Montag, 31. Mai 2021
747
Bei einer selektiven Relektüre Kierkegaards steht mir noch einmal unmittelbar vor Augen, was mich seinem Denken so nahe bringt: das existenzielle Ringen um das Allgemeine und das Einzelne, um das Einzelne im Gegenüber zum Allgemeinen. Wobei ich feststelle, dass diese Begriffe bei mir anders gefüllt sind als bei Kierkegaard selbst. Was aber durchaus auch in Kierkegaards Sinne ist. Nichts liegt dem Einzelnen ferner, als Epigone zu sein.
Samstag, 29. Mai 2021
746
Noch einmal Welt in Stücken (siehe Nr. 744). Der Einzelne soll als unendlich fragmentiertes Fragment begriffen werden. Was ereignet sich dann im Einzelnen in der unvermittelten Begegnung mit sich selbst als Wirklichkeit, mit anderen Einzelnen als Wirklichkeit und mit der Wirklichkeit außerhalb seiner selbst?
Donnerstag, 27. Mai 2021
745
Mit Nr. 458 ist alles gesagt. Alles Folgende ist, da darf man sich wohl nichts vormachen: Sublimierung.
744
Welt in Stücken. Verstehen wir die von Clifford Geertz formulierte Beobachtung für einen Augenblick als Diagnose der prä-kulturellen Situation und spitzen diese zugleich anthropologisch zu (siehe auch Nr. 123).
743
Unmittelbare, unvermittelte Begegnung des Bewusstseinswesens Mensch mit sich selbst, mit der Wirklichkeit außerhalb seiner selbst und mit anderen Menschen. Das gilt es noch einmal grundsätzlich und vorgängig in den Blick zu nehmen.
742
Wenn wir uns als Menschen außerhalb unserer Funktionen, abseits der Maskerade unserer Rollen möglichst unmittelbar zu begegnen wagen, dann erhoffen, dann erwarten wir voneinander nie dasselbe, noch nicht einmal das gleiche. Es begegnen sich immer Existenzen, die in dem, was sie geben können und in dem, was sie nehmen wollen, nicht zueinander, schon gar nicht ineinander passen. Und je näher wir das mögliche und erwartetet Geben und Nehmen anschauen, desto größer erscheint uns die Differenz. Das Wagnis der Unmittelbarkeit der Begegnung läuft also, sofern Geben und Nehmen als Gültigkeiten, als Ansprüche behauptet werden, immer auf Gegnerschaft hinaus – zumal die Begegnung von Bewusstseinswesen immer auch durch das brüchige und flüchtige Symbolsystem Sprache vermittelt ist. Bleibt also allein die vermittelte, funktionalisierte Begegnung? Bleibt als negatives Surrogat unmittelbarer Begegnung allein die Begegnung in jenen Rollen(grenzen), die uns durch Religion und Metaphysik zugewiesen werden? Bleibt allein die kulturell vermittelte Begegnung, in der uns das mögliche und erwartbare Geben und Nehmen schon vor aller Begegnung zugewiesen ist?
Dienstag, 25. Mai 2021
741
Je älter wir werden, desto heftiger sind wir von wachsender innerer Abschließung, Verhärtung, Verbitterung bedroht – insbesondere dann, wenn der tatsächliche Wirklichkeitsverlauf von unserem erhofften Wirklichkeitsverlauf gnadenlos und zunehmend quälend abweicht. Dagegen ein Satz des Predigers, der mich schon als Kind hat schaudern lassen: „Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen und die Jahre herzutreten, da du wirst sagen: Sie gefallen mir nicht“ (Koh 12,1). Heute würde ich übertragen: Strebe möglichst früh nach Unabhängigkeit von dem, was die Wirklichkeit dir nimmt und gibt, vor allem aber auch von dem, was sie dir verheißt und dann doch vorenthält. Das ist die beste Vorsorge für jene gegenwärtigen und noch kommenden Tage und Jahre, die uns nicht gefallen, an denen wir keinen Gefallen haben werden.
740
In den vergangenen Tagen wird mir immer deutlicher, dass sich hinter meiner Hinwendung zur Angst, auch zum Begriff der Angst Grundsätzlicheres verbirgt. Angst ist eine Chiffre für die Unmittelbarkeit der Wirklichkeitswahrnehmung an sich, wobei Angst wohl ein ausgesprochen ursprünglicher, unmittelbarer und mächtiger Affekt ist, der sich im Bewusstseinswesen Mensch in der Begegnung mit der Wirklichkeit als Wirklichkeit manifestiert.
739
Wie werde ich Ereignisse los? Indem ich sie als mögliche Wirklichkeit überlaste, überfordere. Wie ermögliche ich Ereignissen Permanenz? Indem ich mich vom Geist, vom Hauch dessen, was in ihnen als mögliche Wirklichkeit entzogen ist, treiben lasse.
738
Unaufhörlich und unvermeidlich existieren wir aneinander vorbei. Koinzidenz, Gleichzeitigkeit von Existenzen ist eine Illusion, ein Wahn.
Sonntag, 23. Mai 2021
737
Bereits in den ersten Tagen meiner Hinwendung zur Angst, zu meiner Angst, stelle ich fest, wie sehr mich diese Wendung als große fundamentale Bewegung fordern wird – die Absicht einer vor-religiösen, vor-metaphysischen Anschauung, Bezeichnung und Handhabung der Angst, meiner Angst. Es ist mir durchaus bewusst: Dieses Vorhaben ist in gewissem Sinne zum Scheitern verurteilt. Wir können weder unserer Religion noch unserer Metaphysik entrinnen, genauso wenig, wie wir unserer Kultur entrinnen können. Und doch ist dieses Vorhaben unabdingbar, notwendig. Es ist jede noch so vergebliche Anstrengung wert.
Viel zu lange hat mich unterbewusst der eigentlich längst durchschaute, heilsgeschichtlich-fortschrittsoptimistische Gedanke einer Überwindung von Religion und Metaphysik, der Gedanke einer nach-religiösen und nach-metaphysischen Zeit in seinem Bann gehalten. Es geht – noch radikaler, als ich es bislang bereits wahrgenommen habe (siehe etwa Nr. 15, 40, 63, 265) – um ein Sichzurückwerfenlassen auf die Anfänge des Verstehens (Bonhoeffer). Abrahamitischer, paulinischer, reservativer Glaube ist vor-religiös, vor-metaphysisch. Wenn wir die Eigenart dieses Glaubens tatsächlich neu verstehen lernen, wenn wir die entängstigende Kraft dieses Glaubens tatsächlich neu wahrnehmen wollen, dann müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine Bewegung hinter Religion und Metaphysik zurück vollziehen. Denn in jedem Danach werden wir das Davor nicht los. In jedem Danach bleiben wir im Schema unseres Gegners gefangen.
Viel zu lange hat mich unterbewusst der eigentlich längst durchschaute, heilsgeschichtlich-fortschrittsoptimistische Gedanke einer Überwindung von Religion und Metaphysik, der Gedanke einer nach-religiösen und nach-metaphysischen Zeit in seinem Bann gehalten. Es geht – noch radikaler, als ich es bislang bereits wahrgenommen habe (siehe etwa Nr. 15, 40, 63, 265) – um ein Sichzurückwerfenlassen auf die Anfänge des Verstehens (Bonhoeffer). Abrahamitischer, paulinischer, reservativer Glaube ist vor-religiös, vor-metaphysisch. Wenn wir die Eigenart dieses Glaubens tatsächlich neu verstehen lernen, wenn wir die entängstigende Kraft dieses Glaubens tatsächlich neu wahrnehmen wollen, dann müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine Bewegung hinter Religion und Metaphysik zurück vollziehen. Denn in jedem Danach werden wir das Davor nicht los. In jedem Danach bleiben wir im Schema unseres Gegners gefangen.
736
Im Vergehen von Religion und Metaphysik insbesondere jenseits des deutschen Idealismus war der Denkweg hinein in Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie, aber auch hinein etwa in die Psychoanalyse rückblickend geradezu erwartbar: der Weg hinein in die möglichst unverstellte Unmittelbarkeit der Anschauung des menschlichen Daseins sowohl in seiner Äußerlichkeit als auch in seiner Innerlichkeit. Was dabei zunächst aber noch nicht überwunden wurde: der Drang, geradezu der Zwang zum System.
Freitag, 21. Mai 2021
735
Suchender zu sein ist keine Qualität. Es ist ein Joch.
Donnerstag, 20. Mai 2021
734
Eine ereignishafte Begegnung, ein Begegnungsereignis treibt mich zu einem nächsten Schritt der Selbstaufklärung, damit zugleich zu einem nächsten Schritt in meiner Suchbewegung. Der ereignishafte Impuls ist für mich insofern eine überraschende und irritierende Wendung, als dass er mich noch einmal vorgängiger zu suchen nötigt, mich daran hindert, im Denken weiter voran zu schreiten. Besinnung statt Entfaltung.
Dienstag, 18. Mai 2021
733
Es gibt Daseiendes, über dessen Dasein ich dankbar werden will. Weil es da ist. Ganz gleich, ob auch für mich.
Sonntag, 16. Mai 2021
732
Nun denn. Existenzielle Radikalisierung. Einen Schritt zurück hinter die Kritik von Religion und Metaphysik, einen Schritt zurück hinter die Kritik der Repräsentationen, hinter die Kritik aller repräsentativen Versuche, sich des Weltwirklichen zu bemächtigen.
Begründung: Da ist etwas in uns, das uns als Bewusstseinswesen eigentümlich ist und das uns allererst in die Repräsentationen, in die Bemühungen um repräsentative Selbst- und Weltstabilisierung hineintreibt. Dieses Etwas ist, so meine Annahme: existenzielle Angst. Wenn es nun gelingen könnte, unserer existenziellen Bewusstseinsangst gewissermaßen den Nährboden zu entziehen, wenn es möglich wäre, uns als Existierende vorrepräsentativ zu entängstigen – dann wäre damit mehr gewonnen, als mit einer bloßen Kritik der Repräsentationen. Dann wäre den Repräsentationen selbst der Nährboden entzogen.
Die Annahme einer vormetaphysischen Angst, einer die Flucht in die Metaphysik allererst provozierenden Angst des Existierenden ist nicht neu. Eindrücklich markiert wird sie in jüngerer Zeit bereits bei Kierkegaard, systematisch fokussiert dann vor allem bei Heidegger. Meine intuitive Distanz zum Denken der Angst bei Heidegger: Hier wird noch zu sehr eine Angst an sich bedacht, weniger die Angst für mich, also die je eigentümliche, überaus brüchige Angst des Existierenden. Und allein diese Angst können wir heute nur noch bedenken – mitten in einer zerstückten Welt, in der wir als Existierende selbst nur noch Fragment sind und in der wir unser Selbst nur noch als fragmentiert wahrnehmen und begreifen können.
Auf meiner Suche nach ersten Anhaltspunkten für mein eigenes Denken der Angst in diesem Sinne, werde ich mich zunächst noch einmal Kierkegaard annähern. In der Auseinandersetzung mit ihm bin ich bereits in der Vergangenheit nicht selten fündig geworden.
731
Drei Intuitionen zur geahnten Notwendigkeit einer Kursklärung, Neuakzentuierung, man könnte wohl auch sagen: existenziellen Radikalisierung meines Denkens (im Sinne einer noch deutlicheren Bewegung hin zur Wurzel des sich mir stellenden Problems).
Erstens: Es erscheint mir fraglich, ob und inwiefern sich diese Radikalisierung, die damit verbundenen Ent-Deckungen und Interpretationen tatsächlich noch hier im Blog wiedergeben, abbilden lassen. Man wird sehen.
Zweitens: Mein Denken wird noch innerlicher, noch introvertierter werden, als es bislang ohnehin schon war und ist. Es steht mir ein neuerlicher Schub des denkenden Rückzuges, des zurückgezogenen Denkens bevor.
Drittens: In der unmittelbaren Begegnung, die mir auf meinem Denkweg schon immer unverzichtbar war und die mir nun unverzichtbarer sein wird denn je, werde ich rücksichtsloser werden müssen, ich werde mutiger werden müssen, noch rascher als bisher den Staub von meinen Füßen zu schütteln. Zum Selbstschutz, aber auch zum Schutz derjenigen, die mir begegnen. Denn die Begegnung kann und darf bloß dies sein: Angebot.
Erstens: Es erscheint mir fraglich, ob und inwiefern sich diese Radikalisierung, die damit verbundenen Ent-Deckungen und Interpretationen tatsächlich noch hier im Blog wiedergeben, abbilden lassen. Man wird sehen.
Zweitens: Mein Denken wird noch innerlicher, noch introvertierter werden, als es bislang ohnehin schon war und ist. Es steht mir ein neuerlicher Schub des denkenden Rückzuges, des zurückgezogenen Denkens bevor.
Drittens: In der unmittelbaren Begegnung, die mir auf meinem Denkweg schon immer unverzichtbar war und die mir nun unverzichtbarer sein wird denn je, werde ich rücksichtsloser werden müssen, ich werde mutiger werden müssen, noch rascher als bisher den Staub von meinen Füßen zu schütteln. Zum Selbstschutz, aber auch zum Schutz derjenigen, die mir begegnen. Denn die Begegnung kann und darf bloß dies sein: Angebot.
Samstag, 15. Mai 2021
730
Eines jener mysteriösen, nicht unmittelbar brauchbaren Symbole aus The Matrix, das man sich zugänglich und brauchbar machen kann – die dunkle Déjà-vu-Szene im Hotel Lafayette:
729
Zu Nr. 718: Im Grunde genommen zwingt uns unsere gegenwärtige Situation in eine jesuanische Kehre. Alles Denken, das in die Öffentlichkeit, in die öffentliche Vermittlung und (politische) Relevanz strebt, ist irregeleitetes und irreleitendes Denken. Der jesuanische Weg führt nicht in die Öffentlichkeit, sondern in die Unmittelbarkeit der Begegnung. Messianische Existenz lässt sich nicht vermitteln – schon gar nicht durch Sprache, durch Text. Sie bedarf, damit sie als solche (zuletzt vielleicht auch subversiv politisch) relevant und wirksam werden kann, der gewinnenden Unmittelbarkeit (soweit man im Wirklichen überhaupt von so etwas wie Unmittelbarkeit sprechen kann).
Wir verlassen den jesuanischen Weg dann, wenn wir – wie die ersten Jünger Jesu selbst – damit beginnen, jesuanische Geschichten festzuhalten und diese Geschichten theologisch zu abstrahieren. Wir verlassen diesen Weg vollends, wenn wir – wie das Christentum es eindrücklich vorgeführt hat – die messianische Existenz dogmatisch und moralisch auszuformulieren und institutionell einzukerkern versuchen.
Eine zweifache Kurskorrektur, besser: Kursklärung steht für mich an. Die Wendung hin zu einer verschärften Unmittelbarkeit der inneren und äußeren Begegnung.
728
Meine Existenz: irgendwo aufgespannt zwischen Maleachi und Simeon. Nicht mehr Maleachi, noch nicht Simeon (siehe Nr. 74).
727
Bei Nietzsche die tragisch-komische Beobachtung: Erfahrung ist das, was wir machen, während wir es eigentlich brauchen.
Im Als ob nicht existierend, sind wir in gewissem Sinne nicht mehr auf Erfahrung angewiesen. Jede gegenwärtige und jede kommende Wirklichkeit ist veränderte, andere Wirklichkeit. Was sollte uns also Erfahrung helfen?
Reservation ist nicht Rückgriff auf Erfahrung. Reservation ist unausgesetzte, aufmerksame, unermüdliche Rekapitulation. Selbsterinnerung an die wesentliche Fiktion der Ungültigkeit, an das geglaubte Aufgehoben- und Überwundensein alles gegenwärtigen und kommenden Wirklichen. Damit sind Verwirrung und Verirrung in der Handhabung des jeweils Wirklichen nicht ausgeschlossen. Aber selbst Verwirrung und Verirrung dürfen als aufgehoben und überwunden geglaubt werden.
Augenblicklich übe ich mich noch einmal eindringlich in Rekapitulation. Dabei greife ich auch auf jenen Text zurück, der mir Jahre eigenen Suchens und Denkens erspart hat: auf Agambens Römerbriefkommentar. Mir ist kein Text bekannt, der dem paulinischen Messianismus in vergleichbarer Weise nahekommt. Leider verharrt Agamben zuletzt schaudernd (vielleicht auch selbstherrlich) auf der Schwelle, scheut vor Sprung und Konsequenz zurück. Aber wer könnte es ihm verdenken. Er müsste bereit werden, alles loszulassen und nachzufolgen.
Im Als ob nicht existierend, sind wir in gewissem Sinne nicht mehr auf Erfahrung angewiesen. Jede gegenwärtige und jede kommende Wirklichkeit ist veränderte, andere Wirklichkeit. Was sollte uns also Erfahrung helfen?
Reservation ist nicht Rückgriff auf Erfahrung. Reservation ist unausgesetzte, aufmerksame, unermüdliche Rekapitulation. Selbsterinnerung an die wesentliche Fiktion der Ungültigkeit, an das geglaubte Aufgehoben- und Überwundensein alles gegenwärtigen und kommenden Wirklichen. Damit sind Verwirrung und Verirrung in der Handhabung des jeweils Wirklichen nicht ausgeschlossen. Aber selbst Verwirrung und Verirrung dürfen als aufgehoben und überwunden geglaubt werden.
Augenblicklich übe ich mich noch einmal eindringlich in Rekapitulation. Dabei greife ich auch auf jenen Text zurück, der mir Jahre eigenen Suchens und Denkens erspart hat: auf Agambens Römerbriefkommentar. Mir ist kein Text bekannt, der dem paulinischen Messianismus in vergleichbarer Weise nahekommt. Leider verharrt Agamben zuletzt schaudernd (vielleicht auch selbstherrlich) auf der Schwelle, scheut vor Sprung und Konsequenz zurück. Aber wer könnte es ihm verdenken. Er müsste bereit werden, alles loszulassen und nachzufolgen.
Mittwoch, 12. Mai 2021
726
Ereignisentzug. Abschiedsschmerz. Aufbruchstimmung.
Here In The Calm After The Storm.
Ereignisse in meinem Verständnis geben nichts. Sie hinterlassen auch nichts. Sie sind keine zumindest flüchtige Realpräsenz des Göttlichen im Wirklichen, die sich dann irgendwie festhalten oder festmachen ließe. Ereignisse können, recht gebraucht, allenfalls erinnern und ermutigen, das loszulassen, das gelassen losgelassen zu lassen, was schon immer losgelassen sein muss. Und sie können erinnern und ermutigen, loslassend weiter zu existieren im unendlichen Aufschub. Erfüllt von der stillen Trauer, die dem reservativ Existierenden eigentümlich ist, aber doch zugleich unerschütterlich hoffnungsfroh.
725
Alles gut!
Populäre Floskel - wie eine Säge am Ast, auf dem wir sitzen. Wir lassen uns zu Tode ignorieren. Wir ignorieren uns zu Tode.
Populäre Floskel - wie eine Säge am Ast, auf dem wir sitzen. Wir lassen uns zu Tode ignorieren. Wir ignorieren uns zu Tode.
724
Ein Symbol, eine Repräsentation für das, was ich tätiges Warten nenne: Um Isaak als das Verheißene dereinst überhaupt empfangen zu können, musste Abram seiner Frau Sarai bis ins hohe Alter unermüdlich beiwohnen. In biblisch-symbolischer Diktion: Abram musste Sarai bis ins hohe Alter immer wieder aufs Neue erkennen, er durfte darin nicht nachlassen und nicht müde werden. Nur so konnte er die verheißene kommende Wirklichkeit als Möglichkeit überhaupt offen halten.
Nachbemerkung: Merkwürdig – dieser Gedanke und eine Reflexion möglicher Interpretationen ist mir noch in keiner Exegese, auch in keiner Predigt begegnet.
723
Randbemerkung eines mir in seiner Natur und in seiner Suche ähnlichen Menschen: über die Trauer, sich im Beieinandersein seinem Gegenüber überhaupt erklären zu müssen. Symbiotischer Kommunikationsschmerz, der uns die Anerkennung der Differenz des Anderen abnötigt. Symbiotische Naturen sind im Beieinandersein immer leidende und leidend suchende Naturen.
Sonntag, 9. Mai 2021
722
Tätiges Warten. Eine Veränderung der Perspektive mit Folgen, mit Wirkungen. Noch hänge ich in der Perspektive der Tat, muss nun das Warten allererst erlernen. Tätiges Warten ist nicht mehr Gestaltung. Es eröffnet allenfalls noch Räume für mögliche Wirklichkeitsverläufe, für mögliche kommende Weltwirklichkeiten. Und es hält diese Räume dauerhaft offen.
Samstag, 8. Mai 2021
721
Vorhin am Frühstückstisch ein kleiner Disput über die irreführenden Angaben auf Lebensmittelverpackungen. Dazu, so die Aufforderung in meine Richtung, dazu solle ich in meinem Blog mal etwas schreiben. Mein Ausweichmanöver: Das sei nicht unmittelbar Gegenstand meines Denkens. Liebevoll-spitze Entgegnung unserer jüngsten Tochter: Irgendeine Parallele zum Leben wirst Du da schon herstellen können.
Ohne einen qualitativen Vergleich auch nur andeuten zu wollen: Hätten Kant oder Hegel regelmäßig an meinem Frühstückstisch gesessen – ihre Namen wären erst gar nicht ins Bewusstsein des abendländischen Denkens vorgedrungen.
Sonntag, 2. Mai 2021
720
Was mir in diesen Stunden, auf den Tag genau 16 Jahre nach jenem Ereignis, das mein Denken gewendet hat, noch einmal schmerzlich vor Augen steht: Auf die reservativen Ent-Täuschungen muss man sich tatsächlich existenziell einlassen wollen. Sonst endet die Entängstigungsreise, bevor sie überhaupt begonnen hat.
719
Tätiges Warten – eine dritte Wahrnehmung (zu Nr. 708): Ins Warten hineingeworfen, muss ich mich mehr denn je der Angst, meinen Ängsten stellen. Gefordert ist damit nicht mehr so sehr eine interpretatorische Arbeit am Äußeren, an der Praxis, am Politischen. Gefordert ist vielmehr eine interpretatorische Arbeit am Inneren, am Inwendigen, am Hinter- und Untergründigen.
Reservative Entängstigung – das ist die Aufgabe in der Stunde des Wartens. Ich bin dankbar, dass ich mich dieser Aufgabe reservativ aufgeklärt und stabilisiert annähern kann. Meine Vermutung: Diese Aufgabe bedarf in meinem Falle unmittelbarer, offener Begegnung. Und: Nicht alles, was sich in der Begegnung entdeckt, wird sich vermitteln lassen. Aber das wird sich ergeben. Oder auch nicht.
718
Eines dieser tröstlich-erdenden Selbstvergewisserungsgespräche mit einem lieben mitdenkenden Freund. Hilfreiche Erinnerung, die meine gerade beginnende innere Bewegung weiter ermutigt: Unser Denken und seine Wirkungen sind immer eingebettet in große Kulturbedingungen.
Das Paradox unserer gegenwärtigen Bedingungen ist dieses: Die Wirkung unseres Denkens wird umso kraftvoller und größer, je begrenzter, unmittelbarer, intimer es sich äußern kann. Unser Denken muss nahe sein, nicht öffentlich. Dann kann es über uns selbst hinaus Wirkung entfalten.
Samstag, 1. Mai 2021
717
Ein bewegendes Ereignis vor einigen Tagen fordert eine Neuakzentuierung in der Ausformulierung meines Denkens. Bislang habe ich hier im Blog, nicht zuletzt der Konzentration auf die (politische) Tat geschuldet, vor allem die Frage der Macht umkreist, die Frage nach einer nicht mehr repräsentativen Entmachtung des Wirklichen, nach einer nicht mehr repräsentativen Vorstellung und Praxis von Macht im Wirklichen. Erschreckend selten habe ich mich jedoch dem gestellt, was dem Denken der Macht eigentlich vorgelagert sein muss: dem Denken der Angst, dem Denken dessen, was uns in die repräsentative Selbstermächtigung in ihren schillernden Erscheinungsformen allererst hineintreibt. Das reservative Bedenken dieser Angst ist hier bislang kaum präsent. Damit zugleich auch das Bedenken einer nicht mehr repräsentativen Entängstigung. Und dies, wo doch der reservative Zugang zur Wirklichkeit nicht weniger und vor allem dies ist: das Ende der Angst im Wirklichen. Beschämend.
716
Dass wir unseren Weg gewählt haben und ihn gehen, bedeutet nicht zugleich, dass wir Frieden gefunden hätten oder jemals finden könnten über den in unserer Wahl ausgeschlossenen Alternativen – den vergangenen, gegenwärtigen und noch kommenden. Das unterscheidet unsere Wahl von der Zuflucht unter ein Prinzip.
715
Vorsicht Verwechslungsgefahr: Permanenz des Ereignisses hier, Universalisierung des Ereignisses dort. Hier die Bewegung, dort die Gerinnung. Hier das Leben, dort der Tod.