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Mittwoch, 10. Juli 2024

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Einige meiner stillen Überlegungen der vergangenen Wochen haben mich hier und da zum Streit zwischen Barth und Brunner zurückgeführt. Mich beschäftigt nach wie vor und immer wieder die Vermittelbarkeit des messianischen als ob nicht. Mich beschäftigen damit gerade auch die Bedingungen der Möglichkeit des als ob nicht überhaupt. Unter welchen Voraussetzungen wird Ungültigkeitsinterpretation allererst möglich (siehe u.a. Nr. 262, 326)?

Vergleichbar fragen Barth und Brunner. Ihre Antworten helfen allerdings nicht mehr wirklich weiter, weil ihr Streit ein innerchristlicher ist. Grundsätzlich fragen und antworten sie im selben Erzählraum. Beide fragen, wenn man so will, nach den Bedingungen der Möglichkeit eines positiven Gültigkeitsverhältnisses, einer positiven Verbindung zwischen Gott und Mensch. Dabei setzt der eine auf die nachträgliche, der andere auf die vorausgesetzte Setzung eines Anknüpfungspunktes. Der eine setzt auf Offenbarung, der andere auf (formale) Natur. Und dabei wird die eine wie die andere Setzung als ein dem Menschen unverfügbarer, nachträglicher oder vorausgehender Schöpfungsakt Gottes begriffen. Ob diese Art des Streits um die Wahl der Waffen im Kampf an derselben Front tatsächlich Freundschaften kosten muss, sei einmal dahingestellt.
Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des messianischen als ob nicht führt nun zunächst in eine gewisse Nähe zu Brunner. Vorausgesetzt ist selbstverständlich der Mensch als Bewusstseinswesen. Der Mensch ist sich auf eine letztlich nicht erklärbare Weise des Wirklichen bewusst und kann nicht anders, als das ihm bewusst werdende Wirkliche in ein Verhältnis zu setzen zu dem wirklich Wirklichen (was auch immer das ist). Der Mensch kann nicht nicht interpretieren. In einer gewissen Nähe zu Barth ist aber zugleich die Einsicht vorausgesetzt, dass alle Interpretationen des Bewusstseinswesens Mensch wirklichkeitsimmanent sind und bleiben. Keine Interpretation vermag eine positive (oder negative) Gültigkeitsverbindung herzustellen zu einer anderen, wie auch immer begriffenen transzendenten Wirklichkeit – weder formal noch substanziell. Religion und Metaphysik, Theologie und Philosophie als mögliche Wirklichkeitserzählungen verbleiben, auch wenn sie sich selbst und anderen anderes verheißen, immer bloß im Raum des Weltwirklichen, vermögen über das, was man Transzendenz, was man Gott oder das Göttliche nennen könnte, nichts, wirklich gar nichts auszusagen – weder formal noch substanziell.
Das messianische als ob nicht als Möglichkeit setzt nun voraus, dass der von Barth und Brunner noch geteilte, christliche Erzählraum verlassen wird. Dies geschieht im restlosen und endgültigen Verzicht auf die Annahme einer anderen Wirklichkeit als gültige und vergültigende Gotteswirklichkeit, an der sich irgendwie positiv (oder auch negativ) anknüpfen ließe. Eine Gotteswirklichkeit als Gültigkeit knüpft weder ihrerseits (offenbarungspositivistisch) an der Weltwirklichkeit an, noch kann der Mensch seinerseits (natürlicherweise) an dieser Wirklichkeit anknüpfen. Weil es eine Wirklichkeit dieser Art schlechtweg nicht gibt. Wer messianisch interpretieren will, der muss diese Art Wirklichkeit als fatale Täuschung durchschaut und verworfen haben. Das messianische als ob nicht als Interpretation setzt somit nicht etwa (bloß) so etwas wie Säkularisierung voraus, auch nicht (bloß) so etwas wie die etwa von Agamben postulierte Profanierung. Beide Weisen zu interpretieren, sowohl die säkulare wie auch die profane, bleiben auf ihre je eigene Weise im christlichen Erzählraum gefangen. Wer dagegen messianisch interpretieren will, der muss – auf welchem Wege auch immer – einen Erzählraum betreten, der muss sich früher oder später in einem Erzählraum wiederfinden, der vielleicht als Raum prä-religiöser und prä-metaphysischer Gottlosigkeit bezeichnet werden kann.
In diesem Raum geht es dem Interpretierenden nicht mehr um ein positives (oder negatives) Gottesverhältnis. Ein solches Verhältnis ist nicht möglich, weil es die Wirklichkeit, zu der sich ein solches Verhältnis herstellen ließe, gar nicht gibt. Der Interpretierende sucht nun allein noch nach einem angemessenen Weltverhältnis. Er sucht nach einer Interpretation, die der wirklichen Wirklichkeit gemäß ist, die ihn als Bewusstseinswesen aber zugleich in ein geeignetes Verhältnis setzt zu dieser Wirklichkeit. Damit hier die messianische Interpretation, damit das messianische Ungültigkeitsverhältnis zur Weltwirklichkeit zumindest möglich werden kann, müssen im Interpretierenden weitere, ganz natürliche Voraussetzungen gegeben sein: Zunächst und vor allem muss er die unendliche Differenz von bewusster und wirklicher Wirklichkeit überhaupt wahrnehmen (Differenzwahrnehmung). Er muss diese Differenz als schmerzhaft empfinden (Differenzschmerz), er muss seine letzte Ohnmacht gegenüber dieser Differenz erkennen und anerkennen (Differenzohnmacht), und er muss fähig und bereit sein, an dieser Ohnmacht zu verzweifeln (Differenzverzweiflung). So und nur so werden vielleicht die Bedingungen wirklich, die schließlich das zumindest möglich machen, was man den messianischen Sprung nennen könnte: den Sprung hinein in die messianische Ungültigkeitsuminterpretation des Weltwirklichen. Welches dann jedoch die Bedingungen sind, unter denen dieser Sprung wirklich wird – das vermag ich (noch) nicht zu sagen.

Summe: Allein schon die Bedingungen der Möglichkeit (nicht der Wirklichkeit) des messianischen als ob nicht sind so zahlreich und so außergewöhnlich, dass diese Interpretation selbst geradezu als nicht auffindbar, schon gar nicht als vermittelbar erscheinen muss.

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