Freitag, 24. Mai 2019
478
Wichtige Bausteine meines eigenen Denkens hat Richard Rorty geliefert. Er verzichtet konsequent auf letzte Gründe, auf letzte Formen und letzte Substanzen. Weil er sie nicht mehr findet, nicht mehr hat. Was bleibt, ist eine Entscheidung. Die Entscheidung für das Leben, das wir leben wollen. Als Einzelne und als politische Gemeinschaften. Das Denken, das Interpretieren hat sich dann in den Dienst dieser Entscheidung zu stellen. Philosophie, Wirklichkeitsinterpretation ist die nachträglich entworfene Stütze der Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise.
477
Das reformatorische sola lässt sich so oder so verstehen: als konstruktiver Akt (der Mensch beschließt, Gott nirgendwo sonst mehr zu suchen) oder als Verlustanzeige (der Mensch kann Gott nirgendwo sonst mehr finden). Zwischen den Haltungen, die dem jeweiligen Verständnis entsprechen, liegen Welten.
Donnerstag, 23. Mai 2019
476
Eine weitere psychoanalytisch-biografische Aufklärung (zu Nr. 28): Von Natur aus habe ich naiv große Erwartungen an die Wirklichkeit. Ich erwarte, wirklich Einfluss nehmen zu können auf die Wirklichkeit, und ich erwarte, dass die Wirklichkeit mir meine Bedürfnisse wirklich stillen wird. Meine natürlichen Erwartungen sind im Kontext und Umfeld meines Herkunftsmilieus aufgeladen worden durch religiöse Verheißungen, durch ein religiöses Bild von Wirklichkeit, das mir vorgegaukelt hat, unter bestimmten Voraussetzungen (Rechtgläubigkeit und Moralität), für die ich selbst verantwortlich bin und die ich selbst schaffen kann, sei das Erwartete wirklich möglich und wirklich im Kommen.
Mittwoch, 22. Mai 2019
475
Wenn Theologen oder Philosophen, wenn Geisteswissenschaftler, wenn Interpreten des Geistes Interpretationskrisen diagnostizieren, dann ist Vorsicht geboten, dann muss man erst einmal genau hinschauen. Allzu häufig ist die diagnostizierte Krise lediglich Mittel zum Zweck. Die Krise soll die jeweils eigene Interpretation als Heilsbotschaft aufscheinen lassen, bisweilen sogar als alternativlose Heilsbotschaft. Dass Interpreten des Geistes mit ihren Interpretationen selbst an ein Ende gekommen und in eine Krise gestürzt sind, aus der sie keine der zuhandenen Interpretationen hat retten können – dieses Ereignis ist dagegen selten. Dieses Ereignis ist aber Voraussetzung dafür, überhaupt von einer Interpretationskrise sprechen zu dürfen.
474
Calvins Vorsehungslehre ist in ihren praktischen Konsequenzen letztlich nichts anderes als auf die Spitze getriebener Nihilismus. Alles, was wirklich ist, wird radikal funktionalisiert. Calvin will der Funktionalisierung des Weltwirklichen noch einen Wert beimessen, indem er ihr den sinnlosen Sinn der Gottesehrung zuschreibt. Dieser Sinn leidet jedoch an dem Geburtsfehler der unvermeidlichen Verflüchtigung.
473
Nach dem Besuch mancher kirchlichen Gottesdienste sehne ich mich geradezu nach dem Kulturabbruch. Danach, dass dergleichen endgültig dem Vergessen überantwortet wird. Andererseits: Wenn ich gemeinsam mit Studierenden in Lektüreseminaren Max Webers Protestantische Ethik zu erschließen versuche, dann erlebe ich bei diesen den Kulturabbruch als bereits vollzogen. Keinerlei Sensibilitäten mehr für religiöse Begründungen und Rationalitäten. Und dann bin ich mir nicht sicher, ob ich mich freuen oder ob ich trauern soll. Trauern über die durchaus gefährliche Ohnmacht gegenüber der Religion. Trauern auch über die Unfähigkeit, die eigene kulturelle und gesellschaftliche Lage, sogar sich selbst in seinem Gewordensein und Sosein auch nur halbwegs zu verstehen.
Montag, 20. Mai 2019
472
Ob es an sich eine Welt, ob es eine Welt an sich gibt, können wir nicht wissen. Als Menschen haben wir eine Welt immer bloß durch Sprache (nicht etwa schon durch eine vermeintliche Unmittelbarkeit der Anschauung). Welt ist immer eine sprachlich abgebildete oder sprachlich konstruierte Welt. Die Welt, die wir haben, ist also immer bloß das Symbolsystem einer möglichen Welt, eine Fiktion, ein als ob. Wenn uns die Welt, die wir in Sprache als Fiktion haben, verloren geht, dann haben wir nichts mehr (das ist im Grunde genommen der Zustand, auf den Wittgensteins Tractatus hinausläuft). Dieser Zustand könnte die Geburtsstunde reservativer Interpretation sein, einer Interpretation, die keine Welt mehr haben muss. Doch das Weltbedürfnis, das uns als sprachbegabten, als zum Sprechen verurteilten Wesen eigentümlich ist, ist übermächtig. Es ist so mächtig, dass wir nach dem Verlust der fiktional gegebenen oder geschaffenen Welt sogar bereit sind, uns in virtuelle Welten zu flüchten und uns damit zu befriedigen.
Donnerstag, 9. Mai 2019
471
Heute einen Studenten nach einem kurzen Gespräch im Anschluss an ein berufsethisches Seminar dazu ermutigt, einen seiner Gedanken weiter zu verfolgen: Vielleicht muss der kommende Soldat ein Stoiker sein. Stoiker sind nicht die schlechtesten Soldaten.
470
Zu Nr. 466: Das Sprachspiel, das Calvin zur Verhältnisbestimmung von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit in ganz unterschiedlichen Fragezusammenhängen aufbietet, ist komplex und paradox.
469
Der homo oeconomicus ist ein undankbares und insofern unfreies Wesen. Als solches schafft er sich seine eigenen, immer neuen Bedürfnisse, auf deren Befriedigung er nicht mehr verzichten will, nicht mehr verzichten kann. In seiner Bewegung der Undankbarkeit verstrickt er sich immer tiefer in die vermeintlichen oder tatsächlichen Notwendigkeiten der Weltwirklichkeit.
Mittwoch, 8. Mai 2019
468
Eine Beobachtung und eine Empfehlung: Menschen, die Wirklichkeit nur durch das Allgemeine hindurch anschauen, können sich kaum auf das jeweils Einzelne einlassen, ziehen sich gerne vor dem, was im Einzelnen gefordert ist, ins Allgemeine zurück. Menschen, die Wirklichkeit nur durch das Einzelne hindurch anschauen, können sich kaum dem jeweils Allgemeinen unterwerfen, neigen zu destruktiver oder gar revolutionärer Ignoranz.
Wer in die Wirklichkeitsschlacht zieht, der umgibt sich besser weder mit Allgemeinen noch mit Einzelnen. Die einen brechen im Schildwall leicht nach hinten, die anderen leicht nach vorne aus. In der Wirklichkeitsschlacht hat man am besten jene neben sich im Wall, die Allgemeines wie Einzelnes gleichermaßen kennen und anerkennen, die Allgemeines wie Einzelnes zugleich handhaben können. Entschlossen und unerbittlich.
467
Gesprochenes oder geschriebenes Wort hören und lesen wir nie authentisch. Allenfalls ist die Interpretation unserer eigenen Interpretation des Gehörten oder Gelesenen authentisch. Und selbst das ist bloß eine Annahme, eine Hoffnung.
Montag, 6. Mai 2019
466
In seinem Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance versucht Cassirer sich auch an einer geeigneten Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit. Um nichts anderes als um dieses Verhältnis geht es zuletzt in allem praktischen Denken. Die Frage nach Freiheit und Notwendigkeit ist das nervöse Zentrum jedes auf Praxis sich richtenden Interpretierens. An dieser Frage entscheidet sich alles.
465
Gelegentlich erstaunt und beruhigt mich zugleich, wenn ich die wesentlichen Entwicklungen und Sprünge in meinem eigenen Denken im Denken anderer wiederfinde. Es gibt strukturelle Analogien zwischen Existierenden, ihren Interpretationen und ihrer Praxis – bei aller qualitativen und inhaltlichen Differenz.
464
Jede Erzählung kann auch anders erzählt werden. Jede
Erzählung zeitigt auch Folgen, die dem Erzähler, hätte er sie gekannt oder
zumindest geahnt, wohl frühzeitig den Mund verschlossen hätten.
463
Der Tod des Märtyrers befreit diesen immer auch von der Last, mit seiner Interpretation über die volle Distanz gehen, eine ganze Lebenslänge an seinem Glauben festhalten und diesen praktisch demonstrieren zu müssen.
Manche Märtyrer mussten sichtlich zu früh abtreten. Ihnen wurde die Möglichkeit genommen, die eigenen Interpretationen noch einmal kritisch befragen und die Dinge auch anders anschauen zu lernen.
Sonntag, 5. Mai 2019
462
Unter (protestantischen) Pfarrern, unter Theologen erinnert man sich gelegentlich scherzhaft daran, dass man im Beamtenstatus mit A14-Besoldung kaum als Prophet auftreten könne. Das ist nicht ganz falsch. Die priesterliche Wahrheit des Allgemeinen verträgt sich nicht mit der prophetischen Wahrheit des Einzelnen.
Samstag, 4. Mai 2019
461
Seinen Tractatus will Wittgenstein ganz ähnlich begriffen und gebraucht wissen, wie Jesus seine Gleichnisse (siehe Nr. 83). Die Gleichnisse Jesu können helfen aufzuklären, dass die Wirklichkeit, die sie vermeintlich bezeichnen und repräsentieren, mit Sprache, ja, mit Symbolen überhaupt, gar nicht bezeichnet und repräsentiert werden kann. Dass ein ganz anderer, nicht auf Bezeichnung und Repräsentation hinauslaufender Wirklichkeitszugang aufgesucht werden, dass die Wirklichkeit anders angeschaut und anders gebraucht werden muss.
Mittwoch, 1. Mai 2019
460
Wenn ich mich Benjamin, Cassirer, Heidegger und Wittgenstein, wenn ich mich den philosophischen Zauberern der roaring twenties denkend stelle, dann bin ich noch nicht einmal versucht, mich mit ihnen zu messen. Das wäre höchst vermessen. Selbst der Versuch, mich auf die Schultern ihres Denkens zu stellen, um von hier aus besser und weiter sehen zu können, erscheint mir völlig abwegig.
Mich den Zauberern denkend zu stellen, meint in meinem Falle: eine Tür aufstoßen zur Dankbarkeit für die eigenen Begrenzungen. Gerade meine Begrenzungen eröffnen mir die Möglichkeit, die Wirklichkeit auch anders sehen, sie auch anders handhaben zu können. Talente, gerade auch Talente des Denkens, setzen ja immer auch in je spezifischen Gehäusen des Denkens und Lebens gefangen.
459
Zu Sein und Zeit schreibt Heidegger an Jaspers, die Arbeit daran werde ihm nicht mehr einbringen als dies: „daß ich für mich selbst ins Freie gekommen bin und mit einiger Sicherheit und Direktion Fragen stellen kann“. Glücklich, wer denkend für sich ins Freie kommen darf. Das ist schon viel. Allerdings: Für sich ins Freie zu kommen, ist das eine. Etwas anderes ist es, an sich ins Freie zu kommen.