Dienstag, 28. April 2020
636
Gott – das Nichts, das das Nichtige nichtet. Die jüdisch-christliche Tradition hat zwei passende Begriffe, die andeuten können, was damit gesagt sein soll: Heiligkeit und Licht. „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth“ (Jes 6,3). „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis“ (1 Joh 1,5). Die Begriffe Heiligkeit und Licht als Bezeichnungen Gottes, als Bezeichnungen für – wenn man so will – Eigenschaften Gottes, bleiben als solche besser ungefüllt, leer. Sobald sie repräsentativ gefüllt werden, eröffnen sie irreführende Analogien, verlieren sie unmittelbar das, was sie zum Ausdruck bringen können.
Montag, 27. April 2020
635
Not lehrt beten? Wer in der Not betet, hat keine Not. Er hat ja noch oder wieder neu oder erstmalig einen sichtbaren Gott. Wem die Not auch jedes Gebet von den Lippen und aus dem Herzen reißt, wem die Not jede Zuflucht zu einem sichtbaren Gott versperrt, der hat Not. Not lehrt nicht beten, sondern verstummen, schweigen.
Sonntag, 26. April 2020
634
Denken im eigentlichen Sinne ist Nichts-Denken, Denken des Nichts, Denken im Ab-Grund des Nichts (Nr. 544). Es ist das Mutige und Eindrückliche der Roaring Twenties des 20. Jahrhunderts, sich dem Schrecken des Nichts und damit dem Schrecken des eigentlichen Denkens noch einmal gestellt zu haben. An diesem Schrecken entzündet sich etwa die Theologie Karl Barths, vor allem aber auch die Philosophie Martin Heideggers (wobei hier Entzündung durchaus mehrsinnig begriffen werden darf).
Montag, 20. April 2020
633
Die Beobachtung eines lieben Freundes bewegt mich zu einer kleinen Zwischenbemerkung: Dieser Blog ist kein öffentliches Tagebuch, er ist so etwas wie ein fragmentarisches Denk-Notizbuch. Dieser Blog ist nicht der Ort, an dem ich meine Befindlichkeiten vor der Welt ausbreite. Er ist der Ort, an dem ich mich (auch vor dem Hintergrund meiner Befindlichkeiten) im Denken aufzuklären, zu orientieren und zu befestigen versuche. Dieser Blog ist also nicht Ausdruck von Festigkeit, in ihm äußert sich vielmehr ein möglicher Selbstbefestigungsversuch mitten in einer komplexen und kontingenten Wirklichkeit, mitten im ungeheuren chaotischen „Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt“ (Max Weber).
632
In den ersten Wochen des Jahres habe ich noch einmal ein wenig mit Nietzsche zu denken versucht, in den vergangenen Corona-Wochen lese ich vor allem Heidegger. Hier wie dort entdeckt sich mir wenig Neues, schon gar nichts Wegweisendes. Auseinandersetzungen wie diese helfen aber immer und immer neu bei der Konturierung des eigenen Denkens.
Sonntag, 19. April 2020
631
Die Massenbewegungen, die wir gerade in westlichen Gesellschaften beobachten können, haben auch sehr viel zu tun mit dem, was in den einschlägigen sozialwissenschaftlichen Diskursen unter dem Begriff des Postheroismus verhandelt wird. Unter postheroischen Bedingungen (die in aller Regel wohlständige Bedingungen sind) gilt es als irrational, bedingungslos für etwas einzustehen, was nicht unmittelbar materialisierbar ist, was nicht unmittelbar als dem Leben und der Wohlständigkeit des Lebens zweckdienlich begriffen werden kann. Kaum jemand ist noch bereit, sich für eine Idee, für einen Glauben, für eine Interpretation zu opfern, gar zu sterben. Opferbereitschaft an sich, vor allem aber der Gedanke eines stellvertretenden Opfers sind fremd geworden, gelten geradezu als dekadent.
So gesehen, nebenbei bemerkt, ist es erstens nicht verwunderlich, dass die traditionelle christliche Erzählung vom stellvertretenden Opfer Jesu unter postheroischen Bedingungen kaum noch Gehör und Verständnis findet. Und es ist zweitens nicht verwunderlich, dass die postheroischen Kirchenführer unserer Tage gerade in der gegenwärtigen Krise so schweigsam sind. Nicht zuletzt auch in Deutschland. Im Beamtenstatus erscheint es so irrational, für religiöse Fiktionen den Kopf hinzuhalten. Allenfalls für die Behauptung einer wie auch immer gearteten Systemrelevanz will man sich noch erheben – also letztlich für nichts anderes mehr als für die Behauptung und Verteidigung des eigenen Status.
630
In Bedrängnis, in Angst versetzt neigen wir zur Komplexitätsreduzierung. Dann wird die Bedrohung sichtbarer, griffiger. Auch die Rettung scheint uns dann sichtbarer, griffiger. Und die Feinde der Rettung selbstverständlich auch.
Montag, 13. April 2020
629
Was ich im Corona-Phänomen mitgefangen denkend bewege – insbesondere im Blick auf möglicherweise kommende politische Folgekausalitäten, gerade auch im Blick auf mögliche Slippery-Slope-Effekte. Einige zusammenfassende Stichsätze.
Sonntag, 12. April 2020
628
Wie dürftig und gefährlich doch die christlich überlieferte Hoffnung bei näherem Hinsehen ist. Karfreitag – auf die eine oder andere Erzählweise Ereignis und Ermöglichungsgrund einer moralischen Läuterung, eines moralischen Neubeginns. Ostern – auf die eine oder andere Erzählweise Ereignis und Ermöglichungsgrund einer heilenden Wirklichkeitstransformation: Das Gute ist im Werden, das Beste kommt zum Schluss. Diese Hoffnung ist dürftig, weil sie das Gehoffte immer ins Kommende verschiebt. Diese Hoffnung ist aber auch gefährlich, weil sie alles auf Moralisierung setzt und zugleich in einer unendlichen Fortschrittsdynamik gefangen setzt.
Erste Anmerkung: Weil die Verschiebung des Gehofften ins Kommende unerträglich ist, haben die verschiedenen Christentümer zahlreiche Mittel gefunden, ihres Gottes und damit des Gehofften schon jetzt irgendwie habhaft zu werden – je nach religiöser Bedürftigkeit angesiedelt irgendwo im Spektrum zwischen magischer (sakramentaler) Realpräsenz und schlichter (rationaler) Symbolik.
Zweite Anmerkung: Die jesuanische, paulinische, messianische Hoffnung ist im Unterschied zur christlichen paradox reich (ein nicht-repräsentativer Begriff für das, was ich sagen will, steht mir leider nicht zur Verfügung). Indem sie die Weltwirklichkeit schon im Hier und Jetzt als eine (fiktiv – nicht wirklich, glaubend – nicht schauend) aufgehobene und überwundene zu begreifen ermutigt, ist sie eine im Hier und Jetzt immer schon gegenwärtige, von der realen Habhaftigkeit des Gehofften völlig unabhängige Hoffnung. Zugleich befreit sie den Hoffenden zu einer angemessen und behutsamen, nicht moralisch verengten und nicht fortschrittsverpflichteten Handhabung des Weltwirklichen.
627
Die religiöse Frömmigkeit (es ist auch eine nicht-religiöse Frömmigkeit denkbar), die uns gerade in besonderem Maße über unsere Rechner und Smartphones belästigt, erinnert mich noch einmal an Bultmanns kaum zu überbietendes Diktum des Glaubens: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Man kann nicht – intellektuell redlich – via Facebook, Twitter oder Instagram die Botschaft Jesus ist auferstanden verbreiten und gleichzeitig die historische Tatsächlichkeit dieses Ereignisses behaupten (siehe dazu erläuternd etwa Nr. 23 und 30).
Samstag, 11. April 2020
626
In seinem Entwurf Zum ewigen Frieden hält Kant den Zustand abgesonderter Staaten unter der Idee des Völkerrechts für „besser als die Zusammenschmelzung derselben durch eine die andere überwachsende und in eine Universalmonarchie übergehende Macht, weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt.“ Zwar streben einzelne Staaten durchaus nach universaler globaler Herrschaft, jedoch, so Kant: Die „Natur will es anders“. Als Eigenmacht bedient sich die Natur „zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen“.
Mindestens ein Mittel der Natur hatte Kant hier noch nicht im Blick: das Virus. Und dieses Mittel ist (als von der Vernunftnatur des Menschen unabhängiges) potenziell so mächtig, dass es sogar jedes einzelne Volk als Staat wieder zersetzen und auseinandertreiben könnte.
625
Im durch Corona auferlegten Stubenarrest können Menschen dem Druck ihres Bedürfnisses nach Mitteilung und Selbstdarstellung offenbar kaum standhalten. Und auf digitalem Wege gelangt nun nahezu alles an die Weltöffentlichkeit, was unter regulären Funktionsbedingungen wenigstens halbwegs eingefangen wird (weil unter diesen Bedingungen schlechtweg kaum Zeit bleibt).
Unter anderem gehen gerade unzählige Challenges viral (wie man heute so sagt), in der Osterzeit nicht zuletzt auch christlich-religiöse Challenges. Die jüngste Herausforderung: #JesusInMir. Menschen sollen, in missionarischer Absicht, in einem kurzen Clip von ihren Gottesbegegnungen, von ihren Gotteserfahrungen berichten. Wenn man sich, halbwegs ideengeschichtlich vorgebildet, durch die verschiedenen Beiträge klickt, wiederholt sich hier eine befremdlich wirkende Beobachtung: die Beobachtung der Permanenz einer naiven schillernden Gnosis, damit zugleich einer schlichten Identifikation von Gott und Selbst, der Interpretation von Selbsterfahrungen als (reinigende) Gotteserfahrungen.
Nun ja. Meine Erfahrung ist: Wenn ein christlicher Gnostiker nicht durch entzaubernde Welterfahrung aus dem Zirkel von Selbsterfahrung und Gotteserfahrung herausgeschleudert wird, dann ist gegen seine Gnosis kein Kraut der Welt gewachsen (siehe dazu auch Nr. 78).
Freitag, 10. April 2020
624
Zur reservativen Interpretation von Kreuz und Auferstehung habe ich an anderer Stelle schon einige Andeutungen gemacht (etwa Nr. 41, 44, 72, 80, 288). Heute, es ist Corona-Karfreitag, will ich nur einen kurzen erläuternden Hinweis geben im Rückblick auf die vergangenen Tage.
623
Die religiösen Debatten der vergangenen Tage legen noch einmal sehr schön offen, dass sich mit der Erzählung, Gott sei Schöpfer der Weltwirklichkeit, deutlich mehr Fragen stellen, als dass damit Fragen beantwortet werden. Vor allem aber: Mit dieser Erzählung sind immer und unvermeidlich irreführende Analogiebildungen und trügerische Wirklichkeitserwartungen gegeben.
Mittwoch, 8. April 2020
622
Gestern hat Giorgio Agamben in der NZZ nachgelegt (hier der Text). Er skizziert vor allem zwei besorgte Beobachtungen. Zunächst: Das politische und gesellschaftliche Verhalten unter Bedingungen des Coronaereignisses lässt ahnen, wie verseucht die Bedingungen sein müssen, unter denen wir eigentlich leben. Corona als Ausnahmekrankheit deckt unser tatsächlich krankes Leben, die Unerträglichkeit unseres regulären, unseres geregelten Lebens auf.
Dann, im Anschluss an Elias Canetti: Die geradezu panische Bereitschaft der vermeintlich demokratischen Massen, unter der Coronabedrohung widerstandslos auf zentrale Freiheitsrechte zu verzichten und sich unverzüglich in die soziale Distanzierung zu flüchten – in ihr erweisen sich die gegenwärtigen Gesellschaften als (kommende) passive Massen, die, unmittelbar mit dem Tod konfrontiert, ängstlich nach dem einen Kopf Ausschau halten, der ihnen ihr Überleben sichern kann. Auf eine so sich äußernde Massenangst ums Überleben lässt sich jedoch „allein eine Tyrannei errichten, nur der monströse Leviathan mit seinem gezückten Schwert.“
Agambens Rationalität ist hier erneut zu eng. Aber gerade diese Verengung macht überdeutlich: Hobbes ante portas. Ein politisches Denken, das auf Angst gegründet ist: And hereupon it was my Mother Dear | Did bring forth Twins at once, both Me, and Fear. Und ein politisches Denken, das sich auf die bleibende, sozialpsychologische Einsicht des Leviathan stützen kann: Massen, die allein noch von ihrer Angst ums Überleben angetrieben und zusammengehalten werden, neigen dazu, allein noch einer absoluten und totalen Politik zuzutrauen, das Überleben tatsächlich gewährleisten zu können.
621
Nun, wo die Politik notgedrungen über Rückwege in die angestrebte Normalität nachdenken muss, spätestens jetzt wird sie notgedrungen differenzieren, wird sie diskriminieren müssen.
In dieser Lage liegen die Grenzen, ja die Unhaltbarkeiten unserer Lebensideale offen vor Augen. Gerade auch das eine, alles begründende Ideal der Menschenwürde mündet nun unvermeidlich in eine Aporie (und nicht etwa bloß in ein irgendwie noch handhabbares Dilemma), in eine unschließbare Offenheit, in eine Weglosigkeit, in eine Unentscheidbarkeit. Wir werden aber politisch und gesellschaftlich nicht daran vorbeikommen zu entscheiden. Und das bedeutet Fürchterliches: Wir werden Tote und wahrscheinliche Tote zählen und gegeneinander aufwiegen müssen. Schlimmer, schrecklicher noch: Wir werden gezwungen sein, über verzichtbar und unverzichtbar nachzudenken.
Die Frage, die sich uns damit in dramatischer Weise stellt: Was, wenn Wirklichkeit und Wirklichkeitsentwicklung unsere religiös oder säkular hinterlegten Lebensideale destruieren? Damit ist zugleich die fundamentale Frage nach unserem Wirklichkeitsverständnis überhaupt gestellt. Die Konfrontation mit dem Coronaereignis fordert von uns erneut und nun noch einmal unübersehbar eine Revolution, eine Umwälzung, eine Umkehrung unseres Wirklichkeitsverständnisses. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass wir diese Forderung übersehen und überhören werden. Wir werden zur Normalität zurückkehren – wie auch immer diese dann aussehen wird.
620
Ein Gedanke im Kontext und im Geiste unseres gegebenen Lebenssystems: Wenn die Politik derzeit die Grenzen auslotet, die Grenzen möglicherweise überschreitet, die unsere Verfassung ihrer eigenen Einschränkbarkeit oder gar Außerkraftsetzung zieht, dann sind vor allem auch jene zu besonderer Wachsamkeit herausgefordert, die die Ausnahmeentscheidungen der Politik zu exekutieren haben: Polizei, Verwaltungen, Streitkräfte. Alle Teile der Exekutive müssen sich nachdrücklich und dauerhaft daran erinnern (lassen), dass sie in Deutschland mit guten Gründen nicht auf die Politik, nicht auf einzelne politische Entscheidungen, schon gar nicht auf einzelne Politiker verpflichtet sind. Sie sind auf die Verfassung verpflichtet. Streng genommen gibt es in Deutschland kein Primat der Politik, sondern ein Primat der Verfassung. Zwar spricht man – vor allem im militärischen Kontext – vom Primat der Politik, um (ebenfalls mit guten Gründen) den Vorrang des Politischen vor dem Militärischen zu betonen. Dieser Primat der Politik setzt aber immer auch eine Unterordnung des Politischen unter die Verfassung voraus. Wird diese Unterordnung zumindest zweifelhaft, dann ist gerade auch den Gewaltinstrumenten der Politik höchste Wachsamkeit geboten. Dann gilt es, unablässig zu prüfen und im konkreten Vollzug weise, möglicherweise auch anders zu entscheiden. Nicht im Geiste der jeweils aktuellen Politik, sondern im Geiste der Verfassung.
Sonntag, 5. April 2020
619
Corona hat auch eine nervöse juristische, teils rechtsphilosophische Debatte provoziert – in Deutschland auf einem erfreulichen Niveau abgebildet im sogenannten Verfassungsblog. Ausgedeutet wird hier insbesondere das Verhältnis von Ausnahme und Recht, damit mehr oder weniger deutlich noch einmal das Verständnis des Rechts überhaupt.
Samstag, 4. April 2020
618
Um die gestrige Andeutung noch ein wenig zu konkretisieren: Eine der momentan diskutierten Strategien zur Eindämmung der Corona-Pandemie ist das sogenannte Cocooning, also der gezielte, im Übergang bis zur Bereitstellung eines Impfstoffes praktizierte Rückzug von identifizierten Risikogruppen aus dem öffentlichen Leben (bei gleichzeitiger Sicherstellung ihrer Versorgung und Betreuung). Damit ließen sich vermutlich mehrere Ziele gleichzeitig verwirklichen: eine baldige Rückkehr der Masse (und damit des politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Systems) in die Alltäglichkeit, eine möglichst rasche Herdenimmunisierung, eine Entlastung der Intensivkapazitäten sowie eine Senkung der Todesopferzahlen.
Cocooning wäre im Unterschied zu den bisherigen Maßnahmen eine deutlich differenziertere politische Strategie. Sie ließe sich sogar (etwa im europäischen Rahmen) noch einmal regional differenzieren. Damit wir allerdings gar nicht erst in Versuchung kämen, unter dem freundlichen Deckmantel des Cocoonings spätmoderne Leprosorien (Lager) einzurichten, müsste Cocooning das sein und bleiben, was es eigentlich sein soll: ein politisch empfohlener, aber dessen ungeachtet freiwilliger Akt. Das damit verbundene Risiko für alle müssten wir billigend in Kauf nehmen wollen. Ebenso natürlich den möglichen Tod von Infizierten und Erkrankten, die nicht zu den identifizierten Risikogruppen gehören.
Ob ein so verstandenes Cocooning unter Menschen möglich wäre, die zwischen zwei Unbedingtheiten aufgespannt sind – Repräsentation des Allgemeinen und Repräsentation des Selbst (Nr. 594): ich zweifle.
Nachtrag: Ein Freund beschwert sich zu Recht über die euphemisierende Tendenz des Begriffs Cocooning. Er assoziiere damit spontan das Lebensgefühl des Hygge. Was mit Cocooning gefordert und abverlangt ist, ist jedoch alles andere als hyggelig.
Nachtrag: Ein Freund beschwert sich zu Recht über die euphemisierende Tendenz des Begriffs Cocooning. Er assoziiere damit spontan das Lebensgefühl des Hygge. Was mit Cocooning gefordert und abverlangt ist, ist jedoch alles andere als hyggelig.
Freitag, 3. April 2020
617
Bei Facebook in einer kleinen Notiz Max Webers Politik als Beruf zur Lektüre empfohlen – ergänzt durch eine kurze Erläuterung:
Donnerstag, 2. April 2020
616
Gestern die Frage, ob es überhaupt wünschenswert ist, dass von der gegenwärtigen Moralisierung etwas bleibt. Grundsätzlich neige ich zu der Annahme, dass Moral (also die mehr oder weniger bewusste Einigung darauf, in raum-zeitlichem Beieinandersein unter bestimmten Bedingungen gemeinsam das Gleiche zu tun) in wenig komplexen, überschaubaren und auf Dauer gestellten, langfristig stabilen Kontexten durchaus eine angebrachte Weise sein kann, mit diesem oder jenem Wirklichkeitsaspekt umzugehen, ihn zu handhaben.
In einer Weltwirklichkeit, wie wir sie heute (global) vorfinden, wie wir sie gerade auch durch unsere eigene moderne Moral mit hervorgebracht haben – also in einer hoch komplexen und hoch kontingenten Weltwirklichkeit –, hilft uns Moral kaum noch weiter. Im Gegenteil. Moral, die Verallgemeinerung und Automatisierung menschlicher Praxis in raum-zeitlichem Beieinandersein, scheint mir zunehmend die unangemessene, zuletzt immer auch dynamisierend und verschärfend wirkende Antwort auf Komplexität und Kontingenz des Wirklichen zu sein.
Wenn wir also derzeit eine natürliche, geradezu archaische Remoralisierung erleben, dann ist diese Bewegung als panischer Verzweiflungsakt in Überlebensabsicht durchaus verständlich. Wir dürfen in der Verzweiflungsmoral des Überlebens allerdings nicht allzu lange verharren. Sie darf schon gar nicht – was leider wahrscheinlich ist – in der einen oder anderen Form gerinnen und permanent werden.
Große Verantwortung lastet hier auf den Schultern der Politik. Allerdings hat nicht zuletzt auch die deutsche Politik auf die Corona-Bedrohung in ihrem ersten Zugriff wenig glücklich gewählt – und dies, obwohl doch gerade die deutsche Politik vor dem Hintergrund des föderalen Aufbaus des deutschen politischen Systems andere, angemessenere Antworten hätte finden können. Statt aber das Einzelne zu ermöglichen, statt dem Einzelnen Raum zu verschaffen, hat man – wie gewohnt, wie eingeübt – das Allgemeine, den universalen Hammer gewählt. Das ist nur zu verständlich, weil der allgemeine Schlag mit dem Hammer leichter zu rechtfertigen und leichter durchzusetzen ist (wer hätte nicht schon den allgemeinen Schrei nach Gerechtigkeit im Ohr). Jedoch: Das Einzelne geht unter diesem Schlag allzu leicht zu Bruch. Und ob wir als politische Kultur nach diesem Schlag – tanzend, wie manche annehmen – aus der nun geschaffenen Lage und Neigung wieder herausfinden, scheint mir wenig wahrscheinlich.
Mittwoch, 1. April 2020
615
Wenn Nietzsches These zur Genealogie der Moral grundsätzlich in die richtige Richtung deutet – und manches spricht dafür –, dann können wir annehmen, dass unsere Moral immer auch Ausdruck unserer Natur ist, dass sich in unserer Moral unsere natürlichen Verfasstheiten, unsere natürlichen Bedürfnisse Ausdruck verschaffen. Zugespitzter: Moral ist immer auch der Versuch, unsere natürlichen Bedürfnisse zu stillen, die Stillung unserer natürlichen Bedürfnisse zu sichern. Und unsre Moral wird umso vehementer und strikter, je deutlicher die Stillung unserer natürlichen Bedürfnisse gefährdet, bedroht ist.
Damit ist auch gesagt: Menschen neigen immer gerade dann zur Moral, wenn sie sich einer Wirklichkeitsmacht gegenüber sehen, die die Stillung ihrer natürlichen Bedürfnisse bedroht und von der sie annehmen, dass man sie auch und nicht zuletzt durch Moral in die Schranken verweisen kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich der coronainduzierte Moralisierungsschub und der virale Solidarisierungsdruck, die derzeit zu beobachten sind, recht leicht erklären: Hier ereignet sich keine Besinnung auf in Vergessenheit geratene (religiöse, metaphysische) Werte und Praktiken. Hier kündigt sich keine lange ersehnte kulturelle Wende an. Es geschieht schlicht dies: Hier zucken und rücken Menschen zusammen, die um die Stillung ihrer Bedürfnisse (Überleben, Wohlstand) besorgt sind und die ihre Hoffnung darauf setzen, dass sie den Feind auch damit zurückdrängen können, dass sie alle gemeinsam das Gleiche tun. Menschen tun also im Angesicht der von Corona ausgehenden Gefährdung ihres Überlebens und ihres Wohlstandes gerade das, was bedrohte Menschen in raum-zeitlichem Beieinandersein schon immer getan haben. Und dabei sind jene besonders eifrig (und dies auch schon immer), die sich als besonders ohnmächtig empfinden und die annehmen, im schlechtesten Falle besonders viel zu verlieren. Also jene, die in besonderer Weise an der Weltwirklichkeit hängen – und natürlich an dem, was sie der Wirklichkeit mühsam abgerungen zu haben glauben.
In gewissem Sinne könnte man im Blick auf die durch Corona ausgelöste Bewegung von einer natürlichen Remoralisierung, einer natürlichen Resolidarisierung sprechen. Dieses Geschehen ist weder gut noch böse. Dieses Geschehen geschieht einfach. Ganz natürlich. Ob von diesem Geschehen etwas bleibt und was von ihm bleiben wird – das ist derzeit kaum absehbar. Und ob es überhaupt wünschenswert ist, dass von diesem Geschehen etwas bleibt – das ist eine Frage, die mit dem Geschehen selbst noch nicht beantwortet ist.