Harry Styles – ein popkulturelles Phänomen mit beeindruckender Ausstrahlung. Vieles an diesem Phänomen ist bedenkenswert, manches bedenklich: etwa dessen quasi-religiöser Charakter, von der Selbstinszenierung des Meisters bis hin zur Selbstorganisation seiner Follower. Damit verbunden auch die nicht ganz unerhebliche Frage, ob Harry (sich) tatsächlich authentisch zelebriert. Vielleicht ist er ja auch bloß Produkt, vielleicht geht hier bloß eine geschickte, der Zeit auf den Leib geschnittene Marketingstrategie erfolgreich auf. Wie dem auch sei: Mich interessiert das Phänomen Harry vor allem als auffälliges Symptom, als ausdrucksstarkes Symbol unserer Gegenwart. Einer Gegenwart, die ich gelegentlich als Zeit oder Zeitalter der Gleich-Gültigkeit bezeichne und befrage (siehe z. B. Nr. 71, 329, 830, 917). Harry repräsentiert Postulat und Praxis der Gleich-Gültigkeit durch seine Allesoffenheit und Allengefälligkeit. Er zeigt sich als Künstler ohne Eigenschaften, als Interpret ohne Schließung. Seine Musik, seine Texte, seine Videos sind weich und anschmiegsam wie Seide auf der Haut, sind dabei ganz unverhohlen prall gefüllt mit einer inklusiven Zitatenvielfalt. Im Spektrum der Farben, mit dem Harry sich und seine Fans einhüllt, hat jede Farbe ihren Raum. Alle dürfen sich eingeladen, alle dürfen sich angenommen fühlen. Und alle dürfen, alle sollen im Ruf er Farbenvielfalt leben: Treat people with kindness. Das ist Harrys Evangelium, das ist sein Mantra. Das ist auch das Mantra seiner Follower, die sich darin als Repräsentanten unserer Gegenwart erweisen: liebevolle Anerkennung für alle und alles.
Nun ist es nicht so, dass ich dem Evangelium liebevoller Anerkennung, dem mit Harry ausdrucksstark und eindrucksvoll symbolisierten Evangelium der Gleich-Gültigkeit nichts abgewinnen könnte. So werden darin etwa überkommene Wertehierarchien, es werden substanzielle Wahrheiten überwunden, deren Begründungen sich längst als unsicher, als brüchig, als haltlos erwiesen haben. Vor diesem Hintergrund wird eine Haltung gefordert und befördert, die sich nicht konfrontativ, sondern einladend, die sich nicht ausgrenzend, sondern einschließend zeigt.
Damit ist nicht wenig gewonnen. Allerdings wirft die Haltung der Allesanerkennung als Voraussetzung der Wirklichkeitshandhabung auch Fragen auf. Zunächst fordert diese Haltung so etwas wie Schließungsvermeidung. Schließen müssen wir jedoch alltäglich. Jede Entscheidung, die wir treffen müssen, ist immer zugleich auch eine Schließung, ein Ausschluss. Viele Entscheidungen sind bloß funktionaler Natur. Was aber ist mit jenen Entscheidungen, die nach einer Wertung, nach einer Hierarchie der Anerkennung verlangen? Ist unter dem Postulat der Allesanerkennung eine Art Triage der Liebe denkbar? Was wären die ein- und ausschließenden Kriterien? Wie ließen sich diese Kriterien begründen?
Dem Alltäglichen noch vorgelagert, steht die Haltung liebevoller Allesanerkennung auch grundsätzlich vor einer Ungereimtheit. Die Haltung der Allesoffenheit kommt auch grundsätzlich nicht ohne Schließung, nicht ohne Ausschluss aus. Die Haltung der Alleseinschließung muss sich unvermeidlich gegenüber allen als ausschließlich erweisen, die – vielleicht sogar mit guten Gründen – an substanziellen Wahrheiten und Werten, damit zugleich an Schließungen und Ausgrenzungen festhalten wollen, die nicht anders können, als (sich) daran festzuhalten. Die unvermeidliche Ausschließlichkeit der Allesoffenheit kann autoritäre, sogar totalitäre Züge annehmen: wie etwa im Raum der Wokeness-Bewegung, die in letzter Konsequenz dazu tendiert, zum Zwecke des Einschlusses spezifischer Identitäten alle anderen Identitäten von allen anderen Identitäten auszuschließen.
Was mir über dies alles hinaus besonders problematisch erscheint: Harrys Evangelium, die Forderung nach liebevoller Anerkennung für alle, führt uns unmittelbar hinein in einen spannungsreichen Widerspruch. Einerseits ist dieses Evangelium eine maximale Selbst- und Fremdzumutung. Es fordert von uns und anderen, alle nur denkbaren natürlichen Eigenschaften als gleichermaßen gültig anzuschauen. Es fordert maximale Selbst- und Fremdnivellierung, maximale Nicht-Positionalität, damit auch maximale Selbst- und Fremdbegrenzung. Andererseits ist dieses Evangelium eine maximale Selbst- und Fremdermutigung. Es fordert uns und andere dazu auf, alle nur denkbaren natürlichen Eigenschaften maximal zu entfalten. Es fordert maximale Freisetzung und Ausdifferenzierung der Natur, maximale Positionalität, damit auch maximale Selbst- und Fremdrepräsentation.
So gesehen setzt die Allesanerkennung, damit sie wirklich werden, damit sie wirklich gelingen kann, notwendig auf zwei Annahmen als Bedingungen ihrer Möglichkeit: auf die Annahme der möglichen Wirklichkeit vollständiger Mündigkeit im Sinne vollständiger Selbst- und Fremdrelativierung, zugleich auf die Annahme der möglichen Wirklichkeit vollständiger Harmonie im Sinne vollständiger Einheit in Differenz. Es gibt aus meiner Sicht viele gute Gründe, diese beiden möglichen Wirklichkeiten für unmöglich zu halten. Und so wird die Idee liebevoller Allesanerkennung, so vermute ich, nicht zuletzt auch an den Bedingungen ihrer Möglichkeit scheitern. Weil sich das, was diese Idee zumutet, nicht herstellen, weil sich das, wozu diese Idee ermutigt, nicht moderieren lässt. Auf welche Wirklichkeit die Idee der Allesanerkennung im in jeder Hinsicht überfordernden Widerstreit von Zumutung und Ermutigung hinauslaufen wird, lässt sich nicht absehen. In jedem Falle aber wird diese Wirklichkeit eine paradoxe sein. Eine Wirklichkeit, die wir so nicht abgesehen, die wir mit großer Wahrscheinlichkeit so auch nicht gewollt haben werden.
Was hat dies alles nun mit der Jahreslosung 2024 zu tun? Das Christentum ist wesentlich mitverantwortlich für das gegenwärtige Zeitalter der Gleich-Gültigkeit. Man könnte auch sagen: In Postulat und Praxis der Gleich-Gültigkeit strebt das Christentum gegenwärtig dem in ihm unerkannt angelegten, alles nivellierenden, nihilistischen Höhepunkt entgegen. Und so werden in den kommenden Tagen auch die zahllosen Ausdeutungen der Jahreslosung auf christlichen Kanzeln und vor christlichen Altären kaum noch etwas anderes können, als den Gedanken der Gleich-Gültigkeit zu propagieren. Das paulinische Evangelium: Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen, das noch nichts gemein hat mit der Idee der Allesanerkennung, wird verkehrt und vereinigt mit Harrys Evangelium: Treat people with kindness. Und dabei wissen die Christen nach wie vor nicht wirklich, was sie da eigentlich tun, was sie da eigentlich bewirken.
Hier und da formuliere ich selbst den Wunsch nach einer erneuten Ent-Deckung des paulinischen, des messianischen Evangeliums, damit auch nach einer erneuten Ent-Deckung einer anderen Liebe. Dieser Wunsch birgt allerdings unkalkulierbare Risiken. Es ließe sich ja durchaus mit guten Gründen behaupten, Paulus selbst, der paulinische Messianismus selbst sei wesentlich mitverantwortlich für die Heraufkunft des Christentums, damit zugleich für die Heraufkunft der gegenwärtigen Gleich-Gültigkeit und ihrer unabsehbaren Wirkungen. Vielleicht würde ja Paulus heute, könnte er sehen und erleben, was er geboren hat, umfassend widerrufen. Und vielleicht würden auch wir, wüssten wir, was wir heute denkend, sprechend und handelnd eigentlich erzeugen, entsetzt die Hände ringend alles zurücknehmen wollen.
Harry und Paulus. Davon war ich ausgegangen. Welcher Gedanke lässt sich gewinnen? Vielleicht der Gedanke der Wachsamkeit: Wir müssen wachsam sein und bleiben gegenüber jedem Evangelium, dem wir folgen, gegenüber jedem Mantra, das wir repetieren. Wir sind zu kurzsichtig, um abschätzen zu können, welche Wirklichkeit unserem jeweiligen Evangelium, welche Wirklichkeit unserem jeweiligen Mantra ent-wächst. In diesem Sinne, im Sinne dieser anderen, vielleicht besseren Weise der Schließungsvermeidung: Ein wachsames Jahr 2024!
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