Donnerstag, 30. Juni 2016
121
Grundsätzlich hält das deutsche politische Denken die säkulare Konstruktion des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates für ausreichend stabil, auch wenn durchaus ein Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass sich ein universal gültiger und tragfähiger Halt für diesen Staat und seine Politik heute kaum noch verfügbar machen lässt.
Mittwoch, 29. Juni 2016
120
In der säkularen Moderne tendieren Staat und Politik dazu, sich von Kirche und Religion zu lösen: Sie werden nicht mehr religiös begründet, nicht mehr religiös legitimiert. Der Staat ist nicht mehr Repräsentant Gottes, Politik ist nicht mehr Exekution göttlichen Willens. Gott und das Göttliche sind als quasi-sichtbare, transzendent-religiöse Gültigkeiten unwiederbringlich verloren. An ihre Stelle treten als neue sichtbare, immanent-religiöse Gültigkeiten der Mensch und das Menschliche. Mensch und Menschliches gilt es nun politisch zu repräsentieren.
Dienstag, 28. Juni 2016
119
Die christliche Religion ist als Großerzählung einer möglichen Repräsentation des Göttlichen im Weltwirklichen so verfasst, dass sie die Einheit im Sinne eines wechselseitigen Gebrauchs und einer wechselseitigen Förderung von Religion und Politik sicherstellt. Durch die analoge und parallele Konstruktion von religiösem und politischem Gültigkeitssystem ist allerdings dauerhaft strittig, wie die Zuordnung der beiden Systeme zu begreifen ist und welches System über welche Herrschaftsmittel verfügen darf.
Montag, 27. Juni 2016
118
Noch eine alte Einsicht: Interesse und Begabung fallen nicht immer zusammen, und ausgeprägtes Interesse bei gleichzeitig ausgeprägter Begabung ist ein seltenes Phänomen. Das muss den potenziellen Superstars, die unsere Schulen verlassen und unsere Hochschulen bevölkern, vielleicht noch einmal gesagt werden. Es ist ein mühevoller und zumeist demütigender Prozess, die eigenen Interessen und Begabungen nüchtern anschauen zu lernen, über ihnen Ruhe zu finden - und dann das und allein das zu tun, was möglich und vor allem notwendig ist.
117
Verbiete einer Menge von Menschen im allgemeinen Interesse etwas Reizvolles. Einer in der Menge wird sich finden, der es dennoch tut. Und sobald er es tut und die Menge ihn dabei beobachtet, kann man sicher sein, dass nicht wenige es ihm gleichtun.
Menschen kann man vielleicht mit guten Gründen überzeugen und binden. Massen dagegen nicht. Massen sind einerseits unberechenbar, andererseits leicht manipulierbar. Alte Einsichten, an denen keine Aufklärung je etwas ändern wird.
Samstag, 25. Juni 2016
116
Nachtrag zur gestrigen Abiturfeier: Wenn Theologen zur Gegenwart nichts anderes mehr beitragen können, als Regenbögen an den Himmel zu zeichnen, wenn sie nur von Welten und Menschen reden können, die es nicht gibt, wenn sie nur Welten und Menschen fordern können, die es nie geben wird, dann brauchen wir sie nicht.
Was wir brauchen, sind Theologen, die – wie Luther sagen würde – zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden gelernt haben. Allerdings nach-religiös und nach-metaphysisch. Wir brauchen Theologen, die eine ganz gegenwärtige und ganz gegenwärtig befreiende Interpretation des Verhältnisses von Weltwirklichkeit und Gotteswirklichkeit anbieten. Eine Interpretation, die keine Bilder mehr braucht, die kein religiöses und auch kein metaphysisches Apriori mehr voraussetzt.
Freitag, 24. Juni 2016
115
Wir können nichts daran ändern, dass die Kinder, die uns anvertraut sind, als Wirklichkeitsdiener geboren sind. Dieser Zustand lässt sich nicht durch Erziehung oder gar Disziplinierung überwinden. Auch lässt sich nicht verhindern, dass unsere Kinder den Geltungsansprüchen von Sein und Existenz unablässig ausgeliefert sind und dass sie ihnen unablässig erliegen. Was wir tun können ist dies: sie unablässig auf Brüche und Fehler im System hinweisen, sie unablässig darauf aufmerksam machen, dass die Wirklichkeit nicht hält, was sie verspricht (usus elenchticus realitatis). Und selbstverständlich für sie da sein, wenn sie sich selbst und der Wirklichkeit auf den Leim gehen.
Ob unsere unruhigen Kinder eines Tages Ruhe finden dürfen in aller Rationalität, in aller Sinnlichkeit und in aller Leiblichkeit – das liegt nicht in unserer Macht.
114
Abiturfeier. Virtuell das Ereignis, von Maskierten umgeben. Kaum ein Kind, das hier sein „Reifezeugnis“ in Empfang nimmt und zuvor gelernt hat, sich von sich selbst, von seiner Existenz und vom Sein überhaupt zu distanzieren.
113
Brexit. Wo auch immer uns das hinführen wird. Jedenfalls sind die zahlreichen, der Globalisierung gegenläufigen Tendenzen zur national, ethnisch, religiös oder anders motivierten, immer aber irgendwie regional orientierten Separation auch ein Symptom dafür, dass sich politische Gemeinschaften nicht ohne Weiteres durch die großen Erzählungen von Menschenwürde und Menschenrecht unter einem einzigen großen Dach zusammenführen lassen.
Donnerstag, 23. Juni 2016
112
Keine Interpretation bringt uns der Wirklichkeit so nahe, wie die Interpretation als ob nicht - weil sie uns alle Bilder von Wirklichkeit nimmt. Keine Interpretation bringt uns so deutlich auf Distanz zur Wirklichkeit, wie die Interpretation als ob nicht - weil sie die Eigenmacht der Wirklichkeit durchbricht.
Mittwoch, 22. Juni 2016
111
Mit seiner Unterscheidung zwischen Vorletztem und Letztem öffnet Bonhoeffer einerseits einen theologischen Zugang zur Diesseitigkeit des Glaubens, andererseits ist dadurch, dass er das Vorletzte im Letzten „gänzlich aufgehoben und außer Kraft gesetzt“ (Ethik) sieht, die Weltwirklichkeit radikal relativiert.
Dienstag, 21. Juni 2016
110
Ein Sitzungstag im evangelisch-religiösen Gültigkeitsmilieu. Immer wieder irritierend, wie modern hier noch geglaubt und gedacht wird. Da fühle ich mich immer ein bisschen wie Jerry, die Maus: An einem Felsvorsprung stehend schaut Jerry der Katze Tom hinterher. Auf der Flucht ist Tom einfach über den Rand des Felsens hinausgelaufen. Jetzt wedeln seine Beine in der Luft, er winkt noch nichtsahnend und vergnügt zurück - dann der Absturz. Mit diesem Bild vor Augen fällt es mir tatsächlich über die Jahre immer schwerer, mich in Gültigkeitsdiskurse hineinzubegeben und an ihnen teilzunehmen. Ein bisweilen nur schwer noch lebbares als ob.
Montag, 20. Juni 2016
109
Kürzlich habe ich ein mögliches Bekenntnis reservativen Glaubens formuliert (Nr. 95). Darin nenne ich Gott auch Geist. „Ich glaube Gott, den Einen, als Geist. Er ist anders. Er ist verborgen. Ich vernehme Ihn nicht. Mein Verstehen bindet Ihn nicht. Von allem, was ist, darf ich frei sein. Für das, was ist, will ich da sein.“
Sonntag, 19. Juni 2016
108
Reservativer Gottesdienst ist wirklichkeitsfreier Wirklichkeitsdienst. Dieser Dienst lässt sich zunächst denken als Gottesdienst des Einzelnen an sich selbst. Vorzustellen ist dabei das reservative Subjekt, dass sich selbst einer reservativen Selbstinterpretation, einer reservativen Selbsthaltung und einer reservativen Selbstpraxis unterwirft. Hier nimmt alles seinen Anfang. Vom reservativen Subjekt, dass sich selbst so begreift und sich selbst so gebraucht, als wäre es der Sünde gestorben (Röm 6,11), geht alles Weitere aus, hängt alles Weitere ab.
Freitag, 17. Juni 2016
107
Es ist oft nur eine „haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet“ (Max Weber). Nur haarfein ist oft auch die Linie, die Gleich-Gültigkeit und Gleich-Ungültigkeit scheidet. Diesseits wie jenseits dieser Linie radikale Diesseitigkeit. Diesseits Sklaverei, jenseits dagegen Freiheit.
Donnerstag, 16. Juni 2016
106
Intuitiv können Ungültigkeitsglaube und das darin gewagte als ob nicht dazu verleiten, die Weltwirklichkeit für belanglos zu halten. Diese Annahme kann sich unterschiedlich Ausdruck verschaffen: hedonistisch, fatalistisch, lethargisch, apathisch, phlegmatisch, quietistisch, mystisch, monastisch, asketisch. Der so oder so vollzogene Rückzug aus der Weltwirklichkeit als Aufgabe kann sich zur Todessehnsucht steigern, zum letztlich nicht mehr zurückzuweisenden Wunsch, die nichtige Scheinwelt des Todes endlich hinter sich zu lassen, sich ihr nicht mehr stellen zu müssen und in einer Gotteswirklichkeit des Lebens sein zu dürfen – vergleichbar dem Wunsch nach Erlösung, der den Jungen Michael Karl Popper in der Kid’s Story der Animatrix in den (scheinbaren) Suizid treibt.
105
Psychoanalytisch lässt sich das ungültigkeitstheologisch Angenommene vielleicht als Außer-Ich-Ich bezeichnen, als ein Ich außerhalb meiner selbst, das als ganz anderes Ich die Interpretation meiner selbst und meiner Umwelt (und meine entsprechende Praxis) zu durchdringen und zu bestimmen beginnt. Dabei macht jedoch das Außer-Ich-Ich keine neuen Geltungsansprüche geltend. Auch werden keine bestimmten weltwirklichen Geltungsansprüche bevorzugt – weder jene der verschiedenen Instanzen des Selbst noch jene der Umwelt. Das Außer-Ich-Ich ist eine Außer-Ich-Instanz des Selbst, vor der alle Geltungsansprüche erst einmal zur Ruhe kommen dürfen und Stille halten müssen. Eine paulinische Umschreibung des Außer-Ich-Ich findet sich in Gal 2,20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Messias lebt in mir.“
Mittwoch, 15. Juni 2016
104
Der (allein) im Ungültigkeitsglauben angelegte Wille zur Macht weist die Geltungsansprüche aller Wirklichkeitsmächte unbedingt zurück, auch und gerade die Ansprüche vermeintlich höherer, religiöser oder metaphysischer Gültigkeiten. In dieser universalen Zurückweisung als ob nicht öffnet sich ein Leerraum. Ein Freiraum wird reserviert für Denken und Handeln, für Interpretation und Praxis. Wille zur Macht ist reservativer Wille, insofern er im Streit weltwirklicher Gültigkeiten ein unausgesetztes Innehalten fordert und ermöglicht.
Samstag, 11. Juni 2016
103
Noch einmal ein Rückgriff auf die Symbolik der Matrix-Trilogie.
102
Ungültigkeitstheologische Interpretation sieht die Pointe der biblischen Schöpfungserzählungen nicht darin, dass Gott Schöpfer der Weltwirklichkeit ist (etwa im Sinne eines philosophischen Postulats oder der religiösen Annahme eines „intelligent design“). Gesagt ist vielmehr: Geschaffene Wirklichkeit und tatsächliche Weltwirklichkeit brechen unvermittelbar auseinander. Zugleich bricht der Zugang zur Gotteswirklichkeit ab. Der Rückweg in die geschaffene Wirklichkeit und damit in die Gottesnähe ist ausgeschlossen (Gen 3,24).
Freitag, 10. Juni 2016
101
Gestern Abend: Vortrag von Holm Tetens an der Hochschule für Philosophie in München. Thema: „Schöpfergott oder Lückenbüßer? – Zur kosmologischen Dimension der Rede von Gott“.
Donnerstag, 9. Juni 2016
100
Wenn ein religiöses oder metaphysisches Etwas unrettbar verloren ist, an dem wir uns festmachen könnten, das uns entlasten und das uns (miteinander) verbinden könnte, wenn die nihilistische Gleich-Gültigkeit aller Gültigkeiten heraufzieht, wenn die Selbstmächtigkeit des Menschen fragwürdig und die Eigenmacht der Weltwirklichkeit bedrohlich wird, dann bleibt uns allein noch der unbedingte „Wille zur Macht“ (Nietzsche), um uns über uns selbst, über andere und über den Strom der chaotischen Wirklichkeitsgeschehnisse zu erheben, um uns der Weltwirklichkeit insgesamt zu bemächtigen.
Mittwoch, 8. Juni 2016
99
Große religiöse oder metaphysische Erzählungen, repräsentative Systeme des Denkens und Handelns sind letztlich unhaltbar und sogar gefährlich.
Dienstag, 7. Juni 2016
98
Eine Theologie der Ungültigkeit füllt keine Bibliotheken. Sie
lässt sich auf eine einzige Aussage reduzieren: Gott wird so geglaubt, dass in ihm
die Welt als ungültig angenommen werden darf. Theologie der Ungültigkeit ist damit
eine postsäkulare, aufgeklärte Behauptung jener alten Gewissheit, die sich bereits
in der Hiob-Erzählung findet: „Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob
19,25). Die Theologie dieser Gewissheit nenne ich reservativ. Reservativ nenne
ich aber vor allem auch Denken und Handeln, Interpretation und Praxis, die sich
dieser Theologie entnehmen.
Sonntag, 5. Juni 2016
97
Eine Theologie der Ungültigkeit ist von ihren eigenen Begriffen bedroht. Üblicherweise sind Begriffe für uns allgemein anerkannte Formen, die allgemein anerkannte Substanzen erfassen. Für die Bewältigung des Alltäglichen, für das alltägliche Leben ist dieses Verständnis von Begriffen auch durchaus angebracht (wenngleich wir wissen, dass allgemeine Formen und allgemeine Substanzen bloß Fiktionen sind und Begriffe daher lediglich Fiktionen repräsentieren).
Samstag, 4. Juni 2016
96
Nach 95 Einträgen (Achtung: nominalistische Symbolik) habe ich vorhin auf meiner universitären Homepage einen Link zu meinem Blog gesetzt. Ein erster Schritt in die öffentliche Auffindbarkeit.
Freitag, 3. Juni 2016
95
Wenn wir die glaubend als ob angenommene Gotteswirklichkeit Gott nennen und wenn wir Gott mit Begriffen näher bestimmen, dann ist das zunächst ein nominalistischer, vor allem aber ein pragmatischer Akt.
Donnerstag, 2. Juni 2016
94
Inwiefern kann die Gotteswirklichkeit "Gott" genannt werden? Wie lässt sich "Gott" begreifen?
Mittwoch, 1. Juni 2016
93
Als Interpretierender aufmerksam zu existieren und zugleich als Existierender aufmerksam zu interpretieren – diese Spannung ist nahezu unerträglich, fordert den ganzen Menschen. Deshalb neigen nicht wenige dazu, die Spannung einseitig aufzulösen. Die einen werden belanglose Schachspieler des Denkens, die anderen werden bedauernswerte Funktionäre des Lebens.
92
Der Ungültigkeitsglaube ist form- und substanzloser Glaube. Er greift auf keine vorgegebene Form und auf keine vorgegebene Substanz zurück (z.B. auf einen form- oder substanzstiftenden göttlichen Willen), und er lässt sich auch nicht auf eine bestimmte Form (z.B. ein bestimmtes Rechtssystem, eine bestimmte Intitutionalisierung) oder Substanz (z.B. eine bestimmte Kultur, eine bestimmte Moral, bestimmte Werte) festlegen. In der Weltwirklichkeit vorgefundene Formen und Substanzen gebraucht der Glaubende als ob nicht. Er bleibt also in dem jeweils gegebenen „Stand“ (im Sinne einer „Berufung“), ohne sich diesem „Stand“ zu unterwerfen (1 Kor 7,20–23). Im Ungültigkeitsglauben macht der Glaubende in der Weltwirklichkeit mit, er macht zugleich aber doch nicht mit. Er nimmt jede beliebige Form und Substanz hin und an, instrumentalisiert Form und Substanz aber zugleich im Dienste seines Glaubens. Wenn es sein muss, setzt er sich sogar über jede Form und Substanz hinweg.
Zu formulieren, was das für Haltung und Praxis des Einzelnen und für Haltung und Praxis von Gemeinschaften bedeutet, empfinde ich als besonders große Herausforderung – gerade auch in Abgrenzung zur christlichen Haltung und Praxis. Aber bei Paulus gibt es dazu ja einige hilfreiche Vorüberlegungen.
91
Calvin bezeichnet die Weltwirklichkeit als theatrum gloriae Dei, als Schauplatz zur Ehre Gottes. Es gibt kaum einen treffenderen Namen. Allerdings will uns der Glaube nur quer hinunter, dass Aufhebung und Überwindung von Sein und Existenz, dass die Verungültigung der Weltwirklichkeit der Ehre Gottes dienen sollen. Und warum Sein und Existenz überhaupt noch sind, warum das Werden des Vergehens der Weltwirklichkeit unserem Vernehmen und Interpretieren nach so lange dauert – diese Frage lässt sich schlechtweg nicht beantworten (eine Frage, die sich allerdings allein in der Weltwirklichkeit stellt).
Was sich jedoch vor diesem Hintergrund sagen lässt: Die unbedingte Verpflichtung auf das „Leben“, die sich etwa im katholischen oder auch im evangelikalen Denken finden lässt (konkretisiert in Fragen der Abtreibung, der Empfängnisverhütung oder der Sterbehilfe), dient gerade nicht der Ehre Gottes. Sie dient der Ehre der Götter der Weltwirklichkeit. Wir tun weder uns noch Gott einen „Gefallen“, wenn wir uns unbedingt an das weltwirkliche Sein und die weltwirkliche Existenz hängen.