung im Raum. Das macht unseren Begriff von Wirklichkeit wankend. Was aber, wenn wir noch weiter gehen müssten? Was, wenn es auch keinen Raum gäbe? Wie ließe sich Wirklichkeit dann noch begreifen? Wirklichkeit wäre dann vielleicht noch dies: eine Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen. Damit ließe sich Wirklichkeit aber allenfalls noch bezeichnen, nicht mehr begreifen.
Anmerkung eins: Spätestens seit Kant wissen wir, dass es Zeit und Raum nicht an sich gibt. Es gibt sie nur für uns. Zeit und Raum sind (a priori) gegeben mit der menschlichen Vernunft. Zeit und Raum sind (reine) Formen der Anschauung und damit Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Man könnte auch sagen: Zeit und Raum sind a priori gegebene, unvermeidliche und notwendige Fiktionen unseres Bewusstseins. Irreführend, gar gefährlich ist allerdings erstens: die Vorstellung, Zeit und Raum als Fiktionen unseres Bewusstseins seien einfältig, unwandelbar und identisch. Zweitens: die Vorstellung, Zeit und Raum als Fiktionen unseres Bewusstseins seien Bedingungen der Möglichkeit wahrer Erkenntnis. Irreführend und gefährlich sind diese Vorstellungen, weil sie Universalität und Wirklichkeitsmächtigkeit als Möglichkeit verheißen.
Anmerkung zwei: Ist die Bezeichnung der Wirklichkeit als Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen halbwegs angemessen, dann müssen Versuche, der so bezeichneten Wirklichkeit natürliche oder moralische Gesetze zu entnehmen, die so bezeichnete Wirklichkeit mit Hilfe natürlicher oder moralischer Gesetze zu handhaben, früher oder später unvermeidlich scheitern. Derartige Versuche haben allenfalls eine mittlere Kraft und Reichweite.
Donnerstag, 8. Februar 2024
1012
Es gibt lebensältere Menschen, von denen man noch nicht einmal sagen kann, sie hätten sich so etwas wie Kindlichkeit bewahrt. Damit würde man ihnen fälschlicherweise zugestehen, sie hätten im Werden ihrer inneren Haltung eine aktive Rolle gespielt. Diese Menschen sind von Natur aus kindlich, sie sind natürlicherweise Kosmologen – Menschen also, die nicht anders können als anzunehmen, alles sei gefügt, alles würde, alles ließe sich fügen. Diesen Menschen fehlt die natürliche Anlage zur Entzauberung. Sie sind nicht selten grundgestimmt heiter. Frei jedoch werden sie nie sein.
1011
Es heißt, die Wahrheit werde uns frei machen (Joh 8,32). Wenn wir frei hören, denken wir glücklich gerne hinzu. Von Glück war messianisch jedoch nie die Rede.
Samstag, 3. Februar 2024
1010
Im Dickicht der Rationalitäten fliehen manche in die Eindeutigkeit, andere fliehen in die Unbestimmtheit. Manche müssen sich festlegen, andere können sich nicht festlegen. So oder so – unsere Rationalitäten gehen unserer Natur unvermeidlich in die Falle.
Mittwoch, 31. Januar 2024
1009
Irgendwann im Lauf unseres Lebens müssen wir bereit werden, die Verantwortung auch für das zu übernehmen, was andere in unsere Existenz hineingelegt, was andere in uns hinterlassen haben.
Donnerstag, 18. Januar 2024
1008
Bewusstsein ist die Illusion möglicher Freiheit. Vernunft ist die Illusion einer möglichen Einheit des Bewusstseins, zugleich auch die Illusion einer möglichen Einheit der Freiheit. Bewusstsein ist also vor allem die Selbsttäuschung des Bewusstseienden über sich selbst.
Sonntag, 14. Januar 2024
1007
Manche unserer Entscheidungen legen wir in unser Leben wie vereinzelte Puzzleteile auf einen leeren Tisch – von nichts getragen als der gewagten Hoffnung, die übrigen Teile ließen sich noch irgendwo finden und fehlende, unverfügbare Teile würden von wem auch immer noch rechtzeitig hinzugefügt.
1006
Wenn sich die Alten über die Jungen beklagen, dann verweist man gerne auf Sokrates. Er soll die Nachwachsenden seiner eigenen Zeit schon ganz ähnlich beurteilt haben, wie die Alten jeder beliebigen Zeit: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Mittlerweile wissen wir, dass dieser Ausspruch Sokrates fälschlicherweise zugeschrieben wird. Die irreführende Formulierung geht auf eine studentische Arbeit Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Relevant ist an dem Pseudo-Sokrates aber auch lediglich, was damit zum Ausdruck gebracht werden soll. Man will in relativierender Absicht sagen, dass jede Klage über den Zustand der jeweiligen Jugend überflüssig sei. Diese Klage habe es schon immer gegeben, diese Klage sei schon immer gleichen Inhalts gewesen, und bislang habe sich noch immer alles, was man beklagt habe, im Laufe des Alterns verflüchtigt.
Das mag richtig sein. Was aber, wenn dem Altern und dem Alter die klärende und vereinigende Metaphysik abhandenkommt? Was also, wenn das, was man aufgeklärte Mündigkeit nennen könnte, keine halbwegs sichere Größe mehr ist? Mehr noch: Was, wenn das, was der Jugend eigentümlich ist – die Suche des Eigenen, damit zugleich auch die Kritik des Alten – was, wenn diese Eigentümlichkeit zur Eigentümlichkeit auch der Alten wird, wenn sich die Alten dem Primat der Jugend unterwerfen, wenn die Alten ewig Suchende bleiben?
Freitag, 12. Januar 2024
1005
In dieser Woche wieder einem dieser Menschen begegnet, die Wissen mit Wahrheit verwechseln. Sie häufen Wissen an wie Kapital und sind davon überzeugt, damit auch in Wahrheitsfragen zahlungsfähig zu sein. Ein Irrtum.
Samstag, 6. Januar 2024
1004
Eine These: Erst der reformatorische Gnadenbegriff eröffnet ein eher funktionales Verständnis des Menschen.
1003
Nicht eine Idee, die im Laufe ihrer Interpretations- und Wirkungsgeschichte nicht auch in ihr Gegenteil verkehrt worden wäre. In gewissem Sinne ist dies eine Beobachtung, die hoffen lässt.
Montag, 1. Januar 2024
1002
Weil sie ihm auf ihre Weise folgt, habe ich unserer jüngsten Tochter – zunächst eher scherzhaft – vor einiger Zeit angekündigt, demnächst einen kleinen Eintrag zu Harry Styles verfassen zu wollen. Eine Weile habe ich diesen Gedanken vor mir hergeschoben, weil mir noch nicht wirklich klar war, was ich überhaupt sagen will. Nun hat mich die Begegnung mit der paulinischen Losung für das Jahr 2024 auf die Spur gesetzt: Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen (1 Kor 16,14). Harry und Paulus? Vielleicht lässt sich daraus ein Gedanke gewinnen.