Im Zustand der Verzweiflung ist man demnach endgültig ans Ende seiner, ans Ende aller möglichen Interpretationen gelangt. Auswege und Rückwege ausgeschlossen. Es gibt zahllose interpretatorische Wege, sich der Verzweiflung anzunähern. Es gibt aber auch zahllose interpretatorische Kunstgriffe, die davor schützen, tatsächlich verzweifeln zu müssen. Intellektuell beeindruckend und verlockend ist hier vor allem der moderne (kantische) Kunstgriff der Kritik. Kritik setzt ein am Ende der Interpretation als Sicherheit, als Dogmatik. In dieser Lage vollzieht Kritik eine Umänderung der Denkart. Sie revolutioniert die interpretatorischen Voraussetzungen und Verhältnisse. Fixpunkt aller Interpretation ist nun nicht mehr das Objekt, sondern das Subjekt selbst. Im kopernikanischen Bild: Der Mensch wird sich selbst zur Sonne. Mit diesem Kunstgriff schreckt Kritik jedoch vor dem zurück, was am Ende der Dogmatik interpretatorisch auch möglich, vielleicht sogar intellektuell redlich wäre: vor der Verzweiflung. Kritik meidet die Verzweiflung, indem sie sich eine neue Sonne setzt, die (vermeintlich) noch oder neu erhellen und wärmen kann. Im Grunde genommen ist der Kritiker zur Verzweiflung nicht bereit (oder fähig). Wer dagegen nicht anders kann als zu verzweifeln, der hat jeden interpretatorischen Fixpunkt endgültig verloren. Wer verzweifelt, der muss künftig ohne erhellende und wärmende Sonne (als gültige Wirklichkeit) existieren lernen. Dem bleibt nur das, was Kritik verspricht, tatsächlich aber verhindert: Mündigkeit.
Nachbemerkung: Moderne Kritiker werden gegenwärtig gerne (und in gewissem Sinne durchaus treffend) als alt, weiß und männlich typisiert. Öffentlich zeigen diese Kritiker nicht selten den Habitus einer kritischen Verhärtung, einer Verbitterung in der Kritik. Angesichts der wahrgenommenen interpretatorischen Lage verweisen sie trotzig und hochmütig auf jene Sonne, an der sie sich selbst noch zu wärmen vermögen (auch Verbitterung kann erwärmen). Das ist wenig hilfreich. Hilfreich dagegen wäre, nach dem Ende der Dogmatik nun auch das Ende der Kritik anzuerkennen – und Verzweiflung zuzulassen. Voraussetzung wäre allerdings eine neue Bereitschaft: die Bereitschaft zur Umänderung der alten weißen männlichen Denkart.
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