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Montag, 20. Mai 2024

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Eine Freundin, höchst geschickt in Wahrnehmung, Analyse und Interpretation, bemerkt kürzlich eher beiläufig, sie würde sich gelegentlich wünschen, so denken zu können wie ich. Dieser Satz soll keine Bewunderung zum Ausdruck bringen (was auch völlig verfehlt wäre). Dieser Satz formuliert den bisweilen sich aufdrängenden Wunsch, die eigenen Fragen mit den Denkmitteln des anderen beantworten zu können.
Dieser Satz, dieser Wunsch geht mir noch eine Weile nach. In ihnen verbirgt sich ein altes abendländisches, gerade auch christliches Ideal: das Ideal eines möglichen Austauschs, einer möglichen Verständigung, gar einer möglichen Einheit im Denken. Dieses Ideal ist geradezu der Eckstein des christlichen Abendlandes. Entfernt man diesen Stein, so brechen Theorie und Praxis der gesamten abendländischen Kultur regelrecht in sich zusammen. Theorie und Praxis der abendländischen Kultur stützen sich letztlich auf eine zählebige, erstaunlich unsterbliche Fiktion. Denn nicht mehr als dies ist das Ideal einer möglichen Einheit im Denken: pure Fiktion. Ein zwar tapferes, aber zum Scheitern verurteiltes als ob. Tatsächlich, wirklich ist und bleibt es nämlich so: Nie und nirgendwo teilen wir die Denkvoraussetzungen des anderen. Deshalb können wir uns nie und nirgendwo im Denken austauschen, verständigen, vereinigen. Nicht auszudenken, was das bedeuten könnte und müsste. Für unsere philosophischen, theologischen, pädagogischen und therapeutischen, nicht zuletzt auch für unsere politischen Konstrukte und Zwecke.

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