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Samstag, 29. Oktober 2016

203

Reservative Interpretation ist wie der Schutzschild des Raumschiffs Enterprise. Jeder auch bloß partielle Versuch, sich noch einmal auf die Weltwirklichkeit einzulassen, ihr noch einmal Vertrauen zu schenken, deaktiviert den Schild. Mit gutem Grund ist Paulus in seiner Forderung so radikal - möglichst keine Bindung eingehen, die zu einer Deaktivierung des Schilds zwingt: "Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid" (1 Kor 7,32).

Freitag, 28. Oktober 2016

202

Gerade auch in der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Existenz erscheint mir immer wieder fraglich, ob reservative Interpretation, ob reservativer Glaube langfristig auch die tieferen Schichten unseres Bewusstseins zu erreichen vermag, ob auch die im Unbewussten brodelnden und bisweilen geradezu physisch hochkochenden Ängste, die uns zu dominieren versuchen, reservativ erreicht und zur Ruhe gebracht werden können.

201

Carolin Emcke, die aktuelle Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass repräsentatives Denken immer sehr viel zu tun hat mit (natürlicher) Disposition und Konstitution des Denkenden im Verhältnis zum jeweiligen Kontext. Also: Jeder entwickelt sich, denkend aber unbewusst, in jene theoretische Position hinein, die ihm gemäß ist und von der er sich in seinem Kontext die meisten Vorteile verspricht. Repräsentatives Denken geht sich immer nur selbst in die Falle.

Mittwoch, 26. Oktober 2016

200

Bonhoeffers Versuch, ein religionsloses Christentum zu entwerfen, setzt ein mit einem zögerlichen Akt der Uminterpretation: „Ich arbeite mich erst allmählich an die nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe heran. Ich sehe mehr die Aufgabe, als daß ich sie schon zu lösen vermöchte.“

Dienstag, 25. Oktober 2016

199

Momentan schleiche ich hier im Blog, ratlos und furchtsam zugleich, um die erschütternde paulinische Frage herum: um die Frage der Sagbarkeit des Unsagbaren, der Verbegrifflichung dessen, was jeden Begriff verungültigt. Wie reservativ interpretieren mit dem Instrumentarium der Repräsentation (ein anderes steht nicht oder noch nicht zur Verfügung)? Paulus ist das Wagnis der Reservation mit repräsentativen Mitteln eingegangen. Aber dieses Wagnis ist bloß ein Stammeln, ein Stottern in zahllosen Anläufen, das in jüngster Zeit noch einmal eindrücklich wahrnehmbar gemacht worden ist durch Christian Lehnerts Korinthische Brocken. Und das paulinische Wagnis ist gescheitert. Sein Scheitern nennen wir Christentum. Das bereitet mir Sorge.

198

Kaum etwas ist so schmerzhaft, wie die denkende Auseinandersetzung mit der Existenz, wie existenzielles Denken. Weil sie diesem Schmerz aus dem Weg gehen, kommen repräsentative Interpretationen und Systementwürfe immer so leichtfüßig und beeindruckend daher.

197

Wir können nur in einer Wirklichkeit präsent sein. Jede Repräsentation verhindert die Präsenz. Das ist es, was an Jesus fasziniert: Er ist nicht Repräsentant, er repräsentiert nichts. Er ist präsent.

196

Reservative Interpretation ist auch Antwort auf die quantenphysikalische Weltanschauung, die uns im vergangenen Jahrhundert den vermeintlich so sicheren Boden der Wirklichkeitsgesetze, der Illusion möglicher Herrschaft über Wirklichkeit durch Gesetz entzogen hat.

Montag, 24. Oktober 2016

195

Beschäftige mich nebenbei, aus schulischen Gründen, noch einmal ein wenig mit Platon. Es darf nicht vergessen werden, dass das frühe Großchristentum auch und gerade in der Auseinandersetzung mit neu-platonischen Strömungen entstanden ist. Viele Symbole des Christentums sind platonisch-repräsentativer Herkunft.
Gestern habe ich einer unbewusst platonisierenden Predigt über einen Paulus-Text lauschen müssen. Derartige Verkehrungen der paulinischen Intention sind für mich immer besonders herausfordernd, aber sie sind durchaus möglich. Allerdings kommt man eigentlich in jedem paulinischen Text an einen Punkt, an dem die repräsentative Interpretation abbrechen muss. Doch anstatt sich dieser Irritation ernsthaft auszusetzen, fliehen die Interpreten zumeist in irgendeine repräsentative Zirkularität.

Sonntag, 23. Oktober 2016

194

Das Christentum ist nichts anderes als der höchst erfolgreiche Versuch, die messianische Ungültigkeitsinterpretation zu popularisieren.

Samstag, 22. Oktober 2016

193

Habe heute an der Regionalchorprobe zur Vorbereitung der Aufführung des Luther-Oratoriums in der Münchener Olympia-Halle im März 2017 teilgenommen. In der Probenpause habe ich einen echten Verkaufsschlager erstanden – die Luther-Figur von Playmobil. Das kleine schwarze Männlein wird künftig meinen Schreibtisch zieren.
Die Teilnahme an dem Chorprojekt und der Spielzeug-Luther sind für mich noch einmal Erinnerung und Mahnung: Jede Popularisierung einer (repräsentativen) Interpretation bedeutet deren unkontrollierbare Verzerrung bis hin zur Unkenntlichkeit. Massen lassen sich zweifellos manipulieren und lenken, aber der Gang, den (repräsentative) Interpretationen nehmen, ist letztlich jedem steuernden Zugriff entzogen.

Freitag, 21. Oktober 2016

192

Je näher man hinschaut, desto deutlicher erweist sich die Verheißung des liberalen Marktes als Täuschung – dargestellt am Beispiel meiner Suche nach einem Herren-Deodorant.

191

„Sein Bedürfniß war die Macht; mit Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht, – er konnte nur Begriffe, Lehren, Symbole brauchen, mit denen man Massen tyrannisirt, Heerden bildet“ (Nietzsche). Nietzsches Hass auf Paulus hat seine Ursache darin, dass er ihn noch ganz christlich und damit repräsentativ interpretiert. Hätte er ihn mit den Augen der Ungültigkeitsinterpretation anschauen können, so wäre ihm sicher aufgefallen, wie nahe sie sich eigentlich stehen. Auf die Nähe zwischen Nietzsche und Paulus macht Bonhoeffer in einem seiner Barcelona-Vorträge (1928) aufmerksam, indem er strukturelle Ähnlichkeiten entdeckt zwischen Nietzsches Übermenschen und dem freien Christenmenschen Luthers.

Donnerstag, 20. Oktober 2016

190

„Wer einmal die Kritik gekostet hat“, so Kant in seinen Prolegomena, „den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Not vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte, und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte.“

189

Bonhoeffers Ahnung einer kommenden religionslosen Zeit ist im Kern die Ahnung einer repräsentationslosen Zeit, einer Zeit, in der Repräsentationen nichts mehr repräsentieren. Seine Suche nach einem religionslosen Christentum ist im Kern die Suche nach einem repräsentationslosen Glauben, nach einer nach-repräsentativen Interpretation und Praxis.

188

In der Wüste des Realen locken unausgesetzt die ägyptischen Fleischtöpfe der Repräsentationen.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

187

Ethik und Recht dienen nicht allein der Kontigenzbewältigung. Sie sind auch und möglicherweise vor allem Instrumente der Arterhaltung. Mit Hilfe der Ethik und des Rechts versucht der Mensch, sich in der Konfrontation mit den Bedrohungen weltwirklicher Gültigkeiten kollektiv zu behaupten. Ethik und Recht sind so gesehen, wenngleich eher mittelbar, Repräsentationen des menschlichen Anspruchs auf Überlegenheit und Hegemonie.

Anmerkung: Gegen Ethik und Recht als Erscheinungsformen menschlichen Hochmuts hilft nicht etwa die Konzeption einer „Tierethik“ oder eines „Rechts der Umwelt“. Diese Konzeptionen verbleiben sämtlich im repräsentativen und hochmütigen Schema dessen, was sie zu begrenzen versuchen.

186

Paulus bezeichnet jene als schwach im Glauben, die noch in repräsentativen (religiösen) Interpretationen und in einer repräsentativen (religiösen) Praxis gefangen sind. Schwach im Glauben ist, wer irgendetwas Weltwirkliches (z. B. bestimmte Speisen oder Getränke) für repräsentativ hält – und zwar so, dass die jeweilige Repräsentation ihn vom Gebrauch des jeweiligen Weltwirklichen abhält (Röm 14; 1 Kor 8).

185

Vorbilder sind Repräsentanten. Reservatives Leben kennt keine Vorbilder, auch keine Helden und erst recht keine Heiligen.

Dienstag, 18. Oktober 2016

184

Gestern Abend im Fernsehen: „Terror“, die verfilmte Fassung des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach. Ein Luftwaffenpilot schießt eine mit 164 Menschen besetzte Passagiermaschine ab, um 70.000 Menschen in einem ausverkauften Fußballstadion das Leben zu retten. Nach einer inszenierten Gerichtsverhandlung soll das Fernsehpublikum über Schuld und Unschuld entscheiden. Knapp 87 % der Deutschen plädieren für Freispruch, in Österreich und der Schweiz fällt das Ergebnis ähnlich deutlich aus.

Montag, 17. Oktober 2016

183

Reservative Interpretation legt eine dünne und verletzliche Schutzschicht zwischen das schwache und angefochtene als ob nicht Ich des Ungültigkeitsglaubens und das dominante repräsentative Ich natürlich oder ideologisch induzierter Selbstvergültigung. Der Rest ist Kampf.

182

In seiner Theologischen Ethik wirft Helmut Thielicke die Frage auf, ob man andere Menschen gewissermaßen beim Schopfe ihrer je eigenen Gültigkeiten packen könne, auch wenn man selbst diese Gültigkeiten nicht anerkenne.

Freitag, 14. Oktober 2016

181

Mich bedrückt, dass sich in den Jahren nach der Aufklärung, die ich zwischen 2005 und 2007 durch Bonhoeffer erfahren habe, in meinen wissenschaftlichen Texten nach wie vor repräsentative Begriffe und repräsentative Interpretationen finden lassen (etwa rund um den Begriff des Aufhalters, den ich gegen Carl Schmitt und mit Bonhoeffer neu fruchtbar zu machen versucht habe). Das Problem der Religion und der Metaphysik war mir bereits bewusst, das deutlich tiefer reichende Problem der Repräsentation dagegen noch nicht.

180

Buddhistische Interpretation der Weltwirklichkeit, die Anschauung der tragischen Verschlungenheit von Ursache und Wirkung, hat in diagnostischer Hinsicht viel Aufschlussreiches zu bieten. Dann aber schlägt sie um in eine Erscheinungsform negativer Repräsentation, in den Versuch, durch spezifische Disziplinierungstechniken eine Idee von wirklichkeitsnegierender Anders-Wirklichkeit im Weltwirklichen zu repräsentieren und dabei der negativen Identität so nahe wie möglich zu kommen.

Donnerstag, 13. Oktober 2016

179

Messianisches Leiden bereitet nicht vor auf den Trost durch Repräsentationen. Es bereitet vor auf den Trost durch die Unabhängigkeit von Repräsentationen (2 Kor 1,5).

178

Was man gedacht hat, eben das denkt man hernach wieder, und es wird nichts Neues gedacht unter der Sonne (Koh 1,9). Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb: Denken ist Gebrauch, nicht Gehorsam.

177

Physische und psychische Disposition, kulturelle und soziale Herkunft, familialer Kontext und Widerfahrnisse im weitesten Sinne – das sind, grob gefasst, die Zutaten des Gebräus unserer Existenz. Der merkwürdige Überschuss dieser Existenz, den wir Bewusstsein oder auch Vernunft nennen, muss dieses Gebräu irgendwie zu handhaben versuchen, ist jedoch zugleich wesentlich mit diesem verbunden, ist gewissermaßen dessen repräsentativer Ausfluss. Jeder Versuch der vernünftigen Selbsthandhabung ist so gesehen nicht Selbstbestimmung, sondern bloß ein Rühren im Gebräu. Repräsentation leistet nicht das, was Freiheit genannt werden kann.

176

Wer prägen will, muss beharrlich und kräftig belasten. Wer nachgiebig oder schwach wird, wer ungeduldig oder neugierig das Ergebnis vorzeitig anschauen will, der verwischt oder zerstört den Abdruck.
Reservative (Um-) Prägung beginnt mit Entzauberung. Die Wahrheit, die anzuerkennen wir heute genötigt sind, ist diese: Alle Repräsentationen sind entzaubert (nichts anderes meint Nihilismus). Und doch gelingt es uns nach wie vor, dieser Wahrheit auszuweichen, sie ideologisch oder wohlständig zu verschleiern. Aufgegeben ist also nach wie vor Entzauberung. Beharrlich und kräftig.

Mittwoch, 12. Oktober 2016

175

Das biblische Urbild repräsentativer Existenz ist Kain. Er tötet seinen Bruder Abel (Gen 4,8): ein Symbol der Selbstrepräsentation. Er gründet eine Stadt (Gen 4,17): ein Symbol kollektiver Repräsentation. Er wird verflucht (Gen 4,11): ein Symbol der Rastlosigkeit und Fruchtlosigkeit repräsentativer Existenz. Und er wird gekennzeichnet (Gen 4,15): ein Symbol der befristeten Duldung repräsentativen Interpretierens und Lebens – nicht, damit die Welt durch Repräsentation geheilt, sondern „damit die Sünde umso mächtiger würde“ (Röm 5,20).

Dienstag, 11. Oktober 2016

174

Kürzlich hat eine Dame, deren Bilder eines bestimmten Ereignisses ich kritisch zurückgewiesen hatte, gegenüber Dritten behauptet, sie habe mich daraufhin bewusst beleidigt.

Montag, 10. Oktober 2016

173

Repräsentation ist Sünde. Sünde ist Repräsentation. Das ist die Summe. Repräsentation ist nicht Freiheit und Macht, sondern Knechtschaft und Funktion. Das paulinische "stellet euch nicht dieser Welt gleich" (Röm 12,2) als Ruf heraus aus der Sünde ist letztlich ein Ruf heraus aus den Repräsentationen - hinein in einer radikale "Erneuerung eures Sinnes", in eine reservative Uminterpretation der Wirklichkeit in praktischer Absicht.

172

Ein weiterer Bestimmungsversuch: Repräsentativ nenne ich eine Interpretation der Wirklichkeit, die von der Gültigkeit dessen ausgeht, was ihre Begriffe, Gleichnisse, Bilder oder Symbole wiedergeben oder ergreifen wollen. Praxis dieser Interpretation meint den Versuch der Repräsentation im Sinne einer praktischen Vergültigung des als gültig angenommen. Repräsentative Praxis zielt auf Herstellung von Identität zwischen Gültigkeitsannahme und Wirklichkeit.

Freitag, 7. Oktober 2016

171

Reservation ändert nichts an der Wirklichkeit. Sie lässt lediglich die Luft aus dem übermächtigen Popanz Welt, den unser repräsentativer Zugang zur Wirklichkeit erschaffen hat. Was sich dadurch ändert, ist unsere Existenzweise in der Welt.

Donnerstag, 6. Oktober 2016

170

Karl Barth, der sich durchaus als Vollender der Reformation versteht, verbleibt mit seiner Theologie noch ganz im repräsentativen Schema – obwohl ihm der „unendliche qualitative Unterschied“ zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit, den er bei Kierkegaard vorformuliert findet, durchaus andere Perspektiven hätte eröffnen können.

169

Fehler der Paulus-Interpretation Alain Badious: Badiou universalisiert eine (letztlich beliebige) singuläre Ereigniswahrheit als Gültigkeit. Paulus dagegen universalisiert eine ganz spezifische, messianische Ereigniswahrheit als Ungültigkeit.

168

Aus dem heutigen Lehrtext der Herrnhuter Losungen: „Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen“ (1 Kor 6,12). Das ist komprimiertes paulinisches Evangelium, Kurzfassung, geradezu Kurzformel reservativen Lebens: universale Dispensation vom Gesetz der Weltwirklichkeit.

167

Der (kirchliche) Pazifismus hält neben seiner Forderung nach Gewaltfreiheit zugleich an der Forderung nach Recht und Gerechtigkeit fest - und dies im repräsentativen Sinne. Darin liegt sein unauflöslicher Selbstwiderspruch. Repräsentativer Pazifismus ist verewigte Gewaltsamkeit.

Mittwoch, 5. Oktober 2016

166

Mein wachsendes Unbehagen am Sprechen und Schreiben rührt daher, dass ich zunehmend reservativ begriffen werden will, tatsächlich aber repräsentativ begriffen werde. Unter repräsentativen Bedingungen scheine ich mich also an Diskursen zu beteiligen, die nicht meine sind. Besonders unangenehm ist es, wenn man mich dabei – was gerade in bestimmten religiösen Kontexten leicht möglich ist – für einen Gesinnungsgenossen hält.

Dienstag, 4. Oktober 2016

165

Das mosaische Bilderverbot (Ex 20, 3–5) untersagt alle Götter neben Gott. „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht“.

Montag, 3. Oktober 2016

164

Dekonstruktion ist der letzte Zugang zur Weltwirklichkeit, der noch – zu Demonstrationszwecken – viele Worte machen und ein wenig poltern kann. Danach müssen auch sprachlich Zurückhaltung und Stille einkehren. Es irritiert mich immer wieder, dass jenseits der Dekonstruktion noch (oder wieder) große und bedeutungsschwere Systementwürfe möglich sein sollen.