Freitag, 20. Juni 2025
1154
Selbsterinnerung: Im als ob nicht existierend hat man immer zwei Überzeugungen zugleich – eine mittelbare und vermittelbare Überzeugung als ob, zugleich eine unmittelbare und unvermittelbare Überzeugung als ob nicht. Die messianische Kunst: Das Vermittelbare zum innerwirklichen Zwecke des Unvermittelbaren zu gebrauchen (siehe Nr. 158, 182, 462, 624).
Donnerstag, 19. Juni 2025
1153
Eine weitere Perspektive auf die bevorstehende Aufgabe: aus Überzeugung die Lehre von der Überzeugung lösen. Erkenntnis wissentlich vorenthalten. Willentlich hinter das Bekenntnis zurücktreten. Strukturell habe ich diesen Ansatz bereits in meiner Dissertation vertreten – als Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit der reformatorischen politischen Theologie. Es konkretisiert sich hier eine spezifische Variante des Zwei-Reiche-Gedankens. Auch eine erneuerte, messianische Arkandisziplin (zu Nr. 1149, dazu auch Nr. 85, 464).
1152
Wer sich mit Kurt Flasch in der Philosophie, in der philosophischen Theologie des Mittelalters orientiert, der wird nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die jeweilige Metaphysik, wie sehr gerade auch der jeweilige Gottesentwurf abhängig ist von Kontext, Prägung und Interesse. Man könnte auch sagen: Wir entwerfen uns (zumeist unbewusst) in unserer Zeit immer den Gott, der uns gemäß und der uns nützlich ist. Passt dieser Gott nicht mehr in die Zeit, ist er uns nicht mehr gemäß oder nützlich, so ist er nicht mehr haltbar. Er wird abgeschafft und ersetzt. Auch so gesehen sind unsere philosophischen und theologischen Konzeptionen nie Wahrheit, sondern immer bloß Symptom. Entsprechend gibt es über die Zeit keinen Fortschritt in der Wahrheit, sondern lediglich eine Veränderung in der Symptomatik.
Sonntag, 15. Juni 2025
1151
Die Lektüren zur Philosophie des Mittelalters sind hier und da noch einmal erhellend – nicht zuletzt auch die Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie William von Ockhams. Zugleich – auch im Blick auf meine kommende Aufgabe – arbeite ich mich ein in das Wirklichkeitsverständnis der modernen Naturwissenschaften, insbesondere in die erkenntnistheoretischen Debatten der Physiker des 20. Jahrhunderts. Auch hier die immer wieder erstaunliche Beobachtung: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. So ist etwa die Kontroverse zwischen Max Planck und Ernst Mach auf verschiedenen Ebenen vergleichbar mit dem Universalienstreit des Hochmittelalters.
Dazu hier nur zwei kurze Gedanken. Zunächst: Es gibt eine deutlich erkennbare Nähe zwischen Mach und Ockham. Über diese mögliche Verbindung ist, soweit ich sehe, in der wissenschaftstheoretischen Literatur noch nicht allzu viel gesagt worden – abgesehen von der offensichtlichen Analogie zwischen den beiden Ökonomieprinzipien.
Dann: Der von Planck vertretene, physikalische Realismus ist kaum weniger fragwürdig als der Universalienrealismus der mittelalterlichen Aristoteliker. Planck behauptet eine von der Wahrnehmung und dem Empfinden des Menschen unabhängige Wirklichkeit, kann aber nicht umhin, sich den Zugang zu dieser Wirklichkeit über an das menschliche Bewusstsein gebundene und insofern davon abhängige Zeichen- oder Symbolsysteme zu verschaffen. Die Behauptung, in diesen Systemen Wirklichkeit zu haben und mit Hilfe dieser Systeme über das Wirkliche etwas Allgemeines und dauerhaft Verbindliches aussagen zu können, ist geradezu eine quasi-religiöse Annahme (im Sinne einer Verlagerung des von Planck bekämpften Wunders in der Physik in die Sprache und ihr Verhältnis zum Wirklichen). Ähnliches gilt für die mit dieser Annahme eng verbundene kosmologische Annahme einer im Wirklichen auffindbaren sicheren, wenngleich quantenphysikalisch relativierten probabilistischen Ordnung.
Dazu hier nur zwei kurze Gedanken. Zunächst: Es gibt eine deutlich erkennbare Nähe zwischen Mach und Ockham. Über diese mögliche Verbindung ist, soweit ich sehe, in der wissenschaftstheoretischen Literatur noch nicht allzu viel gesagt worden – abgesehen von der offensichtlichen Analogie zwischen den beiden Ökonomieprinzipien.
Dann: Der von Planck vertretene, physikalische Realismus ist kaum weniger fragwürdig als der Universalienrealismus der mittelalterlichen Aristoteliker. Planck behauptet eine von der Wahrnehmung und dem Empfinden des Menschen unabhängige Wirklichkeit, kann aber nicht umhin, sich den Zugang zu dieser Wirklichkeit über an das menschliche Bewusstsein gebundene und insofern davon abhängige Zeichen- oder Symbolsysteme zu verschaffen. Die Behauptung, in diesen Systemen Wirklichkeit zu haben und mit Hilfe dieser Systeme über das Wirkliche etwas Allgemeines und dauerhaft Verbindliches aussagen zu können, ist geradezu eine quasi-religiöse Annahme (im Sinne einer Verlagerung des von Planck bekämpften Wunders in der Physik in die Sprache und ihr Verhältnis zum Wirklichen). Ähnliches gilt für die mit dieser Annahme eng verbundene kosmologische Annahme einer im Wirklichen auffindbaren sicheren, wenngleich quantenphysikalisch relativierten probabilistischen Ordnung.
Anmerkung: Gerade auch in der Erkenntnistheorie deutet Whitehead mit seiner überzogenen Verallgemeinerung durchaus in die richtige Richtung: „The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.“ Nach wie vor arbeiten wir uns im Westen an Platon und Aristoteles ab.
Samstag, 14. Juni 2025
1150
Nominalismus geht und führt dann in die Irre, wenn er in Konstruktivismus umschlägt.
Freitag, 6. Juni 2025
1149
Es steht ein wohl letzter beruflicher Wechsel bevor. Noch einmal und im Umfang deutlich ausgeweitet werde ich in der Lehre gefordert sein. Noch einmal und schärfer noch als bisher stehe ich damit vor der Frage, was ich überhaupt (noch) zu sagen habe, was ich überhaupt (noch) sagen kann. Was kann ich, der sich mit guten Gründen zunehmend zum Schweigen genötigt sieht, Menschen sagen, die mit guten Gründen von mir vor allem dies erwarten werden: eine überzeugende normativ-praktische Klarheit?
Sonntag, 1. Juni 2025
1148
Wenn Appelle notwendig erscheinen, dann ist es regelmäßig bereits zu spät.
1147
Ich setzte mich derzeit noch einmal dem Anspruch der Kenosis aus. Selbstentleerung ist die Bedingung der messianischen Praxis des als ob nicht – dies nicht im Sinne der Vorbereitung auf ein Neues, auf ein anderes Substanzielles, sondern im Sinne der Bedingung messianischer Daseinsfähigkeit überhaupt.
1146
Die mittelalterlichen (augustinischen) Vorbehalte gegenüber dem allzu großen Interesse am Natürlichen, am Empirischen: darin enthalten eine noch falsch begründete, aber dennoch bereits treffende Ahnung von der Wirklichkeitsgefangenschaft, in die man sich verstricken kann, von dem Verlust jeder Freiheitssicherung.
1145
Die Sehnsucht nach Wundern, das Streben nach Weisheit: Ausdruck der Unfähigkeit oder des Unwillens, einfach in der Welt, einfach da zu sein.
Donnerstag, 29. Mai 2025
1144
Alles, was aus Glauben wirklich werden kann, ist im Grunde genommen nichts anderes und nicht mehr, als das wirklich Mögliche. Das wirklich Mögliche ist gewissermaßen die natürliche Grenze des aus Glauben Möglichen. Der praktische Glaube tut gut daran, diese Grenze zu achten und zu wahren. Es ist unklug und destruktiv, glaubend unablässig gegen die wirklich gesetzte Grenze vorzugehen. Wir sollen (dürfen) schließlich Menschen sein – und nicht Gott (Luther).
Samstag, 17. Mai 2025
1143
Gestern einen Podcast gehört zu religiösen Phänomenen im Raum der Sozialen Medien. Dabei noch einmal die inzwischen übliche Beobachtung: Es wird gewertet, ohne zuvor verstehen zu wollen. Dahinter verbirgt sich auch eine strategische Selbstentlastung. Die verständnislose Bewertung anderer entbindet zugleich von der Verpflichtung zur Selbstverständigung, von der Forderung, zunächst seine eigenen Wertungen verstehen zu lernen, sich also auch kritisch von sich selbst zu distanzieren.
Donnerstag, 15. Mai 2025
1142
Die Klugheit des Toren reicht selten aus, um die eigene Torheit zu erkennen oder gar anzuerkennen. Auch deshalb ist die Torheit gefährlicher als die Bosheit (Bonhoeffer). Man kann bewusst böse, aber nicht bewusst töricht sein. Die bewusste Bosheit ist halbwegs berechenbar, die unbewusste Torheit dagegen nicht.
1141
Wer wollend die Regeln bricht, der ist ungeschickt. Wer will, was die Regeln wollen, der will nichts. Wer wollend von Regeln Gebrauch macht, der ist weise.
Sonntag, 11. Mai 2025
1140
Man muss sich selbst unablässig wohlwollend misstrauen: Es kann durchaus sein, dass wir uns gerade auch durch unsere Leidensbereitschaft der Macht des Wirklichen nicht entziehen sondern ausliefern.
1139
Ein weiterer Versuch der Bestimmung messianischer Existenz in einem Begriff: Daseinswilligkeit.
Samstag, 3. Mai 2025
1138
Auch an Ockham interessiert und beeindruckt mich nicht etwa die vermeintliche oder tatsächliche Wahrheit seines Denkens oder seiner logischen Sätze. Mich interessiert und beeindruckt, was sich bei Ockham wirklichkeitsinterpretatorisch ereignet, was interpretatorisch vor ihm noch nicht möglich war, was nach ihm interpretatorisch unvermeidlich zu sein scheint.
Die Bedeutung Ockhams kann man schlechtweg nicht überschätzen. Ohne seine Umänderung der Denkart, gerade auch ohne seine Verschiebung der Wahrheit vom Wirklichen in den Satz, ist die kantische Verschiebung der Wahrheit vom Objekt ins Subjekt nicht denkbar. Zuvor auch nicht die reformatorische Reduktion der Wahrheit auf das Wort Gottes, danach auch nicht die moderne Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Wahrheit.
Dabei gilt für Ockham selbstverständlich das, was für vergleichbar wirkungsstarke Denker auch gilt: Ihre tatsächliche Bedeutung und Wirkung haben sie weder absehen noch wollen können.
1137
Im alltäglichen Austausch über Alltägliches beobachte ich in mir einen zunehmenden Unwillen, mein Denken, mein Interpretieren zu benennen, zu erklären, zu begründen. Weil Ungültigkeitsdenken von Gültigkeitsdenkern unvermeidlich missverstanden wird. Es gibt eine messianische Nötigung zur Alltagsschweigsamkeit.
Samstag, 26. April 2025
1136
Der Trost der Philosophie von Boethius: vermeintlich die Selbsterinnerung des trostlos Existierenden an das eigentlich Wirkliche, tatsächlich aber die Flucht des Existierenden vor dem Wirklichen in eine Wirklichkeit als ob. An dieser sich selbst missverstehenden Bewegung ist richtig: Allein ein als ob kann uns trösten, allein ein als ob kann uns retten. Das platonische als ob hat jedoch endgültig ausgedient.
Montag, 21. April 2025
1135
Jenseits der Globalisierung, jenseits der Dominanz des neoliberalen Institutionalismus, erlebt der politische Neorealismus aktuell eine beeindruckende Konjunktur – nicht zuletzt auch in deutschen Talkshow. Die neorealistische Deutung des Politischen und der Politik verweist gerne auf Zahlen, Daten, Fakten, umgibt sich gerne mit einem Pathos der Nüchternheit, lässt jede Idealisierung und Moralisierung politischer Praxis als lächerlich oder gar als gefährlich erscheinen.
Freitag, 18. April 2025
1134
Flüchtig betrachtet, scheint die messianische Erzählung nicht wenig gemein zu haben sowohl mit der marcionitischen als auch mit der manichäischen Erzählung. Für eine geeignete Abgrenzung muss ich mir bei Gelegenheit noch einmal Zeit nehmen.
1133
Nicht so sehr die Wahrheit, vielmehr die Wirkung unseres Denkens muss uns Sorge bereiten.
Donnerstag, 17. April 2025
1132
Wenn Begriffe nichts Wirkliches ausdrücken oder ergreifen können, dann können Sätze nichts Wirkliches darstellen oder zusammenfügen.
Sonntag, 13. April 2025
1131
Nachtrag zu Blumenberg: Rückblickend bin ich nach wie vor dankbar, seinen Texten und Impulsen jeweils zu günstiger Zeit begegnet zu sein. Was mich allerdings von ihm scheidet: In gewissem Sinne treibt ihn noch die Faszination des Denkenden, der sich in Sprache Ausdruck zu verschaffen vermag. Mich dagegen treibt (oder besser: verhindert) die Verzweiflung des Existierenden, dem die Sprache versagt, der sprachlich nicht mehr ausdrücken, sondern allein noch annullieren kann. Ich glaube nicht (mehr) an das Projekt des Denkens und Sprechens, zumindest nicht im Sinne des Vergültigens.
Von Blumenberg ausgehend, ist nun der Rückweg nicht weit zu Ockham. Ich hab noch einmal begonnen, von und über Ockham zu lesen, eingebettet in eine umfassendere Beschäftigung mit dem Denken des sogenannten Mittelalters. Hier lasse ich mich auch noch einmal von Kurt Flasch an die Hand nehmen, den man zwar mit Vorbehalt lesen muss, den man aber immerhin sehr gut lesen kann.
Samstag, 12. April 2025
1130
Indem wir nach Sinn fragen, wehren wir uns gegen das, was wirklich ist. Die Frage nach Sinn ist nicht wirklichkeitsgemäß.
Sonntag, 23. März 2025
1129
Nicht Gott, nicht Allgemein, nicht Selbst, weder heteronom noch autonom sein. Sondern im Angesicht der gegebenen heteronomen und autonomen Bestimmungsgründe, im Rahmen der Möglichkeiten und Grenzen, die von der jeweiligen Natur gesetzt sind, das jeweils Wirkliche durch Tun oder Lassen jeweils angemessen handhaben. Das ist messianische Mündigkeit.
1128
Warum das Denken des Vergültigungsdenkers praktisch scheitern muss: weil es nicht zuletzt auch auf anthropologische Voraussetzungen setzt, die noch nicht einmal beim Denkenden, noch viel weniger aber bei den konkreten Gedachten gegeben sind.
1127
Selbst unser Freiheitsbegriff ist funktional.
Sonntag, 16. März 2025
1126
Messianische Existenz lässt sich vergleichen mit der Existenz des Beifahrers, dem die Wahrnehmungen, Interpretationen, Zwecke und Mittel des Fahrers fremd geworden sind. Mitfahrend fehlt ihm jede Sprachfähigkeit, und immer dann, wenn er wenigstens Anknüpfungspunkte zu setzen und zu nutzen versucht, wird er entweder falsch interpretiert oder unwillig zurückgewiesen. Und während der Fahrt auszusteigen, ist schlechtweg keine Option.
1125
Im Verlauf des vergangenen Jahres habe ich mich stillschweigend vom Begriff des Wartens verabschiedet, damit auch von den für mein Denken so entscheidenden Begriffen des tätigen Wartens und der wartenden Tat. Im Begriff des Wartens ist bereits eine wichtige messianische Differenz angedeutet, und dennoch ist dieser Begriff lediglich ein Hilfsbegriff im interpretatorischen Übergang. In ihm ist die apokalyptische Erregung, zugleich die eschatologische Ungeduld des Christentums und seiner Säkularisate noch allzu sehr konserviert und präsent. Beides ist im reservativen Messianismus aufgegeben, losgelassen. Hier ist jedes Warten durch das abgelöst, was man vielleicht innehaltendes Dasein nennen könnte.
1124
Mit Blumenberg: Es ist etwas anderes, am Anfang oder am Ende eines Weges Ruhe zu finden. Es ist etwas anderes, einen Ruf abzuwarten oder einen solchen erst gar nicht zu erwarten. Der wesentliche Unterschied: Man erntet nicht das Dazwischen, die innere Verwandlung der Interpretation, den Sieg über den inneren Feind, über die Sehnsucht nach Identität. Allein das Abzwecken mündet im Ab-Zwecken. Allein das Abwarten mündet im Ab-Warten.
Samstag, 15. März 2025
1123
Zu Blumenberg eine Beobachtung: ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich im Denken die natürliche Eigentümlichkeit des Denkers spiegelt, dass Denken zuletzt nichts anderes ist als die Legimitation der Eigentümlichkeit des jeweils Denkenden.
1122
Wenn wir für uns in Anspruch nehmen, das Überkommene und Gewohnte überdenken und verlassen zu müssen, dann fordern wir dies ja zugleich auch für jene, die nach uns kommen. Für sie ist das, was wir hinterlassen, das Überkommene, also das, was überdacht und verlassen werden muss. Hoffen können wir lediglich, dass jene, die uns folgen, nicht dem Paradigma des Fortschritts, sondern dem der Entzauberung folgen.
1121
Das Prinzip ist der Feind des Möglichen.
Freitag, 14. März 2025
1120
Ich lese (über) Blumenberg und werde dabei unablässig an Derrida erinnert. Ob die beiden einander gelesen haben, weiß ich nicht. Ihr Denken ist jedoch vergleichbar entgründend. In diesem wie in jenem Denken öffnet sich ein sprachlicher Hiatus, Blumenberg und Derrida öffnen durch Sprache einen Hiatus. Blumenbergs Hiatus unterscheidet sich jedoch fundamental von dem Derridas. Wenn ich diesen Unterschied beschreiben sollte, dann würde ich wohl sagen: Blumenbergs und Derridas Denken und Sprechen folgt je unterschiedlichen Paradigmen. Blumenberg blickt (noch) auf das, was nie (mehr) ankommen kann. Derrida dagegen blickt (schon) auf das, was (noch) im Ankommen begriffen ist. Man könnte vielleicht auch sagen: Zwischen Blumenberg und Derrida kippt das (verbleibende) Metaphysische endgültig ins (vorläufige) Messianische.
1119
Die religiöse (existenzielle) Innenwahrnehmung beobachtet erwartungsloses Vertrauen. Die nicht-religiöse (diagnostische) Außenwahrnehmung beobachtet Fatalismus.
Donnerstag, 13. März 2025
1118
Gegen Blumenberg: Selbstbehauptung, in welcher Form auch immer sie gedacht wird oder in Erscheinung tritt, ist nicht Wirklichkeitsdistanzierung. Als Gültigkeit, als Gültigkeitsbehauptung ist Blumenbergs Selbstbehauptung selbst Wirklichkeit, ist sie eine Erscheinungsform des Wirklichen. Mit den vor allem sprachlichen Mitteln, die Blumenberg bereitstellt, ist es nicht möglich, sich dem Absolutismus des Wirklichen zu entziehen oder sich gar über das Wirkliche zu erheben.
1117
Kürzlich wurde ich nach meiner Stärke gefragt, nach dem, worin ich besonders gut sei. Wenn ich hier überhaupt etwas zu benennen bereit wäre, dann würde ich wohl sagen: Meine Stärke liegt im Ausharren, im Verharren, im Dasein – und dies ausdrücklich im messianischen Sinne. Diese Stärke ist keine Eigenschaft, schon gar keine Gabe. Es ist ein durch unausgesetzte messianische Interpretation und Erinnerung angeeignetes, wenngleich immer auch brüchiges Können.
Mittwoch, 5. März 2025
1116
Die hellenische Wirklichkeitsdistanzierung, damit zugleich die christliche, ist eine andere als die messianische. Die eine ist geboren aus dem erstaunten Bemühen, das als harmonische Einheit wahr- und angenommene Wirkliche zu durchschauen, es zu rationalisieren, ihm zu entsprechen oder gar sich seiner zu bemächtigen. Die andere ist geboren aus dem ernüchterten Bemühen, sich dem als fragmentierte Differenz wahr- und angenommenen Wirklichen zu entziehen, ihm nicht mehr zu entsprechen, seine Bemächtigung zu durchbrechen.
1115
Wer seine eigene Erzählung nicht kennt, wem überdies gleichgültig ist, wie diese Erzählung geworden ist, der darf sich nicht wundern, wenn er sich selbst nicht oder falsch versteht.
Sonntag, 2. März 2025
1114
Was als Freiheit bezeichnet werden könnte: ein Wille ohne Geschichte.
Samstag, 1. März 2025
1113
Die Frage nach dem Selbstverständnis ist Symptom für das fragwürdig gewordene Selbstverständliche (Blumenberg).
Donnerstag, 27. Februar 2025
1112
Verantwortlich sein heißt: unablässig angemessene praktische Antworten zu geben auf die normativen Zumutungen, denen uns unser Bewusstsein angesichts des jeweils Wirklichen aussetzt.
Samstag, 1. Februar 2025
1111
In der wirklichen Demokratie wird die Willkür des absolutistischen Herrschers nicht etwa durch die Bestimmtheit eines volonté générale, sondern vielmehr durch die Kontingenz wechselnder Mehrheiten abgelöst. Diese Kontingenz lässt sich in Massendemokratien allein noch kanalisieren und begrenzen durch dauerhaft stabile Institutionen und Verfahren. Kaum ein anderer hat dies in den vergangenen Jahrzehnten so klar gesehen und vertreten wie Habermas. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Habermas das Phänomen der Sozialen Medien mit wachsender Sorge, mittlerweile geradezu resigniert beobachtet. Soziale Medien untergraben gegenwärtig die Stabilität von Institutionen und Verfahren erfolgreicher und rücksichtsloser als andere Mächte. Sie sind so gesehen nicht etwa höchste Form der Demokratie, sie sind vielmehr das Ende jener Formen, auf die Demokratie um ihres Überlebens willen angewiesen ist (siehe auch Nr. 969).
Anmerkung: Wir werden früher oder später nicht umhin können, unsere Massendemokratien strukturell umzubauen. Immer, wenn ich angesichts dieser Annahme damit beginne, eine mögliche Vorstellung zu entwickeln, steht mir Calvin vor Augen. Er hält jene Regierungsform für die glücklichste, in der aristokratische und volksherrschaftliche Elemente miteinander verbunden sind. Das ist ein durchaus kluger Gedanke. Ob er sich allerdings auch in modernen Massendemokratien realisieren lässt, steht dahin.
1110
Demagogen und Propagandisten reduzieren Komplexität und verknüpfen das Reduzierte zu schlichten, eingängigen Erzählungen. So verführen und bewegen sie Massen. Ganz ähnlich agieren heute die Sozialen Medien als System. Als unpersönliche Mächte sind sie die Demagogen und Propagandisten unserer Gegenwart.
1109
Mitten in der deutschen Brandmauer-Erregtheit der vergangenen Tage noch einmal zwei sympathischen Vorstellungen Blumenbergs begegnet: Bildung zielt wesentlich auf Unverführbarkeit, und Weltbildverzicht ist Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Bildung und Verzicht in diesem Sinne sind selten geworden, gerade auch im politischen Deutschland.
Sonntag, 26. Januar 2025
1108
Noch einmal in aller Schärfe: In priesterlicher Verstrickung lässt sich nur schwer prophetisch reden, noch viel schwerer prophetisch leben. Wo immer möglich, gilt es daher, sich dem Priesterlichen in seinen religiösen und säkularen Erscheinungsformen zu entziehen.
1107
All unser Interpretieren strebt ins System. Damit befriedigt es einerseits das Bedürfnis unseres Bewusstseins nach sicherer Heimstatt, andererseits entfernt es sich so zugleich von dem, was wirklich ist, wird wirklichkeitsungemäß.
1106
Blumenberg schreibt einem Freund, sein Programm sei es, Freiheit um sich zu verbreiten. Eine Absicht des Denkens, der ich mich vorbehaltlos anschließen kann – wenn auch in ganz anderem Sinne.
Freitag, 24. Januar 2025
1105
Was kann man einer repräsentativen Politik unter Bedingungen der Sesshaftigkeit messianisch raten? Vielleicht dieses: Reduktion jeder Selbstbehauptung auf das geringstmögliche Maß, Absicherung der so reduzierten Selbstbehauptung durch glaubhafte und verlässliche Robustheit.
1104
Ob Paulus wohl gewollt hätte, dass seine Briefe aufgehoben, gemeinsam mit anderen Texten zwischen zwei Buchdeckel gebunden und als offenbartes Gotteswort begriffen werden?
1103
Der Zirkel des religiösen Gebets: Wird dem Beter das Erbetene zuteil, so darf er sich freuen und dankbar sein – sein Gebet war offenbar dem göttlichen Willen gemäß. Wird dem Beter dagegen das Erbetene verweigert, so darf er sich dennoch freuen und dankbar sein – auch gegen seinen Willen ist der göttliche Wille jedenfalls der Bessere. Im Angesicht dieses Zirkels fragt der religiös unmusikalische Beobachter (und dies nicht ohne Grund): zu welchem Zweck dann eigentlich noch beten?
Dienstag, 21. Januar 2025
1101
Im Wirklichen keinen Ort, keinen Raum zu haben – das ist die schlechthinnige messianische Erfahrung. Nun kommt es darauf an, diese Erfahrung auch messianisch zu interpretieren und damit zu wenden. Als Erfahrung der Befreiung vom Wirklichen für das Wirkliche.
1100
Jeder Begriff, mit dem wir etwas Wirkliches zu begreifen versuchen, ist eine Fiktion. So gibt es etwa das, was wir Arm nennen gar nicht. Es gibt, wenn man so will, allenfalls den Arm einer konkreten Person. Aber selbst diesen gibt es streng genommen nicht. Denn je genauer wir hinschauen, desto weniger können wir sagen, was im Blick auf die konkrete Person mit Arm überhaupt gemeint sein soll. Zudem ist der Arm einer konkreten Person in jedem nächsten Augenblick nicht mehr das, was er im Augenblick zuvor noch war. Und früher oder später ist dieser Arm auch nicht mehr. Alle Begriffe also, mit denen wir Wirklichkeit zu begreifen versuchen, sind zumindest insofern Fiktionen, als dass wir uns mit ihnen substanzielle Eindeutigkeiten und Beständigkeiten vorstellen, die es wirklich nicht gibt.
Nachbemerkung: Von der Frage der Teilbarkeit dessen, was sich verschiedene Personen unter gleichen Begriffen vorstellen, ist hier noch gar nicht die Rede. Auch Teilbarkeit ist eine Fiktion.
Samstag, 18. Januar 2025
1099
Blumenbergs Kritik seiner Gegenwartskultur entzündet sich auch am sich in seiner Zeit ankündigenden Phänomen des Massentourismus, das eng verbunden ist mit dem zugleich einsetzenden Phänomen der Massenfotografie. Man reise, so Blumenberg, nicht mehr irgendwo hin, um dort zu sein, sondern um dort gewesen zu sein.
Was in dieser Kritik aufleuchtet, lässt sich heute im Blick auf das Phänomen der sogenannten Sozialen Medien erneuern und verschärfen. Man könnte sagen: Es geht nicht mehr darum zu existieren, sondern bloß noch darum, existiert zu haben. Die Konsequenz ist eine bloß noch abgebildete, eine bloß noch repräsentative Existenz. Diese Existenz ist nichts anderes als nihilistische Existenz. In dieser Existenz vollendet sich der Nihilismus insofern, als dass selbst das Bewusstsein für das Verlorene hier verloren ist.
Montag, 13. Januar 2025
1098
In meinen Habilitationsvortrag habe ich vor Jahren die freiheitsrechtliche Friedensphilosophie Kants unter dem Titel Ewiger Krieg der Ansprüche kritisiert. In Anlehnung an Derrida hatte ich ursprünglich einen anderen Titel ins Auge gefasst: Ewiger Krieg dem Anderen. Ich habe damals auf diesen Titel verzichtet, weil die Aufgabe eine andere, grundsätzlichere und größere gewesen wäre und weil die so gerichtete Kritik bei meinem damaligen Publikum wohl erst recht auf taube Ohren gestoßen wäre. Für ein wenig Liberalismus- und Individualismuskritik konnte ich dagegen zumindest bei einigen Wenigen ein gewisses Verständnis erwarten. Die im ursprünglichen Titel angedeutete Kritik als Aufgabe ist für mich nach wie vor unerledigt: eine Fundamentalkritik der Schließungen und Ausschließungen, die dem modernen, aufgeklärten Idealismus wesentlich sind.
1097
Was heißt: die Wahrheit sagen? Üblicherweise begreifen wir Wahrheit als Identität von Aussage und Tatsache. Abgesehen davon, dass diese Identität gar nicht möglich ist, dass es auch diese Identität nicht gibt – notwendig und hilfreich ist (in Anlehnung an Bonhoeffer) ein anderer Wahrheitsbegriff: Wahr sind Worte, die der Wirklichkeit angemessen sind. Wahrheit im Sinne der Wirklichkeitsangemessenheit kann man nicht einfach sagen. Wahrheit in diesem Sinne zu sagen, muss mühsam erlernt und eingeübt werden.
1096
Zufall und Freiheit – zwei Fiktionen, die auf eine Art Außen im Innen setzen.
Samstag, 11. Januar 2025
1095
Habe kürzlich begonnen, noch einmal von und über Hans Blumenberg zu lesen. Derartige gegen die alltägliche Funktionalität gerichtete Bemühungen sorgen dafür, dass mir so etwas wie Denken zumindest als Hintergrundrauschen erhalten bleibt.
Den einen oder anderen Gedanken, der sich aus diesem neuerlichen Blumenberg-Rauschen gewinnen lässt, werde ich demnächst sicher auch hier im Blog einfügen können. Aber schon jetzt mache ich die immer gleiche Beobachtung: Über die Rolle des – wenn auch unverzichtbaren – Impulsgebers kommt auch Blumenberg bei mir nicht hinaus. Sobald ich mich näher auf das Denken, vor allem aber auch auf Charakter und Existenzweise der wesentlichen Impulsgeber meines eigenen Denkens einlasse, desto größer wird die Differenz, desto größer wird die Distanz. Am Ende bleiben allenfalls einige wenige Analogien. Jede Form der Schulbildung, jedes Lehrer-Schüler-Verhältnis hat mich daher schon immer irritiert, war mir schon immer verdächtig.
Was mich selbst betrifft, so gibt es hier lediglich eine Ausnahme: Lediglich zu Calvin habe ich nicht nur im Denken, sondern auch in Charakter und Existenzweise eine gewisse Nähe erkennen und empfinden können. Das gilt bis heute, wenn auch in ganz anderer Weise als noch vor nunmehr über dreißig Jahren, als ich Calvin über die Beschäftigung mit Augustinus erstmals begegnet bin – in einem kleinen aber nachhaltigen Seminar zur Politischen Philosophie bei Hans-Martin Schönherr-Mann.
Freitag, 10. Januar 2025
1094
Wenn Brautpaare ein bloß annäherndes Verständnis von dem hätten, was der messianische Begriff der Liebe in 1 Kor 13 zu fassen versucht und fordert – ihnen würde das gerührte Seufzen vor dem Altar im Halse stecken bleiben.
1093
Jedes um zu steht früher oder später vor dem Nichts.
Donnerstag, 9. Januar 2025
1092
Die gegenwärtig populäre Larmoyanz ist keine Vorstufe der Verzweiflung. Sie ist vielmehr eine Form der Flucht vor der Verzweiflung, die steht der Verzweiflung im Wege (siehe Nr. 1041).
1090
Wir irren uns durchs Wirkliche hindurch zum Zwecke des Glaubens.
Montag, 6. Januar 2025
1089
Etwas verstehen meint nicht, Wahrheit zu entdecken. Es meint, nach einem langen und mühevollen Prozess der Interpretation und Uminterpretation an einen Punkt zu gelangen, von dem aus man etwas nicht mehr anders interpretieren kann oder will.
1088
Dass wir im Wirklichen ohnmächtig sind, gilt ja auch für die Mächtigen.
Sonntag, 5. Januar 2025
1087
Rückblickend habe ich in den vergangenen Monaten – glücklicherweise wissend, was ich da tue – möglicherweise letztmalig auf eine letzte Hoffnung gesetzt, von der ich mich längst denkend verabschiedet und unabhängig gemacht habe. Der Blick auf das, was im Verlauf dieses Experiments nicht geworden, was vor allem aber auch geworden ist, erinnert mich unmittelbar noch einmal an einen Satz aus Bonhoeffers Glaubensbekenntnis (siehe Nr. 352): „Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“
1086
Zu Nr. 685: Seit einigen Tagen bewege ich in mir einen Satz, der sich mir in Rückschau und Ausschau über den Jahreswechsel aufgedrängt hat: Der Diagnostik ist Genüge getan. Was meine ich damit? Was ist sehen muss, sehe ich. Was ist verstehen muss, verstehe ich. Was ich haben muss, habe ich. Nun gilt es noch einmal neu und verstärkt dem nachzujagen, was dem paulinischen Messianismus unter seinen Voraussetzungen im Übermaß gegeben war, was meinem eigenen Messianismus unter meinen eigenen Voraussetzungen aber noch allzu sehr fehlt: einer getrösteten und ermutigten, einer tröstenden und ermutigenden Existenz.