Sonntag, 24. Juli 2016
145
Hab die öffentliche Auffindbarkeit des Blogs erst einmal wieder zurückgenommen. Weiß gerade noch nicht so recht, wie es hier weitergehen kann. Muss einiges über- und weiterdenken.
Freitag, 22. Juli 2016
144
Der Weg in ein nicht-repräsentatives, nicht-materialistisches Leben und Zusammenleben ist ein Holzweg im Sinne Heideggers: „Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege“. Den Holzweg der Reservation hat schon einmal jemand beschritten, aber das ist lange her. Der Weg ist anstrengend, einsam, beängstigend. Doch „er führt zu den Quellen“ (Heidegger). Nicht zu Quellen von Sein und Existenz, nicht zu Quellen des Todes, sondern zu Quellen des Aufgehoben- und Überwundenseins von Sein und Existenz, zu Quellen des Lebens.
Donnerstag, 21. Juli 2016
143
Mündigkeit und Autonomie sind Ideale, denen keine Wirklichkeit je entsprechen wird. Nur wenige sind zur Freiheit begabt und willens. Die große Mehrheit funktioniert – gesteuert durch Reize und Regeln, die sie mit Freiheit verwechselt.
142
Auf die Einträge seit Februar zurückblickend, habe ich den Eindruck, bislang lediglich Fragmente einer unvollständigen Einleitung formuliert zu haben. Aber immerhin. Was nun folgen müsste, wäre die Existenzialisierung und Politisierung eines reservativ interpretierten Evangeliums. Was mir allerdings dazu fehlt, ist die Gelegenheit. Oder ein wenig dramatischer: Dem steht meine Existenz gegenwärtig im Wege.
Mittwoch, 20. Juli 2016
141
„Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen“ (Bonhoeffer). Das meint reservative Freiheit: sich der Wirklichkeit nicht mehr durch Flucht in alternative, mögliche Wirklichkeiten entziehen müssen, sondern sich der Wirklichkeit aufhebend und überwindend, praktisch verungültigend stellen können.
140
Nachtrag zu 138: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein“ (Luther). Das ist richtig, kann aber zugleich in die Irre führen. Richtig ist: Luther zerreißt mit diesem Satz das in der christlichen Tradition geknüpfte seinsanalogische Band zwischen Gott und Mensch. Gott ist Gott, Mensch ist Mensch.
Dienstag, 19. Juli 2016
139
Eine nach-säkulare, nun wieder integrative Interpretation von Wirklichkeit, die nicht zurückfällt in die repräsentative Mechanik von Religion und Metaphysik, die aber auch nicht die reformatorische Spaltung Gottes aufleben lässt, findet sich heute weniger im deutschen Denken - eher in der französischen und italienischen Philosophie, hier insbesondere in jenem philosophischen Paulinismus der vergangenen zwei Jahrzehnte, der sich im Milieu jüdischen Denkens nach Auschwitz zu entwickeln beginnt. Was diesen Paulinismus allerdings daran hindert, eine postsäkulare (politische) Perspektive zu öffnen, ist sein strikter Materialismus, dann aber auch sein innerwirklicher Messianismus, der Letztes ins Vorletzte hineinzuziehen versucht und damit auf kommende Weltwirklichkeiten setzt, die im Weltwirklichen nie wirklich werden.
Montag, 18. Juli 2016
138
Was mich gerade noch einmal und verschärft beschäftigt: Was, wenn unsere Natur als Wirklichkeit so massiv Geltung beansprucht, dass wir im als ob nicht keinen Frieden mehr finden, dass wir uns keine reservative Distanz mehr verschaffen können zur Wirklichkeit unserer Natur? Was, wenn wir nicht mehr in der Freiheit zur Ruhe kommen können, wenn wir nicht mehr anders können, als nach Himmel und Erde zu fragen (Ps 73,25), und wenn uns gerade diese Frage aus dem Stand des Rufs herausreißen will (1 Kor 7,20)?
Donnerstag, 14. Juli 2016
137
Ich selbst verstehe Postsäkularität gewissermaßen als normativen Epochenbegriff – als eine der Wirklichkeitsentwicklung entnommene Aufforderung, interpretatorisch und praktisch in eine Epoche des Übergangs vorzudringen.
Mittwoch, 13. Juli 2016
136
Die Zeit scheint sich heute zu stauchen, und so ist es fast schon eine sportliche Angelegenheit geworden, in immer kürzeren Abständen neue Zeiten auszurufen und für die jeweils neue Zeit einen geeigneten Begriff zu erfinden. Epochen währen nicht mehr Jahrhunderte, sondern bestenfalls noch Jahrzehnte. Die spätmoderne Epochenbezeichnungs-Olympiade hat etwas Lächerliches, ist aber auch deutliches Symptom für unsere immer hilfloser werdenden Versuche, der rasanten Wirklichkeitsentwicklung verstehend hinterher- und beizukommen.
Dienstag, 12. Juli 2016
135
Nach den Wendejahren 1945 und 1989 setzt sich das politische Projekt der Moderne in einer durch die Wirklichkeitsentwicklung weiter aufgeklärten Fassung zunehmend durch. Der säkulare Rechtsstaat und die liberal-demokratische Regierungstechnik werden zum globalen politischen Ideal.
Montag, 11. Juli 2016
134
Wem es möglich ist, Ungültigkeitsglaube und Ungültigkeitsinterpretation links liegen zu lassen, der möge beides tatsächlich weiträumig umfahren. Es ist eines, diesen Glauben und diese Interpretation zu initiieren und dann rasch abzutreten. Etwas anderes ist es, diesen Glauben und diese Interpretation in unserer Gegenwart leben zu müssen, ein ganzes Menschenleben lang reservativ denkend und handelnd auszuharren. Der reformatorische Glaube hat etwas Bitteres, sagt Jochen Klepper. Reservativer Glaube ist auch in dieser Hinsicht Verschärfung und Vollendung der Reformation.
Calvin hat den reformatorisch Glaubenden in Frankreich stets empfohlen, auch unter Verfolgung in ihrem jeweiligen Stand zu bleiben und um des Messias willen zu leiden. Wem die Kraft nicht gegeben war, dieser Empfehlung zu folgen, dem hat Calvin jedoch den Exodus eröffnet. Wohl dem, der den Exodus wählen darf.
Samstag, 9. Juli 2016
133
Die säkulare Moderne nimmt den sichtbaren, den zwar transzendenten, durch Reflexion und Erfahrung jedoch zugänglichen Gott endgültig aus dem politischen Spiel. An seine Stelle treten Mensch und Menschliches als neue sichtbare Götter, als vermeintlich sichere Gründe und als vermeintlich sichere Verheißungen des Politischen.
Freitag, 8. Juli 2016
132
Deutschland ist gegen Frankreich im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft ausgeschieden. Schade eigentlich. Mehr aber auch nicht. Als kleiner Junge habe ich bei Spielen der Nationalmannschaft – es war die Zeit von Rainer Bonhof, Manfred Kaltz, Klaus Fischer und Karl-Heinz Rummenigge – vor dem Fernseher regelmäßig ganz still für den Sieg gebetet. Und ich war immer tief betroffen, wenn mein Gebet nicht erhört wurde. Gefühlt kam das viel zu oft vor (besonders dramatisch: die Schmach von Córdoba). Das waren meine ersten, noch ganz kindlichen Begegnungen mit dem sichtbaren Gott und seinen leeren Versprechungen. Die späteren Begegnungen waren substanzieller, die inneren Kämpfe wurden härter, aber grundsätzlich waren es stets die gleichen Ent-Täuschungen. Dabei habe ich mich mit dem üblichen religiösen Zirkel – Gott erhört Gebet, und wenn nicht, dann dient es zum Besten – nie anfreunden können.
131
Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft. Die Hymnen werden gespielt. Eine meiner Töchter schüttelt irritiert den Kopf. „Was ich nicht verstehe“, sagt sie, „wie kann irgendjemand zu einen beliebigen Stückchen Land sagen: ‚Das gehört mir‘?“
Donnerstag, 7. Juli 2016
130
Die Reformation lässt sich als Versuch interpretieren, den unsichtbar werdenden, den in die Unsichtbarkeit verdrängten, den in die Unsichtbarkeit sich zurückziehenden Gott in der Weltwirklichkeit irgendwie im Spiel zu halten.
129
Ich kenne nicht wenige religiöse Menschen, die ihrem Gott ernsthaft treu sein wollen, die ihre Existenz ganz an ihren Gott hängen. Alles, was von diesem Gott abbringen will, wird als Zweifel verbucht, den es zu besiegen gilt. Und nach dem Sieg, so die Hoffnung, wird die existenzielle Bindung an Gott umso fester.
Mittwoch, 6. Juli 2016
128
Habe noch einmal Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ zur Hand genommen. Dieses Buch war für mich zu Beginn des Studiums der Eintritt in eine neue aufregende Interpretationswelt. Gleichzeitig ereignet sich der Austritt aus der alten: durch die Begegnung mit Charles Haddon Spurgeons Kampf gegen die Arminianer und durch die Auseinandersetzung mit Max Webers Deutung der calvinistischen Prädestinationslehre als rationale Lösung der Theodizee. Nietzsche einerseits, Spurgeon und Weber andererseits, durch Spurgeon und Weber dann vor allem auch Calvin – für mich eine explosive Mischung, die rückblickend wesentlich zur Dekonstruktion repräsentativer Denk- und Lebensmuster beigetragen hat.
127
Lassen sich Kulturen wenden? Nein. Aber Kulturen wenden sich. Dekonstruktion ereignet sich. Dekonstruktion geschieht, nicht zuletzt im Gang des jeweiligen Sprachspiels. Wer hätte ahnen können, dass dem christlichen Sprachspiel und der mit ihm gegebenen Kultur die Säkularität, zuletzt der Nihilismus innewohnen? Vielleicht werden sich künftige Generationen rückblickend darüber wundern, wie man überhaupt repräsentativ denken und handeln konnte.
126
In postsäkularer Zeit bedarf es keiner (erneuten) Auseinandersetzung zwischen säkularen und religiösen Interpretationen. Es bedarf einer (neuen) Auseinandersetzung zwischen repräsentativen und reservativen Interpretationen. Wir müssen die Repräsentationen hinter uns lassen. Und in der Frage der Repräsentation sind sich Säkulare und Religiöse grundsätzlich einig. Hier kämpfen sie an der gleichen Front. Beide gilt es reservativ zu überwinden.
125
Religiöse Menschen sind nicht so, wie sie sind, weil sie religiös sind. Sie sind vielmehr religiös, weil sie so sind, wie sie sind. Sie sind religiös, weil sie ein Dach und eine Couch brauchen. Einen Ort der Sicherheit und einen Ort der Ruhe für Interpretation und Praxis. Gleiches gilt für Metaphysiker.
Dienstag, 5. Juli 2016
124
„Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung, jedem Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespenst“ (Derrida). Jeder Schließung, jeder sich ereignenden (Ent-)Schließung, jedem Schließungs-Ereignis wohnen zahllose Öffnungen wie Gespenster inne, wie wesentliche Gespenster. Wirklichkeit ist nichts für Feiglinge.
Montag, 4. Juli 2016
123
Wenn wir global weder auf eine „Universaldespotie“ (Kant) noch auf einen Zustand des Krieges aller gegen alle zusteuern wollen (wobei das eine das andere zur Folge haben kann), dann werden wir in postsäkularer Zeit wohl eine veränderte Einheit von Wirklichkeitsinterpretation und Macht, von Glaube und Politik vorbereiten müssen. Erste Aufgabe wird es sein, die Gründung von Politik und politischer Gemeinschaft auf Gültigkeiten, gleichzeitig die Vorstellung von Politik und politischer Gemeinschaft als Repräsentation von Gültigkeiten zu überwinden. Zur Begründung einige vorläufige Andeutungen.
Freitag, 1. Juli 2016
122
Eine Juristin hat kürzlich einen meiner politisch-theologischen Texte besprochen. Mein Beitrag sei „poetisch-paränetisch“ und mache aus „juristischer Sicht […] ein wenig ratlos“. Nun ja. Es ist wohl so, dass jeder halbwegs pointiert formulierte politisch-theologische Text einem Juristen poetisch und paränetisch erscheinen muss. Ratlos macht mein Beitrag die Rezensentin wohl zunächst deshalb, weil er sich nicht mit den üblichen juristischen Prüfschemata fassen lässt. Vielleicht ist jedoch noch mehr geahnt: dass meine Politische Theologie, würde sie tatsächlich wirklichkeitsrelevant, das Ende der Juristenherrschaft einläuten würde.