Freitag, 30. Dezember 2022
899
Wir verfolgen Ziele. Und während wir sie zu realisieren versuchen, entzieht uns der Prozess des Alterns schleichend so viel Lebensqualität, dass wir alles, was wir möglicherweise erreichen, bloß noch in immer enger werdenden Grenzen genießen können.
Dienstag, 27. Dezember 2022
898
Was uns daran hindert, andere zu sehen: die Spiegelung als Missverständnis. Intuitiv sehen wir andere zunächst als Gleichnis, wir sehen sie gewissermaßen als Analogie, als Repräsentation unserer selbst. Und indem wir andere so sehen, sehen wir nicht sie, sondern lediglich uns selbst. Wir übersehen, dass das Anderssein anderer gegen unendlich geht. Indem wir uns in anderen spiegeln, fliehen wir letztlich vor ihrem Anderssein.
Montag, 26. Dezember 2022
897
Am heiligen Abend zu Besuch im Gottesdienst der Kirche für Oberberg – eine dieser Projektkirchen, die mit einem möglichst professionellen Angebot das auf dem Markt zu halten versuchen, was vom christlichen Glauben noch übrig ist. Das Angebot scheint hier aktuell zu ziehen: Die größte Halle der Stadt wurde angemietet, und die Reihen sind gut gefüllt.
Sonntag, 25. Dezember 2022
896
Wirklich verzweifelt sind wir erst dann, wenn es uns endgültig nicht mehr gelingt, uns in unserem Selbstmitleid wohlzufühlen.
Samstag, 24. Dezember 2022
895
Karl Barth: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“
Karl Barths Missverständnis: Wir sollen keine Theologen, wir sollen Menschen sein. Als solche sollen wir gar nicht von Gott reden. Unser eigentliches Problem liegt nicht darin, dass wir als Menschen von Gott als dem ganz Anderen reden sollen, dies aber gar nicht können. Wir können und sollen als Menschen nur vom Menschen und vom Wirklichen überhaupt reden (vom Anderen sollen wir schwiegen). Jenseits der Gültigkeiten können und sollen wir vom Menschen und vom Wirklichen aber nur noch göttlich, verungültigend, begnadigend sprechen – und eben dies ist es, was wir als Menschen gar nicht können. Als Gültigkeitswesen können wir nicht verungültigend reden. Das ist unser eigentliches Problem, das es zumindest zu bearbeiten gilt. Zu lösen ist es nicht (siehe auch Nr. 170, 549).
894
Tragen oder getragen werden. Etwas anderes steht nicht zur Wahl. Aber die Wahl haben eigentlich nur jene, die tragen. Aber jene, die tragen, haben eigentlich keine andere Wahl.
Mein heutiger Wunsch: Einen erträglichen Tag, den wir im deutschen Sprachraum Heiligabend nennen. Heilig ist dieser Abend, wenn er erträglich, wenn seine Last leicht ist. Die Last dieses Tages möge so leicht sein, dass wir sie gut, vielleicht sogar gelassen, unbelastet tragen können.
Freitag, 23. Dezember 2022
893
Gegen Ende des vergangenen Jahres habe ich meine Lebenssituation als Beginn einer Annäherung von Denken und Leben interpretiert (Nr. 784). In diesem Beginn habe ich mich in den vergangenen Monaten geübt.
Was heißt es in meinem Falle, wenn das Denken im Leben wirklich wird? Es heißt zunächst: unbedingt unbegründet zu wollen, den Willen von allen möglichen Gültigkeitsgründen zu lösen. Dieses Unterfangen ist gefährlich, weil das, was als Wille gesetzt wird, nicht mehr (durch Gültigkeiten) zu rechtfertigen ist. Allenfalls noch fiktiv. Als ob.
Es heißt zudem: nichts anderes mehr zu wollen als die Sache selbst, den zu setzenden Willen der fiktiven Ungültigkeit als Sache unbedingt unterzuordnen. Dieses Unterfangen ist schmerzhaft, weil es zunächst und vor allem verlangt, die Ungültigkeit der Gültigkeit des eigenen Selbst zu wollen.
Mittwoch, 21. Dezember 2022
892
Ein vorweihnachtlicher Gedanke: Warum habe ich mein Christentum verloren? Weil die jeweils sich ergebende Wirklichkeit zu oft und zu deutlich von der aus Glauben gewollten, erbetenen, erhofften Wirklichkeit abgewichen ist. Und dies, so meine Selbstwahrnehmung (über eine andere verfüge ich nicht), obwohl man authentischer nicht glauben, obwohl man ernsthafter nicht glaubend wollen, beten und hoffen kann, als ich es getan habe. Ich habe mein Christentum verloren, weil ich zu oft Steine essen musste statt Brot. Simple as that.
891
Ein junger Kamerad, es ist einer von den wenigen guten, fragt mich in seinen Worten um Rat, wie die Differenz zwischen vorgestellter und vorgefundener Wirklichkeit zu ertragen sei.
Auch wenn das Fass groß ist, dass er damit geöffnet hat, habe ich mich zunächst um eine kurze Antwort bemüht. Was ich zu sagen hatte, konnte er wohl so nicht erwarten, hat er vielleicht auch so gar nicht hören wollen. Unter anderem habe ich ihm geraten, etwas gegen seinen Idealismus zu unternehmen. Gerade auch dieser Rat hat sich für mich so angefühlt, als würde ich von ihm fordern, alles zu verkaufen, was er hat. Und mein junger Kamerad ist reich an dem, was er zu verkaufen hätte. Er ist reich an Idealismus.
Dienstag, 20. Dezember 2022
890
Bin in diesen Tagen, was selten geschieht, an einer Netflix-Mini-Serie hängen geblieben: „Ein Sturm zu Weihnachten“.
889
Kürzlich eine kleine Beobachtung in der samstäglichen Warteschlange beim Bäcker. Eine der Fachverkäuferinnen redet, etwas abseits der Theke stehend, lautstark auf eine ihrer Kolleginnen ein. Offenbar hatte es zuvor Beschwerden gegeben. Andere Kolleginnen scheinen nicht allzu gut mit ihr auszukommen. Mit Nachdruck und erhobener Stimme weist die Dame allerdings jeden Wunsch nach Änderung ihres Verhaltens zurück. Auch unter Verweis auf die unmöglichen Forderungen ihres Ex-Freundes (!) pocht sie darauf, sie sei nun einmal so, und sie wolle und werde sich auch nicht ändern.
Schon mehrfach ist mir die Dame – sie ist vielleicht 40 Jahre alt – an den vergangenen Samstagen aufgefallen, dann jedoch jeweils durch ihren unmittelbaren Umgang mit Kundinnen und Kolleginnen. Immer wieder ist sie mir unangenehm laut, aufdringlich, raumgreifend, übermäßig zuvorkommend oder übermäßig abweisend erschienen. Kurz bin ich nun versucht, sie darauf hinzuweisen, dass ihre Natur und ihre unbedingte Naturbehauptung sie unvermeidlich in die Einsamkeit hineintreiben werden. Angesichts des Wortgewitters, das mich ziemlich sicher erwarten würde, wähle ich jedoch das Schweigen.
Grundsätzlich erinnert mich die kleine Samstagsbeobachtung noch einmal daran, dass jeder Versuch, das Beieinander von Menschen auf Gültigkeiten zu gründen, immer nur misslingen kann. Gültigkeiten sind raumfordernd und raumgreifend, nötigen uns in Gemeinschaft immer und überall dazu, Räume abzustecken, zu behaupten oder gar konfrontativ zu erweitern. Die Folge: unendlicher Streit oder unendliche Einsamkeit.
Freitag, 16. Dezember 2022
888
Für mich ist meine Existenz interpretierte Wahrnehmung, für andere ist sie interpretierte Geschichte. Zwischen Wahrnehmung und Geschichte, zwischen dieser und jener Interpretation liegt ein unüberbrückbarer garstiger Graben.
Samstag, 10. Dezember 2022
887
Es ist ein Fehler zu denken, die öffentlich engagierten Egozentriker unserer Tage seien öffentlich engagierte Bürger. Idee und Wirklichkeit des Bürgerlichen stehen im Phänomen des öffentlichen Egozentrikers vor ihrem Ende. Jede repräsentative Idee bringt selbst auch jene Wirklichkeitsbedingungen hervor, die ihren Untergang befördern.
886
Kultur als Fortschritt im technischen Sinne hat uns vor allem physisch von der Natur entfremdet. Indem wir uns technischer Mittel bedienen, um Natur (leichter) zu bearbeiten, verlieren wir zahlreiche physische Fertigkeiten und Kräfte, derer wir zum Zwecke unmittelbarer Naturbearbeitung bedürfen. In einem nächsten technischen Fortschritt, im Bemühen um die Entwicklung künstlicher Intelligenz, arbeiten wir nun vor allem an einer (letzten) Entfremdung des Geistes von der Natur. Die eigentliche Bedrohung liegt dabei nicht darin, dass uns dieses Projekt über den Kopf wachsen, dass sich am Ende die Maschinen autonomisieren und die Herrschaft antreten könnten. Die eigentliche Bedrohung liegt darin, dass kostbare und unverzichtbare Fertigkeiten und Kräfte unseres Bewusstseins verkümmern werden. Durch die Entwicklung künstlicher Intelligenz werden wir nicht zu Sklaven der Maschinen, wir werden endgültig und unumkehrbar Sklaven des Wirklichen.
Mittwoch, 7. Dezember 2022
885
Nach einem erstaunlich erfreulichen Blockseminar mit Master-Studierenden zum Verhältnis von Glauben und Wissen, auf der Suche nach der möglicherweise haarfeinen Linie, die beide voneinander unterscheidet.
Dienstag, 6. Dezember 2022
884
Realisten, unabhängig davon, ob sie Wahrheit an der Oberfläche oder in der Tiefe, im Sichtbaren oder Unsichtbaren wähnen, folgen ihrem repräsentativen Glauben an Substanzen. Nominalisten dagegen erscheinen auf den ersten Blick aufgeklärter, nüchterner. Allerdings folgen auch Sie einem Glauben, dem nicht weniger repräsentativen Glauben an Kausalitäten und Funktionen. Beide Glaubensweisen sind auf unterschiedliche Weise gleichermaßen bindend erdverhaftet.
Montag, 5. Dezember 2022
883
In einem Buch von Don Winslow einem Satz von Stephen King begegnet: „If you don‘t have time to read, you don't have the time (or the tools) to write. Simple as that.“ Wer ausatmen will, muss zuvor einatmen.
Donnerstag, 1. Dezember 2022
882
Gelegentlich fragt man mich, ob ich glücklich sei. Mich irritiert diese Frage stets aufs Neue. Glück als Wirklichkeit verstehe ich als die auf Dauer gestellte Identität von vorgestellter und wahrgenommener Wirklichkeit. Angesichts der prinzipiellen Unmöglichkeit dieser Identität, angesichts der prinzipiellen Differenz von vorgestellter und wahrgenommener Wirklichkeit, ist mir das, was Glück genannt werden könnte, als Möglichkeit, als mögliche Wirklichkeit noch nicht einmal vorstellbar.
Sonntag, 20. November 2022
881
Querschnittsbegabung ist eine Form der Behinderung.
Samstag, 5. November 2022
Dienstag, 1. November 2022
879
Es ist schwer, endgültig loszulassen, was uns gegeben wurde. Es ist ungleich schwerer, endgültig loszulassen, was uns vorenthalten blieb, was wir schon immer entbehren mussten.
878
Wer annimmt, dass Geschlecht und geschlechtliche Identität in ihrem Sosein vor allem kulturell und sozial vorgeprägt sind, der muss zugleich annehmen, dass die gegenwärtig heranwachsende Offenheit von Geschlecht und geschlechtlicher Identität auch nicht viel mehr ist als ein Symptom für kulturelle und soziale Umprägungen. Hier wird also nicht etwa ein neuer Freiraum geschaffen für eine bislang kulturell und sozial unterdrückte Natur. Hier wird lediglich durch kulturelle und soziale Umkonstruktion Bestimmtheit durch Unbestimmtheit ersetzt. Ob wir diese Umkonstruktion und ihre Folgen kulturell und sozial dauerhaft wollen können, das gilt es zumindest zu beobachten und zu bedenken.
Montag, 31. Oktober 2022
877
Der Mensch ist ein symbolbildendes, ein symbolisierendes Wesen (Ernst Cassirer).
Sonntag, 30. Oktober 2022
876
Nur noch nehmen wollen, was willentlich gegeben wird. Nur noch geben wollen, was willentlich genommen wird. Unsere stärksten Bedürfnisse so handhaben zu lernen, dass wir als Nehmende wie als Gebende bloß Anbietende sind – damit wäre viel erreicht. Für uns selbst wie für andere.
Samstag, 29. Oktober 2022
875
Gestern eine militärische Weiterbildung zur Frage, wie wir Menschen für die Streitkräfte gewinnen können und wie wir uns die Menschen vorstellen müssen, die heute auf dem Kasernenhof stehen, wenn wir sie wirklich gewonnen haben.
Donnerstag, 20. Oktober 2022
874
Die zunehmend zur Schau gestellte Identitätsoffenheit der gegenwärtig heranwachsenden Generation nicht zuletzt in geschlechtlicher Hinsicht ist Ausdruck einer kulturell eingeprägten Sehnsucht: der Sehnsucht danach, die eine Identität hinter sich lassen zu können und in einer anderen Identität Zuflucht zu finden. Hinter dieser Sehnsucht verbirgt sich wiederum ein dem Christentum entwachsener Unwille der Aufklärung: der Unwille, die Wirklichkeit als solche anzuerkennen, gerade auch in der je eigenen Person, gerade auch in der je eigenen Identität. Dieser im Kern christliche Unwille äußert sich heute im Raum der Geschlechtlichkeit als transformatorischer Absolutismus der Nicht-Identität, als Absolutismus der unendlichen Identitätsverweigerung hier, als Absolutismus der unendlichen Identitätskonstruktion dort. Beide Absolutismen nötigen zu einer unendlichen Offenheit, die eine Ankunft in irgendeiner Identität, die auch so etwas wie Selbstannahme dauerhaft unmöglich macht.
Mittwoch, 19. Oktober 2022
873
Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen (Wittgenstein). Vielleicht gilt aber auch: Was nicht vernommen werden kann, das muss nicht gesagt werden.
Es sind nicht nur meine gegenwärtigen Existenzbedingungen, die mein Denken und Sprechen stilllegen. Es ist auch die in mir herangewachsene Anerkenntnis, dass keine Interpretation notwendig, schon gar nicht zwingend ist (zu Nr. 837).
Es sind nicht nur meine gegenwärtigen Existenzbedingungen, die mein Denken und Sprechen stilllegen. Es ist auch die in mir herangewachsene Anerkenntnis, dass keine Interpretation notwendig, schon gar nicht zwingend ist (zu Nr. 837).
872
Gerade noch einmal einen dieser Lebensmomente zwischen Widerstand und Ergebung durchschritten. Erneut die immer gleiche Beobachtung: Der Augenblick der Offenheit, in dem wir noch nicht wissen, was uns zu wollen bleibt, ist ein ängstigender Augenblick der Unentschiedenheit und der Unentscheidbarkeit. Es ist ein Augenblick der Vorbereitung darauf, so oder so wollen zu können. Jenseits dieses Augenblicks, wenn wir entschieden haben oder wenn entschieden ist, bleibt daher unvermeidlich immer beides: Verärgerung und Erleichterung.
Sonntag, 18. September 2022
871
Gelegentlich steht mir in der Erinnerung einer meiner militärischen Lehrgangsleiter vor Augen, der mich und meine Kameraden zu Beginn eines für unseren Werdegang entscheidenden Ausbildungsabschnitts mit einer schlichten aber folgenreichen Wahrheit konfrontiert hat: „Mit dem heutigen Tage“, so sagte er damals in seiner Begrüßungsansprache, „wechseln Sie die Seiten. Künftig sind Sie nicht mehr Arbeitnehmer. Von nun an sind Sie Arbeitgeber.“ Ich war damals gerade einmal 21 Jahre alt.
Was mein Lehrgangsleiter uns mit seiner Verbalnote schon früh hinter die Ohren schreiben wollte: Offiziere, militärische Führer, müssen einen Haltungswechsel vollziehen. Sie dürfen sich möglichst früh nicht mehr zu jenen zählen, die im Wesentlichen Ansprüche formulieren, die davon ausgehen, dass ihnen grundsätzlich oder aufgrund einer erbrachten Leistung irgendetwas zustünde. Sie müssen sich vielmehr zu jenen zählen, die im Wesentlichen Zumutungen formulieren, die vor allem sich selbst Leistung abverlangen – unabhängig davon, ob sie auf irgendetwas Anspruch haben, ob ihnen irgendetwas zusteht.
Die gegenwärtig nachwachsende Generation militärischer Führer ist nach meiner Beobachtung auf diesen notwendigen Haltungswechsel nicht oder nur schlecht vorbereitet. Und in Deutschland wird den jungen Offizieren dieser Wechsel inzwischen deutlich zu spät zugemutet. Das kann und wird nicht folgenlos bleiben.
Anmerkung: Ein altes römisches Prinzip formuliert die Freiheit des Herrschers von den Gesetzen. Princeps legibus solutus est. Calvin weist in seinen frühen juristischen Kommentaren darauf hin, dieses Freiheitsrecht sei nichts anderes als ein Recht auf erhöhte Pflichten. Eine durchaus geeignete Mahnung gerade auch für militärische Führer. Je höher die Stellung, je größer die Macht, desto geringer der Anspruch, desto größer die Zumutung.
Samstag, 17. September 2022
870
Die Moralischen und die Unmoralischen haben etwas gemeinsam: das Ungeschick in der Handhabung des Wirklichen. Und die falsche Annahme, ihre Weise der Welthandhabung würde ihre Zwecke früher oder später wirklich werden lassen.
Sonntag, 11. September 2022
869
Kürzlich fragt mich jemand nach meinem inneren Anker. Die Kurzfassung einer möglichen Antwort ist wohl diese: ein Gott, der nicht wirklich ist in einer Wirklichkeit, die nicht Gott ist.
Freitag, 2. September 2022
868
Reformation in einer Nussschale: Alle reformatorischen Versuche richten sich letztlich darauf, Gottes Präsenz im Wirklichen auf Einmaliges und Einzigartiges zu beschränken. Auf eine einmalige und einzigartige Person (Jesus Christus), auf einen einmaligen und einzigartigen Ort (Heilige Schrift), auf ein einmaliges und einzigartiges Ereignis (Gnade).
Mit diesem interpretatorischen Eindämmungsakt ist schon wieder viel gewonnen, aber er geht zu wenig weit. Er lässt noch allzu viel Raum für Repräsentationen, erweist sich daher auch dogmatisch wie moralisch als wesentlich restaurativ.
Donnerstag, 25. August 2022
867
Man kann sagen, dass Freiheit sich dort finden lässt, wo Müssen durch Wollen überwunden ist. Dabei hängt jedoch die Wahrheit dieses Satzes ganz davon ab, wie Form und Substanz von Müssen und Wollen bestimmt werden.
Mittwoch, 24. August 2022
866
Warum irritieren uns die Emanzipationsbewegungen derjenigen, die nach uns kommen? Auch wir selbst haben uns dem Überkommenen entrungen. Das, was wir dabei neu oder erstmals zu entdecken geglaubt haben, neigt in unserer Wahrnehmung allzu leicht zur Absolutheit. Und so können wir kaum anders, als uns über jene zu verwundern, die sich aus unseren eigenen Entdeckungen wiederum zu lösen versuchen.
Emanzipatorische Akte sind notwendig. Jeder emanzipatorische Akt hat jedoch immer seine Zeit und seinen Raum, substanziell wohnt ihm nichts Absolutes inne. Dieses wie jenes müssen wir uns gelegentlich in Erinnerung rufen. Uns und natürlich auch jenen, die nach uns kommen.
Dienstag, 23. August 2022
865
Habe mich im gegenwärtigen Urlaub noch einmal einer alten Landserregel unterstellt: Hat der Soldat keinen Auftrag, dann ruht er. Für mich ist diese Regel nicht Entlastung, sondern Selbstzumutung. Meine Natur und meine Prägung kennen keine auftragsfreien Zeiten und Räume. Ich muss mir also selbst den Auftrag geben, keinen Auftrag zu haben. In jedem Urlaub das gleiche zirkuläre Spiel gegen mich selbst.
Samstag, 6. August 2022
864
An sich lässt sich nicht zwischen richtigen und falschen Entscheidungen unterscheiden. Wir entscheiden oder wir entscheiden durch Entscheidungslosigkeit – und die Wirklichkeit nimmt nach uns bekannten und unbekannten, nach uns zugänglichen und unzugänglichen Kausalitäten ihren entsprechenden Lauf. Unterscheiden lässt sich aber vielleicht zwischen fruchtbaren und unfruchtbaren Entscheidungen, dies im Blick auf unsere Willensbildung. Nur jene Entscheidungen sind fruchtbar, von denen wir – den Lauf des Wirklichen aufmerksam beobachtend – einen unseren Willen bildenden und festigenden Gebrauch machen.
863
Denken heißt: in ägyptischer Finsternis einen Interpretationsgraben ziehen für die je eigene Existenz. Voraussetzungen, Bedingungen und Mittel dieses Unterfangens sind uns nicht verfügbar, sie sind verfügt. Entscheidend ist allerdings, welcher Fiktion, welchem Glauben wir grabend folgen. Wobei sich selbstverständlich die Frage stellt, ob nicht auch unsere leitende Fiktion schon immer verfügt ist.
Sonntag, 24. Juli 2022
862
Das Christentum lässt sich ganz allgemein als Versuch interpretieren, auf die Abwesenheit des als präsent verheißenen und erwarteten Gottes zu reagieren. Als historisch und kulturell erfolgreich erweisen sich vor allem jene Christentümer, die eine wirksame Kompensation des fehlenden Gottes anbieten. Jedes dieser Christentümer setzt dabei so oder so auf eine menschenmögliche Transformation der Welt. Kulturmächtig werden also immer jene Varianten des Christentums, die das anbieten, was man eigentlich von Gott selbst erwartet hatte.
Samstag, 23. Juli 2022
861
Es gibt eine Uniformität in der Differenz. Wenn jeder anders sein will, dann wird jeder in seinem Anderssein gleichförmig. Das Streben nach Besonderheit führt zuletzt in die Anpassung. Wie wir uns auch drehen und wenden: Dem inhaftierenden Zirkel der Gesetze des Wirklichen können wir nicht entrinnen.
Freitag, 22. Juli 2022
860
Wer die Gleich-Gültigkeit authentischer Lebensformen und -weisen will, der will zugleich die totale soziale Kontingenz.
859
Warum sind denkende Menschen lautloser als dumme Menschen?
Weil sie sich der Fragwürdigkeit ihres Selbst bewusst sind.
Denkende Menschen äußern sich verhalten.
Darin äußert sich jedoch nicht ihre Schwäche.
Die Fragwürdigkeit des Selbst ist notwendige Bedingung für die Wahl des Selbst.
Die Wahl des Selbst wiederum ist notwendige Bedingungen für die Stärke des Selbst.
Mittwoch, 20. Juli 2022
858
Wer authentisch lebt, lebt fremdbestimmt.
Sonntag, 17. Juli 2022
857
Immer wieder die alte Wahrnehmung: Lautstärke und Dummheit liegen nahe beieinander. So wie Selbstsicherheit und Torheit. Sozial und politisch gefährlich ist vor allem jene Torheit, die sich in jedem Idealismus verbirgt.
856
Die gegenwärtig populäre Musik kennt im Grunde genommen nur noch zwei extreme Erscheinungsformen: Belangloses wird gefeiert, oder Belangloses wird beklagt. Dabei wird die Inszenierung von Feier und Klage zunehmend verwechselbar und austauschbar. Diese Beobachtung gilt zugleich auch für nahezu alles, was auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen trendet. Von hier ausgehend ließe sich eine aufschlussreiche Kulturdiagnose stellen.
Samstag, 16. Juli 2022
855
Alles Wirkliche ist an sich nichtig.
Es gibt jedoch Wirkliches, das ist mir wichtig.
Nicht, weil ich es bräuchte. Ich kann mich jederzeit beenden.
Es ist mir wichtig, weil ich es will. Darin ist meine Freiheit.
Alles, was ich will, hat Ursachen, Gründe, Wirkungen. Darin ist meine Unfreiheit.
Ich teile mir Raum und Zeit mit anderen wollenden Wesen. In ihrem Willen ist ihre Freiheit.
Der Wille der Anderen hat Ursachen, Gründe, Wirkungen. Darin ist ihre Unfreiheit.
Auch im Willen der Anderen, in seinen Ursachen, Gründen, Wirkungen, ist meine Unfreiheit.
Als Wollende sind und bleiben wir im Wirklichen unvermeidlich frei und unfrei zugleich.
Was uns in dieser Lage zuträglich ist, ist eine paradoxe Interpretation des Wirklichen.
Uns hilft eine Interpretation, die unser Wollen bindet und befreit zugleich.
Es gilt, eine Wirklichkeitsinterpretation ausfindig zu machen, die dies eröffnet:
Wollen mit Bestimmtheit, aber ohne Geländer.
Das ist die Aufgabe.
Sonntag, 10. Juli 2022
854
Zu Nr. 533, 658, 662: In meiner Person lässt sich die Spannung zwischen Natur und Interpretation nicht auflösen. Sie wird allerdings dort erträglich, ich kann also dort gut leben, wo meine Natur so etwas wie ein Zuhause findet, von dem ich mich zugleich interpretatorisch mit einer gewissen Unmittelbarkeit und Leichtigkeit zu distanzieren vermag. Ich kann also dort gut sein, wo mir eine abrahamitische Existenz eröffnet wird, wo ich ankommen und zugleich fremd sein kann.
Besser Fremdling im verheißenen Land, als Fremdling in der Fremde.
853
Ein dialektisches Moment der Aufklärung: Es wird gefordert und verheißen die Autonomie des Subjekts. Erzeugt werden jedoch auch zahllose wirkliche Menschen, die sich selbst ohnmächtig unterworfen sind und diese Unterwerfung mit Autonomie verwechseln. Aufklärung entfesselt gerade auch das, was sie zu überwinden verspricht: Unfreiheit. Und dies durchaus als Massenphänomen.
Samstag, 9. Juli 2022
852
Wenn Gott ganz anders ist, dann sind bereits Begriff und Vorstellung des ganz Anderen irreführend.
Samstag, 2. Juli 2022
851
Natur rettet nicht und Natur lässt sich nicht retten. Dies gilt für unsere erste wie für unsere zweite Natur, für unsere vorfindliche wie für unsere konstruierte Natur, für das also, was wir Kultur nennen, für unsere – wenn man so will – ideellen wie materiellen Behausungen. Insbesondere ist die vorfindliche nicht Rettung vor der konstruierten und die konstruierte nicht Rettung vor der vorfindlichen Natur. Wer vor der einen Natur in die andere zu fliehen, wer die eine Natur mit der anderen zu beherrschen versucht, wird früher oder später scheitern.
Keine der beiden Naturen werden wir jemals los, weder von der einen noch von der anderen Natur können wir uns befreien, beide Naturen – ihre jeweiligen Geltungsansprüche, ihre Vereinbarkeiten, ihre Unvereinbarkeiten und ihre Ausschließlichkeiten – gilt es dauerhaft zu handhaben, zu moderieren. Und immer dann, wenn wir einer der beiden Naturen Vorrang gewähren, drohen auf der unterdrückten Seite schwerwiegende Verluste. Ein aktuelles Beispiel: Während wir natürliche Geschlechtlichkeit ausschließlich als kulturelles Konstrukt begreifen und dieses Konstrukt in einer groß angelegten kulturellen Umkonstruktion zu überwinden versuchen, kommen uns die Fähigkeiten und Möglichkeiten abhanden, in unseren unmittelbaren Begegnungen der erstnatürlichen Geschlechtlichkeit selbst noch Räume zu öffnen und ihre Geltungsansprüche auf geeignete Weise zu befriedigen. Das hat Folgen, die wir kaum wollen können.
Sonntag, 26. Juni 2022
850
Blättere derzeit noch einmal in der Dialektik der Aufklärung. Große Teile dieser Erzählung haben heute längst den möglichen Resonanzboden verloren. Die zentrale Intuition dieser Erzählung ist jedoch nach wie vor so richtig wie alarmierend.
Meine eigene Kurzfassung dieser Intuition: Indem die Aufklärung – und sie kann ja gar nicht anders – die Entzauberung der Wirklichkeit absolut setzt, setzt sie zugleich die Wirklichkeit selbst absolut. Indem die Aufklärung – und sie kann ja gar nicht anders – den Menschen als total wirklichkeitsmächtiges Subjekt begreift, liefert sie dieses vermeintliche Subjekt tatsächlich den totalen Mächten des Wirklichen aus. Entscheidend ist dabei allerdings dies: Aufklärung ist – entgegen der Selbstwahrnehmung – nicht wesentlich anti-christlich, Aufklärung ist vielmehr wesentlich christlich. Man könnte auch sagen: In der Dialektik der Aufklärung zeigt das Christentum zuletzt sein wahres Gesicht.
Samstag, 25. Juni 2022
849
Der Preis jeder Begabung ist hoch. Der Preis keiner Begabung aber auch. Diesen wie jenen zahlt man ungefragt.
Sonntag, 19. Juni 2022
848
Manche Menschen zwingen uns durch ihre Unveränderlichkeit zur bedingungslosen Anerkenntnis des Wirklichen.
847
Will man vom Leben nicht vollständig ausgeschlossen werden, so wird man sich hier und da zumindest sprunghaft das zuganglich und handhabbar machen müssen, was wird oder geworden ist. Beispiel: ein neuer Fernseher.
Derzeit mühe ich mich darum, meinem 83jährigen Vater die Bedienung des neuen smarten TV-Gerätes mit Hilfe einer smarten Fernbedienung verständlich zu machen – einem haptisch veranlagten Menschen, der es als Handwerker lebenslänglich mit Kräften und Bewegungen in realen Räumen zu tun hatte. Die in diesen Räumen eingeprägten Wahrnehmungen und Interpretationen erweisen sich nun als kaum zu überwindende Hürde. Meinem Vater fehlt schlechtweg der Zugang zu einer Wirklichkeit, die ihm zumutet, sich beim Blick auf einen Bildpunkt einen Raum vorzustellen, den es nicht gibt und hier mit Kräften und Bewegungen umzugehen, die nicht real sind. Für mich noch einmal eine geradezu wehmütig stimmende Erinnerung daran, wie dürftig das ist, was uns mittlerweile als virtuelle Lebenswelt bannt und was wir irrsinnigerweise als Wirklichkeit wahrnehmen und bezeichnen.
Samstag, 18. Juni 2022
846
Heranwachsende halten ihr Erleben und Interpretieren bekanntlich für erstmalig und einzigartig. Ihnen fehlen noch Relation und Differenzierung. Ihnen fehlt vor allem die demütigende Einsicht, dass es nichts Neues gibt unter der Sonne.
Gerade auch die Wirklichkeitsbezeichnungen, die Begriffe Heranwachsender sind daher um Erstmaligkeit und um Einzigartigkeit bemüht. Die Sprache der Pubertät ist immer eine verzerrende und eskalierende, eine um Überbietung bemühte Sprache.
Wenn ich es richtig wahrnehme, so scheint die pubertäre Sprache gegenwärtig eine generationsübergreifende Ausbreitung, damit zugleich eine gewisse kulturelle Verfestigung zu erfahren. Selbst die Alten verfallen mittlerweile einer Art pubertärer kultureller Praxis. In einer sprachlich sich manifestierenden Illusion der Erstmaligkeit und Einzigartigkeit verlieren wir dabei vor allem dies: Relation, Differenzierung, Demut (siehe auch Nr. 371).
Freitag, 17. Juni 2022
845
Wenn man den Streit um deutsche Unterstützungsleistungen für die Ukraine aufmerksam beobachtet, dann wird darin noch einmal durchsichtig, dass Hitler in Deutschland nach wie vor mächtig ist. Deutsche Politik kann sich dem nationalsozialistischen Bann nach wie vor nicht entziehen – vor allem dann nicht, wenn sie diesem Bann von außen positiv oder negativ unterworfen wird.
So gesehen lässt sich die viel gerügte Zögerlichkeit des Kanzlers auch als stiller Versuch begreifen, sich in den so heiklen sicherheitspolitischen Entscheidungen dieser Tage gerade nicht mehr von Hitler durchs Dorf treiben zu lassen.
844
So etwas wie einen öffentlichen Diskurs gibt es nicht. Es gibt lediglich so etwas wie eine öffentliche Platzierung von Symbolen. Daher folgt das, was in dieser und durch diese Platzierung geschieht, auch nicht der möglichen Rationalität eines Diskurses.
843
Empirische Wissenschaft, als Natur- oder als Sozialwissenschaft, erweckt den Anschein, als könne sie uns raten. Deshalb schlägt sie uns so sehr in ihren Bann. Tatsächlich aber ist Empirie nicht mehr als Anschauung. Deshalb hinterlässt sie uns, um Rat gefragt, letztlich so ratlos.
842
Denkfabrik. Als ließe sich Denken produzieren. Denken und Produktion sind sich feind.
Sonntag, 5. Juni 2022
841
Mit zunehmendem Alter wird wichtiger, was uns zuträglich ist. Unwichtiger weil abträglich wird das, wonach uns der Sinn steht.
840
Manchmal muss man in das Falsche einwilligen, um das Notwendige zu ermöglichen.
Mittwoch, 1. Juni 2022
839
München – eine Stadt, die man eigentümlich distanziert annehmen kann. In ihr kann man sein, ohne von ihr zu sein.
Freitag, 20. Mai 2022
838
Die vergangenen Wochen waren weltpolitisch ereignisreich. Russlands Kriegsgeschrei, Russlands Krieg schlägt insbesondere die Staaten der Nordhalbkugel in seinen Bann.
837
Die Arbeit an 2 Thess 2 hat mich in meiner Interpretation noch einmal nachdrücklich geklärt und stabilisiert. Dabei eine Selbstbeobachtung: Je sicherer ich mir meines Denkens und dessen Praxis werde, desto schwächer wird mein Mitteilungs- und Überzeugungsbedürfnis. So etwas wie missionarischen Eifer nehme ich in mir gar nicht mehr wahr.
Ich vermute einen Zusammenhang. Eine Dimension dieses Zusammenhangs könnte sein: Je klarer mir die Struktur meines Denkens vor Augen steht, desto geringer will mir die Wahrscheinlichkeit erscheinen, dass andere je ähnlich denken könnten. Mein Denken ist schlechtweg existenzbedingt. Und so bleiben zuletzt allein Stille und stille Praxis.
Freitag, 13. Mai 2022
836
Mein Unbehagen in der Mikrokultur, in der ich mich lebensgeschichtlich gerade aufhalten muss: Ihre Eigentümlichkeit, ihr Wesensmerkmal ließe sich vielleicht als distanzlose Beziehungslosigkeit beschreiben. Damit fehlen dem menschlichen Miteinander hier gerade jene zwei Eigenschaften, die gegeben sein müssen, wenn so etwas wie soziales Wohlbefinden werden soll.
835
Bei Welzer einen schlichten aber folgenreichen Satz entdeckt, der wiedergibt, was ich an mir selbst beobachte: „Wissenschaft hat mich nur so lange interessiert, wie ich auf der Suche nach einer Antwort auf eine Frage war“. Wozu also noch Wissenschaft, wenn die Frage beantwortet ist? Wozu Wissenschaft, wenn sie für mich bloß noch blutleere Funktion sein kann?
Randbemerkung zu Welzers Versuch zu einer Kultur des Aufhörens: Es will mir so scheinen, als liege Welzers Interesse am Aufhören darin, dass er durch Aufhören Raum schaffen möchte für Neues, Anderes. Welzers Aufhören ist also nicht zweckfrei. Damit bleibt es letztlich im Schema der modernen Rastlosigkeit.
Samstag, 23. April 2022
834
Wie immer, so habe ich auch meinen Text zu 2 Thess 2 schon im Vorfeld der Publikation einigen Freundinnen und Freunden zugeschickt. Ihre Rückfragen und Anmerkungen, auch die dadurch angestoßenen Diskussionen helfen mir immer sehr. Vorhin habe ich die kritische und ermutigende E-Mail eines Freundes beantwortet. Was ich in meiner Reaktion formuliert habe, kann ich auszugsweise hier hinterlegen, weil sich darin – ohne, dass man Hintergründe und Details kennen müsste – einige wichtige Grundlinien meines Denkens zumindest andeuten.
Freitag, 15. April 2022
833
Karfreitag. Noch einmal drängt sich die mich unablässig begleitende Frage nach einem fragmentarischen Leben in den Vordergrund (siehe Nr. 746, 790, 811). Was fragmentarisches Leben nicht sein kann, nicht sein darf: der verzweifelte Versuch, ein Ganzes zusammenzustückeln, der defaitistische Rückzug in das Fragment einer asketischen Identität, der immer flüchtige Sprung zwischen den Fragmenten.
Fragmentarisch leben meint wohl vor allem: die Nicht-Ganzheit der Existenz praktisch anerkennen, der Nicht-Identität aller und aller einzelnen Existenzfragmente praktisch standhalten. Konkreter, positiver kann ich es noch nicht fassen.
Sonntag, 10. April 2022
832
Lese gerade den Selbstnachruf von Harald Welzer, Buchgeschenk eines lieben mitdenkenden Freundes. Darin, grob gesagt, der Versuch, eine Kultur des Aufhörens vom Tod, vom Nichts her zu begründen. Ich empfinde große Sympathie für diesen Ansatz, so, wie ich auch große Sympathie empfinde für Agambens eschatologisch begründete Politik der Stilllegung.
Und doch will mir der jeweils angebotene Grund für Aufhören oder Stilllegung nicht wirklich überzeugend, nicht wirklich schlagend erscheinen. Von einem wie auch immer begriffenen Ende her denkend eröffnen sich grundsätzlich zwei Wege: der Weg der Askese und der Weg des Exzesses. Aber weder der eine noch der andere Weg (oder eine wie auch immer geartete Mischform) scheint mir vom Ende her unbedingt geboten zu sein. Welchen Weg wir präferieren und beschreiten, hängt wohl nicht zuletzt an unserer intellektuellen und emotionalen Gestimmtheit. Und nebenbei bemerkt: Auch diejenigen, die vom Ende her gedacht aufzuhören oder stillzulegen versuchen, bleiben letztlich doch negativ abhängig von dem, wovon sie eigentlich frei werden wollen: von der Welt selbst.
Nach wie vor bleibe ich daher bei meiner Annahme, dass das Nichts nicht ausreicht, um uns aus unserer funktionalistischen Weltgebanntheit herauszulösen. Wir brauchen die Fiktion einer zweiten Wirklichkeit (die nicht die christliche sein darf), eine Fiktion, auf die Welzer (und natürlich auch Agamben) ausdrücklich verzichten.
831
Das Übel jener Zeit, die wir in der christlichen Dramaturgie als Endzeit begreifen, ist weniger der Krieg, ist weniger das Kriegsgeschrei. Kriege und Kriegsgeschrei hat es immer und überall gegeben. Das Übel dieser Zeit liegt vielmehr in einer totalen Weltgebanntheit der Massen – ein Übel, für das in der spezifischen okzidentalen Erscheinungsform vor allem auch das Christentum selbst verantwortlich ist.
Montag, 28. März 2022
830
Jede Gleich-Gültigkeit frisst früher oder später ihre Kinder.
In jedem Recht, Individuum zu sein, verbirgt sich die Pflicht, anders zu sein, als andere.
In jeder Pflicht, anders zu sein, als andere, verbirgt sich das Verbot, so zu sein, wie andere.
Noch verbietet uns unsere Gleich-Gültigkeit lediglich die kulturelle Aneignung. Doch das ist erst der Anfang. Früher oder später wird sie versuchen, uns die individuelle Aneignung zu verbieten.
Spätestens dann werden wir nicht mehr wissen, was wir noch dürfen.
Das Recht auf Individualität entpuppt sich als das, was es im Kern ist: Seinsverbot.
Donnerstag, 17. März 2022
829
Zum Wahlsieg Donald Trumps habe ich im November 2016 formuliert (Nr. 206): „In Deutschland sind die Reaktionen auf Trumps Wahlsieg noch weitgehend von der säkularen Rationalität der Moderne und der darin gegebenen Fortschrittsannahme bestimmt. ‚Wir dachten, dass wir so etwas schon längst überwunden hätten, dass so etwas nicht mehr möglich wäre.‘ Nun – der deutschen Politik muss man wohl sagen: Haltet euch fest, woran auch immer. Das ist erst der Anfang.“
Nicht wenige gingen damals davon aus, dass es schlimmer kaum kommen könne. Der 24. Februar 2022 hat uns eines Anderen belehrt.
828
Kürzlich eine Frau in Nischni Nowgorod: Unbewegt und still hält sie ein weißes unbeschriftetes Plakat in die Höhe. Ein Nichts, das unübersehbar und unmissverständlich sein Urteil spricht. Unüberbietbares messianisches Symbol. Selbstverständlich wird die Frau verhaftet und abgeführt.
827
Eine Erinnerung: Wir sind nicht die Guten. Wir sind die Erfolgreichen, und wir sind die Wohlständigen. Aber weder dieses noch jenes sagt etwas aus über unsere Güte. Im Gegenteil. Erfolg und Wohlstand haben wir teuer erkauft. Durch ein Höchstmaß an Weltgebanntheit, durch ein Höchstmaß an Bosheit im ontologischen Sinne. Und dabei kommt diese Bosheit höchst moralisch daher. Unser Höchstmaß an Moral rechtfertigt unser Höchstmaß an Bosheit.
Sonntag, 13. März 2022
826
Sofern man sich überhaupt auf so etwas wie Werte stützt, sofern man sich überhaupt an etwas weltwirklich Substanzielles bindet, dem man – aus welchen Gründen auch immer – absolute Gültigkeit beizumessen bereit ist, so tut man gut daran, diese Gültigkeit weder zu universalisieren noch sie zu globalisieren. Sonst wird man sich spätestens an irgendeinem scharfen politischen Ende dieser Gültigkeit vor die Frage gestellt sehen, welchen Preis man dafür zu zahlen bereit ist, dass man ihr treu bleibt. Und der Preis für jede absolut gesetzte Gültigkeit kann streng genommen immer nur dieser sein: alles. Vom scharfen Ende her angeschaut, wird der Wahnwitz jeder Absolutsetzung von Gültigkeiten überdeutlich sichtbar. Auch der Wahnwitz eines absolut gesetzten Menschenrechts im Sinne einer geopolitischen Agenda.
Freitag, 4. März 2022
825
Es ist wieder Krieg in Europa. Was in dieser Lage auch gesagt werden muss, was derzeit leider nur von jenen gesagt wird, mit denen ich interpretatorisch und politisch nichts gemein habe: Die Politik des Westens ist wesentlich mitverantwortlich für die Bedingungen, unter denen sich dieser Krieg anbahnen konnte. Ursachen haben Wirkungen, und Wirkungen sind Ursachen für weitere Wirkungen. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch eine Wirkung der moralgesättigten Expansionspolitik des Westens in den vergangenen 30 Jahren, einer globalen Genesungspolitik, die den Westen immer wieder in die selbst gestellte normative Falle hat tappen lassen, die zugleich aber in ihrer Selektivität immer auch merkwürdig und unübersehbar verwoben war mit handfesten Absichten nicht-normativer Art.
Wenn sich nun, angesichts des Krieges in Europa, tatsächlich an unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik etwas ändern soll, dann scheint es mir geboten, nicht zuletzt von dieser Weltgenesungspolitik Abstand zu nehmen. Es wäre zuträglich, den interpretatorischen Zugang zu einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu suchen, die sich deutlich zurückzunehmen verstünde, die sich allein noch den Zweck setzen würde, die Existenz derjenigen defensiv zu sichern, für deren Existenzsicherung ihr unmittelbar Verantwortung übertragen wurde. Existenzsicherung müssten diese Politik und die dafür aufgestellten Streitkräfte dann aber auch robust und professionell gewährleisten können.
Eine Politik der defensiven Existenzsicherung hätte erhebliche Konsequenzen bis hinein in die Strukturen, nicht zuletzt auch bis hinein in das Selbstverständnis der Streitkräfte. Letztlich, darauf weise ich seit Jahren hin, wäre der Abschied von Bürgerarmee und Bürgersoldat unvermeidlich. Dieser Weg scheint mir derzeit jedoch noch versperrt zu sein. Gerade auch in der Führung der deutschen Streitkräfte finden sich noch allzu viele Köpfe, die die politische Welt durch eine im Kalten Krieg vorgezeichnete bürgerliche Schwarz-Weiß-Folie anschauen.
Ergänzender Hinweis: Es gibt Leid in dieser Welt, für das wir (militärisch) nicht zuständig sind, für das wir (militärisch) nicht allein deshalb verantwortlich sind, weil wir davon wissen und weil wir über die Mittel verfügen, es zu lindern.
Montag, 28. Februar 2022
824
Seit einigen Tage ist wieder Krieg in Europa. Russische Truppen haben die Ukraine auf breiter Front angegriffen und dringen tief in ukrainisches Staatsgebiet ein. Zu dem politischen Schauspiel, dem wir vor dem Hintergrund dieses Krieges beiwohnen dürfen, ließe sich manches sagen. Zum deutschen Schauspiel nur so viel: Nein, wir erleben gerade keine Zeitenwende. Und die Welt wird künftig keine andere sein, als sie es immer schon war. Es ist nur so, dass bei allzu vielen politischen Spielfiguren, gerade auch in Deutschland, die Entzauberung der Welt erst spät einsetzt, dies dann aber naturgemäß nur oberflächlich und flüchtig.
Zur vermeintlichen Kehrtwende der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Erneut ist die deutsche Politik darum bemüht, dem langsamen Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß (Max Weber) durch die Aufstockung von Etats auszuweichen. Was vor Jahren schon notwendig war, ist ein Neuansatz, der diesen Namen verdient. 2014 habe ich im Blick auf die Bundeswehr dazu einige Vorschläge formuliert (wiederholt und zusammengefasst in Nr. 285). Wir haben wichtige Jahre verloren.
Freitag, 18. Februar 2022
823
Nach wie vor arbeite ich an der paulinischen Konstellation von Katechon, Anomos und Messias in 2 Thess 2. Darauf verwende ich derzeit jede freie Minute – und davon gibt es leider nicht allzu viele. Der Text, den ich hier zusammenzufügen versuche, wird zunehmend das, was ich von ihm erwartet habe: eine weitere wichtige Aufklärung meiner Sache. Nicht zuletzt verschaffe ich mir neue Begriffe, die noch treffender bezeichnen, was ich anzeigen will. So kann ich nun endlich meine Christentumskritik auf einen einzigen Begriff bringen: Vergegenwärtigungsneigung. Das Wesen, zugleich das Verhängnis des Christentums ist seine Vergegenwärtigungsgeneigtheit. Was damit gemeint ist – dazu hier und an anderer Stelle später mehr.
Samstag, 29. Januar 2022
822
Je mehr wir uns auf Sozialität, auf den Apparat menschlicher Gemeinschaft einlassen, desto stärker sind wir von ihren Mechanismen ergriffen, mitgerissen. Man könnte auch sagen: desto unvermeidlicher müssen wir uns der umfassenden Bosheit ihrer Funktionalität stellen. Nicht zuletzt auch der Bosheit ihrer Moralität. Aber nur so ist es uns möglich, dem Rad hier und da in die Speichen zu fallen, der zuletzt tödlichen Unvermeidlichkeit sozialer Kausalität eine Richtung zu geben, die deren peinigende Wirkungen zumindest übergangsweise abfedert, dämpft.
821
Nach der kopernikanischen Wende im Denken: Wir haben, auf dem Wege der intellektuellen Redlichkeit, keine andere Wahl mehr, als uns der in eigener Interpretation entworfenen Fiktion als Sache unbedingt zu unterwerfen.
Im Unterschied zur kantischen Gültigkeitsfiktion fordert die reservative Ungültigkeitsfiktion allerdings nicht von allen das Gleiche, sondern von jedem Einzelnen in seiner jeweiligen Situation ein Anderes. Das reservative Subjekt, das reservative Unterworfene ist ein anderes als das kantische.
Sonntag, 23. Januar 2022
820
Noch einmal eine kurze tagespolitische Einlassung. Der Inspekteur der deutschen Marine, Kay-Achim Schönbach, wird dazu genötigt, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Wegen seiner halböffentlichen, im Netz verbreiteten Kommentierung des Ukraine-Konfliktes.
Freitag, 14. Januar 2022
819
Es ist so naheliegend: Nicht im Beruf, nicht im Zustand, nicht im Ereignis ereilt uns der Ruf, finden wir unseren Ruf. Hier ereilt uns, hier finden wir immer allein unseren Dämon.
Im als ob nicht, in das also ob nicht hinein sind wir immer schon gerufen. Gerufen durch die Sache selbst. Diesem Ruf gilt es zu folgen, dieses Rufes gilt es sich unablässig zu erinnern, zu vergewissern. In jedem beliebigen Beruf, in jedem beliebigen Zustand, in jedem beliebigen Ereignis (noch einmal zu Nr. 270, 308, 538, 708).
Freitag, 7. Januar 2022
818
Denkend schreiben, schreibend denken ist der Versuch, ein Puzzle zusammenzufügen, dessen Teile noch nicht einmal gestanzt sind.
817
als ob nicht:
in jedem Augenblick
das Wirkliche
still
sein
lassen
816
Sein Selbst findet, wer sich seines Selbst entäußert.
Sonntag, 2. Januar 2022
815
Die Sache des als ob nicht, die Sache der Ungültigkeit eröffnet und sichert uns Freiheit. Alles ist erlaubt. Erlaubt ist auch – das Unterlassen. Ganz im Sinne der Sache. Auch wegen der Verwechslungsgefahr.
Bisweilen handeln wir aus Freiheit nicht bloß deshalb nicht, weil es pragmatisch schlechtweg sinnvoll erscheint oder weil wir den weniger Freien nicht Stein des Anstoßes sein wollen. Sondern auch deshalb, weil sich die tatsächliche Freiheit aus Ungültigkeit und die vermeintliche Freiheit aus Gleich-Gültigkeit praktisch zum Verwechseln ähnlich sind (siehe Nr. 107). Es kann durchaus erforderlich sein, den Unterschied durch Unterlassen zu wahren und zu demonstrieren.