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Dienstag, 31. Mai 2016

90

Der Glaube als ob nicht glaubt nicht im eigentlichen Sinne an jemanden oder an etwas, also nicht an eine Person, an eine Tat oder an eine Wahrheit. Der Glaube als ob nicht glaubt vielmehr ein bestimmtes Wirklichkeitsverhältnis: ein Ungültigkeitsverhältnis von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit. Er glaubt, dass die vernehmbare Weltwirklichkeit in der nicht vernehmbaren Gotteswirklichkeit aufgehoben und überwunden, also verungültigt ist.

89

Vergebung meint, das, was andere mir nach den Gesetzen der Weltwirklichkeit schulden, so anzuschauen, als würden sie es mir nicht schulden, die Ansprüche, die ich nach den Gesetzen der Weltwirklichkeit gegen andere geltend machen kann, so zu interpretieren, als wären sie nicht. "Siebzigmal siebenmal" (Mt 18,22) meint also nichts anderes als: ungültig.

Montag, 30. Mai 2016

88

Wenn wir unser Interpretieren und damit zugleich unser Handeln sicher zu gründen versuchen, dann stehen wir vor dem, was Hans Albert „Münchhausen-Trilemma“ nennt.

Sonntag, 29. Mai 2016

87

Ich habe den Untertitel meines Blogs verändert. Aus „Fundstücke messianischen Lebens“ ist „Reservativ denken und leben“ geworden. Einerseits will ich falsche Zuordnungen verhindern. Andererseits will ich mein Profil schärfen, will mich selbst dazu zwingen, mein eigenes Denkprofil zunehmend zu schärfen.

86

Im reformatorischen Glauben, in der reformatorischen Interpretation von Christusereignis und Heiliger Schrift ist gegenüber der römisch-christlichen Repräsentation der Sache selbst im Symbol (mit deutlicher Neigung zur Identifikation) schon viel gewonnen. Allerdings hält das reformatorische Denken gewissermaßen an einer sprachsymbolischen Vermittlung der Sache selbst fest. Reformatorisches Denken bleibt Gleichnis, reformatorischer Glaube bleibt Glaube an etwas, das etwas bewirkt. Die Unmittelbarkeit des Ungültigkeitsglaubens, die ganz eigene und eigenständige Wirklichkeitsuminterpretation des Einzelnen und die darin gewonnene Freiheit, ist noch nicht erreicht. Dieser Unmittelbarkeit nähert sich erst Bonhoeffer an, indem er eine „nicht-religiöse Interpretation der theologischen Begriffe“ oder auch die „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“ zu erproben beginnt.

Samstag, 28. Mai 2016

85

Das nachchristliche Ungültigkeitsdenken überholt und radikalisiert das reformatorische Gnadendenken. Gnade im reformatorischen Sinne ist gratia aliena, eine der Natur des Menschen fremde Gnade, die ihm ohne Mitwirkungsmöglichkeit und ohne Verdienst zugeeignet wird. Wem es gegeben ist, den Sprung hinein in die Ungültigkeitsinterpretation zu wagen, der darf dieses Wagnis durchaus als nullitas aliena verstehen, als Selbst- und Wirklichkeitsverungültigung, die sich ihm ohne seine Mitwirkung und ohne sein Verdienst eröffnet.

84

Darauf zu hoffen, ein Mensch möge es wagen, die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden, als ungültig zu interpretieren, ist vergleichbar mit der Hoffnung, eine 90jährige Frau möge schwanger werden und einen Sohn gebären. Einfach „Isaak“: Lächerlich! Unmöglich!

Freitag, 27. Mai 2016

83

Angenommen, jemand plant ein Fest und sendet einen Boten, der das Fest ankündigt und dazu einlädt. Dann ist das Fest selbst nicht von Ankündigung und Einladung abhängig – man wüsste nur nicht ohne weiteres davon. Und das Fest hängt auch nicht am Boten. Der Bote ist nicht der Ausrichter des Festes. Und er ist schon gar nicht derjenige, der die Teilnahme am Fest allererst möglich macht.

Donnerstag, 26. Mai 2016

82

Giorgio Agamben grenzt in seinem Römerbrief-Kommentar das paulinische als ob nicht zu Recht ab von der Als-ob-Störung eines Borderline-Patienten. Nicht-pathologische Als-ob-Störungen lassen sich durchaus in christlich-religiösen Kontexten beobachten. Da wird nicht selten individuell oder kollektiv eine fromme Scheinwelt entworfen, in der sich die erheblichen Herausforderungen der Weltwirklichkeit gut ignorieren und massive Persönlichkeitsprobleme gut verbergen lassen. Der paulinisch Glaubende dagegen hat die Sünde, die Strukturen und Mechanismen der Welt, nüchtern durchschaut und nimmt mit seinem als ob nicht den Kampf auf – und dies nicht allein, wie Agamben es annimmt, in politischer, sondern in ontologischer und existenzialer Dimension. Paulus geht es nicht (bloß) um politische Freiheit, sondern um Freiheit von sich selbst und der Weltwirklichkeit überhaupt.

Mittwoch, 25. Mai 2016

81

Der christlichen Religion sind die verlässlichen historischen Tatsachen und die glaubwürdigen (Offenbarungs-) Quellen abhanden gekommen – und das Christentum selbst hat erheblich zu diesem Verlust beigetragen. Den christlichen Glauben und das christliche Leben auf Tatsachen und Quellen zu stützen, ist heute allein noch jenen möglich, die sich in eine Art Schein- oder Parallelwelt zurückziehen, dort Schutz suchen vor der tatsächlichen Welt und sich an ein als ob hängen, das sie selbst für wirklich halten. Dieser Rückzug ist ein allzu verständlicher „Verzweiflungsschritt“, eine Art „salto mortale zurück ins Mittelalter“, der allerdings allein erkauft werden kann „mit dem Opfer der intellektuellen Redlichkeit“ (Bonhoeffer).

Dienstag, 24. Mai 2016

80

Das Christentum als Religion hängt seinen Glauben an zahlreiche Ereignisse und Wahrnehmungen. Zentralanker des Glaubens ist das christlich interpretierte messianische Ereignis: die Vergegenwärtigung Gottes im Inkarnationsgeschehen, die Entlassung des Menschen aus seinem Schuldverhältnis im Kreuzesgeschehen, die Befreiung des Menschen zu einer neuen Identität im Auferstehungsgeschehen. Das messianische Ereignis wird interpretiert als wirklichkeitstransformierender Erlösungs- und Heilsakt Gottes. Durch diesen Akt sollen sich Sein und Existenz, Welt und Mensch historisch nachvollziehbar verändern. Zweifelsfrei bezeugt, begründet und ausgelegt wird das messianische Ereignis in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Die Heilige Schrift gilt dem Christen als offenbartes Wort Gottes. Diesem Wort zu vertrauen, ihm Sein und Existenz zu unterwerfen und es als göttliche Wahrheit zu bezeugen, setzt wirklichkeitstransformierende Kräfte frei.

Montag, 23. Mai 2016

79

Sein und Existenz sind wie Gras, und ihre Gültigkeiten sind wie eine Blume auf dem Feld. Das Gras verdorrt und die Blume verwelkt (Jes 40,6). Ich selbst zehre daher eher von Erinnerungen an Wirklichkeitswahrnehmungen, als von den Wahrnehmung selbst. Als Erinnerung erscheinen Wahrnehmungen verklärt und permanent. Doch auch unsere Erinnerungen sind natürlich ein Haschen nach Wind (Koh 1,14). Sie verdorren und verwelken. Wie tröstlich. Selbst jene Erinnerungen, die sich beim besten Willen nicht verklären lassen und deren Permanenz uns belastet, können wir anschauen, als wären sie Nichts.

Donnerstag, 12. Mai 2016

78

Dem paulinischen Wagnis des Glaubens geht keine substanzielle Veränderung des Glaubenden voraus. Auch macht der Glaube keinen anderen oder gar neuen Menschen. Der Glaubende ist und bleibt so, wie er ist: gottlos, Sünder und insofern ganzheitlich in den tödlichen Mechanismus des Todes integriert.

Mittwoch, 11. Mai 2016

77

Paulinischer Glaube ist der Versuch, unsere Wirklichkeitsinterpretation von links auf rechts zu drehen: Paulus begreift die Weltwirklichkeit nicht als einen Ort des Lebens, sondern als einen Ort totaler Gottlosigkeit und insofern als einen Ort des Todes. Die Welt ist Sünde, der Mensch ist Sünder, als solche sind sie tot. Solange die Weltwirklichkeit ist, lässt sich daran nichts ändern. Paulus will aber auch gar nichts ändern. Die Weltwirklichkeit wird in ihrer Gottlosigkeit ohnehin vergehen. Der Tod des Todes ist unvermeidlich. Fraglich ist allein, wie die Weltwirklichkeit im Werden ihres Vergehens zu begreifen und zu handhaben ist.

Dienstag, 10. Mai 2016

76

In der säkularen Moderne haben wir uns daran gewöhnt, allein noch das für wirklich, gültig und relevant zu halten, was wir wahrnehmen oder mit technischen Hilfsmitteln wahrnehmbar machen können. Das Vernommene wird bezeichnet, kategorisiert und in unser Welterklärungsgebäude eingefügt. Soweit es sinnvoll und möglich erscheint, sind wir darum bemüht, das Wirkliche und seine Gültigkeiten (Gesetze) beherrschbar und uns dienstbar zu machen. In dieser Interpretations- und Nutzungsmechanik bleibt kein Raum mehr für eine andere, transzendente, nicht vernehmbare Wirklichkeit, die man Gott nennen und für bedeutsam erklären könnte.

Sonntag, 8. Mai 2016

75

Es ist ausgesprochen irritierend, wie sehr der Mensch geneigt ist, an seinen Wirklichkeitsinterpretationen auch gegen alle Erfahrung festzuhalten. Gerade unter christlich Religiösen lässt sich dieses Phänomen beobachten. Wie Sisyphos, so halten sie ihre Wirklichkeitshoffnungen dem Lauf der Dinge wieder und wieder entgegen. Es gelingt ihnen sogar, das tatsächlich Böse als Gut umzuinterpretieren. Ihr „religiöses Apriori“ (Bonhoeffer) hindert sie daran, sich auf Erfahrung und auf nüchterne Wirklichkeitsdiagnosen einzulassen. Ihr Apriori hindert sie aber vor allem daran, sich auf das einzulassen, was unter paulinischen Interpretationsbedingungen „Glaube“ genannt werden kann. Religiosität, auch in ihrer säkularen Erscheinungsform, ist der Feind des Glaubens.

Samstag, 7. Mai 2016

74

Die heutige Tageslosung: „Ihr werdet am Ende doch sehen, was für ein Unterschied ist zwischen dem Gerechten und dem Gottlosen, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient“ (Mal 3,18). Über viele Jahre habe ich mich gegen alle Erfahrung an derartigen Verheißungen und damit am Gültigkeitsglauben meiner Herkunft festgehalten. Doch begriffen als Gültigkeitsaussage für eine kommende Weltwirklichkeit ist gerade die Ankündigung einer sichtbaren Unterscheidbarkeit von Gottesdienern und Weltdienern schlechtweg falsch.
Interessanterweise ist mein eigener Gültigkeitsglaube ausgerechnet nach der Auseinandersetzung mit dem Buch Maleachi an sein Ende gekommen – mit jenem Buch, dem in der christlichen Bibel das messianische Ereignis unmittelbar folgt.

Freitag, 6. Mai 2016

73

Was die paulinische Uminterpretation der Weltwirklichkeit zumutet und meint, lässt sich halbwegs andeuten mit Hilfe zweier Szenen aus dem ersten Teil der Matrix-Trilogie: der Spoon- und der Dojo-Szene.

Mittwoch, 4. Mai 2016

72

Paulus lässt sich selbstverständlich auch christlich deuten. Wer ihn nachchristlich in Anspruch nehmen will, darf nicht zimperlich sein, muss über viele vermeintlich christliche Formulierungen rücksichtslos hinwegschreiten und erst einmal nur dort verharren, wo Paulus seine alles entscheidenden Uminterpretationen vornimmt. Von hier ausgehend lässt sich möglicherweise der vermeintlich christliche Paulus insgesamt nachchristlich wenden. Mein eigenes nachchristliches Denken verdankt sich vor allem zwei paulinischen Uminterpretationen.

Montag, 2. Mai 2016

71

Im Verlauf der (Selbst-)Transformation des christlichen Gottes geht uns die zweite Dimension verloren, der Zugriff auf eine Interpretationsdimension „jenseits“ des chaotischen Stroms der Wirklichkeitsgeschehnisse. Damit wird uns zugleich die Möglichkeit genommen, auf sichere, unbedingt und allgemein gültige Wahrheiten des Denkens und Handelns zurückzugreifen und diese als Folie über die verwirrende Weltwirklichkeit zu legen. Die Weltwirklichkeit verliert ihren allgemeinen Sinn und lässt sich auch nicht mehr diesem Sinn gemäß anordnen. Gott hat seinen Platz geräumt.

Sonntag, 1. Mai 2016

70

Kaum eine (pseudo-)paulinische Denkfigur hat mich in den vergangenen Jahren mehr beschäftigt, als das kryptische Zu- und Ineinandern von Katechon (Aufhalter), Anomie (Gesetzlosigkeit) und Anomos (Gesetzloser) in 2 Thess 2,6–8. In Giorgio Agambens Römerbriefkommentar findet sich der spannende Hinweis, Katechon und Anomos könnten sich nach der letzten Entschleierung möglicherweise als ein und dieselbe Macht erwiesen haben. Das Geheimnis der Gesetzlosigkeit läge dann darin, dass der, der zunächst aufzuhalten scheint, indem er als Gesetz und Gerechtigkeit auftritt, zuletzt als der enthüllt wird, der dem Gesetz und der Gerechtigkeit des Messias zutiefst zuwider ist, der sich (selbst an diese Lüge glaubend) machtvoll und eindrücklich an die Stelle des Messias setzt, durch die „Erscheinung seiner Ankunft“ und durch den „Hauch seines Mundes“ jedoch beseitigt und vernichtet wird. Mittlerweile meine ich sagen zu müssen, dass mit Katechon und Anomos nichts anderes gemeint sein kann, als das Christentum selbst.