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Mittwoch, 17. Juli 2024

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Was Kant selbst noch wusste: Sein kategorischer Imperativ, sein als ob jeder Praxis, hat nur wenig zu tun mit dem, was man gemeinhin als Goldene Regel bezeichnet. Das triviale quod tibi fieri nolueris alteri ne feceris, so Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, könne gerade nicht als Prinzip dienen, weil es keinen allgemeinen und insofern verbindlichen Grund angebe. Kants Imperativ, so muss man Kants Beobachtung messianisch interpretierend verschärfen, hat schon gar nichts gemein mit der praktischen jesuanischen Empfehlung, der Einzelne solle dem Anderen alles tun, was er von ihm wolle, dass dieser es ihm auch tun solle (Mt 7,12).

Bei Kant das unbedingte Gesetz, mit dem alle soziale Praxis aus der Zufälligkeit, aus der Beliebigkeit, man könnte auch sagen: aus der Vereinzelung herausgerissen und allgemein normiert werden soll.
Bei Jesus dagegen die messianische Gesetzlosigkeit, mit der alle soziale Praxis unmittelbar in die Kontingenz des Hier und Jetzt hineingestellt, man könnte auch sagen: am Einzelnen und auf das Einzelne ausgerichtet wird.
Hinter dieser Differenz steht eine fundamentale Differenz in Wirklichkeitsanschauung und Wirklichkeitshandhabung. Bei Kant die Annahme, es sei möglich und geboten, das Wirkliche unter regulative Ideen zu stellen und unter unbedingte praktische Allgemeinheiten zu zwingen. Bei Jesus dagegen die Annahme, dass dies nicht wirklichkeitsgemäß, dass dies also weder möglich noch geboten sei. Hinzu tritt bei Jesus die (noch verborgene) messianische Ungültigkeitsannahme. Jesus hält sich zur Welt und handhabt die Welt so, als wäre ihre Gültigkeit immer schon aufgehoben und überwunden.
Im Gegenüber zu Kant (und auch zur christlich-theologischen Tradition) kann die jesuanische Empfehlung für die soziale Praxis also nicht eine positive (oder negative), schon gar nicht eine allgemeine positive (oder negative) Vergültigung von Irgendetwas zum Zweck haben. Es geht nicht darum, uns wechselseitig zu verschaffen und bereitzustellen, was wir positiv (oder negativ) als Gültigkeit wollen – schon gar nicht etwas, das wir als allgemeine Gültigkeit positiv (oder negativ) wollen (müssen). In messianischer Perspektive empfiehlt Jesus vielmehr für die soziale Praxis, einander so zu handhaben, dass der wirkliche und unvermeidliche Streit der Gültigkeiten abgefedert und gedämpft, dass die wirkliche und unvermeidliche Dynamik des Streits der Gültigkeiten abgefangen, aufgefangen, umgeleitet und abgeleitet wird. Man könnte auch sagen: Jesus empfiehlt uns, einander gnädig anzuschauen und zu handhaben. So, wie ich darauf hoffe, dass der Andere mich gnädig anschaut und handhabt, so soll auch ich den Anderen gnädig anschauen und handhaben. Und das nicht im Allgemeinen, sondern radikal unmittelbar in der Kontingenz des jeweils vereinzelten Hier und Jetzt.

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