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Montag, 21. April 2025

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Jenseits der Globalisierung, jenseits der Dominanz des neoliberalen Institutionalismus, erlebt der politische Neorealismus aktuell eine beeindruckende Konjunktur – nicht zuletzt auch in deutschen Talkshow. Die neorealistische Deutung des Politischen und der Politik verweist gerne auf Zahlen, Daten, Fakten, umgibt sich gerne mit einem Pathos der Nüchternheit, lässt jede Idealisierung und Moralisierung politischer Praxis als lächerlich oder gar als gefährlich erscheinen.

Der politische Neorealismus hat zweifellos gute Gründe auf seiner Seite, und man darf diese guten Gründe nicht in idealistischer oder moralistischer Manier beiseiteschieben. Man darf allerdings dem neorealistischen Realismus und seiner Nüchternheit auch nicht in die Falle gehen. Zum einen ist dieser Realismus selbstverständlich erkenntnistheoretisch höchst zweifelhaft. Zum anderen ist der antiidealistische Realismus selbst wiederum idealistischer Natur, und er ist in seinem Antimoralismus selbst wiederum höchst moralisch: er unterwirft sich der Moral, der normativen Kraft, dem Diktat der tatsächlichen oder vermeintlichen, der gegenwärtigen oder prognostizierten Fakten.
So gesehen stehen sich Institutionalismus und Realismus näher, als sie es selbst wahrnehmen oder wahrnehmen wollen. Beide unterwerfen sich lediglich unterschiedlichen Normen oder Diktaten. Und beide stehen in der politischen Wirklichkeit auf unterschiedlichen Wegen früher oder später vor dem Problem, sich angesichts ihrer selbst auferlegten Diktate der Eskalation politischer, zuletzt militärischer Gewalt nicht mehr entziehen zu können. Unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Kontexten zwingen beide Deutungsweisen internationaler und globaler Politik unvermeidlich zu einer bellizistischen politischen Agenda.

Erste Anmerkung: Wenn man in der gegenwärtigen politischen Situation den neorealistischen Deutern in deutschen Talkshows mehr oder weniger zustimmend lauscht, dann muss man sich – bei aller Bewunderung für den vorgetragenen Realismus – immer auch an das Diktat erinnern, dem sich diese Deuter unterwerfen. Und an die politische Agenda, die sie damit verfolgen.

Zweite Anmerkung: Gemeinsam mit dem politischen Neorealismus hat derzeit natürlich auch – eher hinter- und untergründig – das politische Denken Carl Schmitts Konjunktur, ein Denken, das der Politik Vorrang einräumt vor dem Recht, ein katechontisches Denken, das nicht so sehr unterscheidet zwischen Recht und Unrecht, sondern zwischen Freund und Feind. Das muss man nicht schlechtweg verurteilen und bekämpfen. Das muss man allerdings zumindest aufmerksam wahrnehmen. Auch in deutschen Talkshows.

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