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Montag, 31. Oktober 2022

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Der Mensch ist ein symbolbildendes, ein symbolisierendes Wesen (Ernst Cassirer).

In seinen verschiedenen Symbolisierungen, vor allem in seinen verschiedenen Symbolisierungssystemen wie etwa der Sprache, ist der Mensch darum bemüht, Wirklichkeit zur Darstellung zu bringen. Wirklichkeitsdarstellung meint zweierlei: Wirklichkeit wird in Symbolen abgebildet, rekonstruiert, repräsentiert, Wirklichkeit wird aber in Symbolen auch gebildet, konstruiert, präsentiert. Sowohl die Versuche, Wirklichkeit symbolisch zu repräsentieren, als auch die Versuche, Wirklichkeit symbolisch zu präsentieren, sind gewagt und heikel. Ein wesentlicher Grund: Es gibt immer Repräsentations- und Präsentationslücken. Wirklichkeitsbildnis und Wirklichkeit selbst sind nie deckungsgleich. Darüber, was wirklich ist oder was wirklich (möglich) sein soll, kann also letztlich weder ein rekonstruktiv-repräsentatives noch ein konstruktiv-präsentatives Symbol Auskunft geben.

Im alltäglichen Gebrauch von Symbolisierungen und Symbolisierungssystemen sind zumindest Repräsentationslücken weitgehend unproblematisch. Hier können sich Menschen, eine gewisse Interpretationsgroßzügigkeit vorausgesetzt, über das, was wirklich ist, über das symbolisierte Wirkliche pragmatisch austauschen und verständigen – wobei gegeben sein muss, dass das symbolisierte Wirkliche über die bekannten Kanäle der Wahrnehmung teilbar zugänglich ist. Deutlich problematischer dagegen sind Präsentationslücken. Beim Gebrauch präsentativer Symbole ist nicht oder noch nicht allgemein und halbwegs sicher zugänglich oder teilbar, was wirklich sein soll. Präsentative Symbole sind damit immer unendlich interpretationsoffen und unendlich interpretationsunsicher. Nicht nur problematisch, sondern gefährlich wird der Gebrauch präsentativer Symbole dann, wenn er normativ aufgeladen und machtbewährt wird. Dann kippt dieser Gebrauch unmittelbar ins Totalitäre.

Den zunehmend totalitären Gebrauch präsentativer Symbole erleben wir derzeit nicht zuletzt in den Geschlechter- und Identitätsdebatten. Hier werden sprachliche Symbolisierungen eingeführt, die ähnlich interpretationsoffen und interpretationsunsicher sind wie religiöse Symbolisierungen. Nicht ohne Grund tragen die Geschlechter- und Identitätsdebatten daher hier und da geradezu religiöse Züge. Und die entsprechende Geschlechter- und Identitätspolitik ist ähnlich fragwürdig und besorgniserregend wie jede religiöse Politik.


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