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Sonntag, 29. März 2020

614

Jetzt, wo die Wirklichkeit unseren politischen Systemen noch einmal einen mächtigen Keil ins Getriebe geschlagen hat, stellt sich nicht zuletzt die Frage nach dem, was eigentlich Politik ist oder sein muss, was gar gute Politik genannt werden kann.
Offensichtlich ist: Politik kann und darf nicht auf dem Rat der (empirischen) Wissenschaften verzichten. Offensichtlich ist aber auch: Die (empirischen) Wissenschaften können und dürfen der Politik nicht sagen, was sie zu tun oder zu lassen hat.
Vor einiger Zeit habe ich einen (heftig kritisierten) Text zur Frage nach dem guten Soldaten publiziert. Dieser Text skizziert vor allem jenen Soldaten, der sich als politisch mitverantwortlich erweist, damit aber zugleich auch, was unter verantwortlicher Politik überhaupt vorgestellt werden kann.
Diese Skizze scheint mir nach wie vor recht treffend, daher stelle ich sie hier vollständig zur Verfügung.

Freitag, 27. März 2020

613

Im Corona-Ereignis werden, wenn ich die Wirklichkeitsentwicklungen richtig beobachte und abschätze, drei eng ineinander verschlungene Massenbewegungen noch einmal überdeutlich absehbar.

612

Bitte beachten: Alle geplanten Demonstrationen gegen die Beschränkungen äußerer Freiheit durch Ausgangsbeschränkungen fallen wegen der derzeitigen Ausgangsbeschränkungen bis auf Weiteres aus.

Passt auf Euch auf.
#wirbleibenzuhause

Donnerstag, 26. März 2020

611

Ich will nicht ausschließen, will es sogar hoffen, dass das Corona-Ereignis in Einzelnen ein Bewusstsein dafür weckt, dass etwas nicht stimmt mit der Wirklichkeit, dass etwas nicht stimmt mit unserer wirklichen Existenz, mit unserer Existenz im Wirklichen.
Ich will nicht ausschließen, will es sogar hoffen, dass Einzelne sich auf die Suche machen nach einer veränderten Interpretation des Wirklichen, nach einer neuen inneren Unabhängigkeit vom Wirklichen und seinen Verheißungen, nach einer veränderten Handhabung des Wirklichen.

Als Massenerscheinung sehe ich diese Bewegung jedoch nicht. Obwohl das Corona-Ereignis als solches durchaus eine günstige, weil irritierende Atmosphäre geschaffen hat. Unser großes spätmodernes Projekt globaler Vergesellschaftung, globaler Politik und globalen Wirtschaftens ist unübersehbar in Frage gestellt. Vorstellung und Praxis globalen Lebens sind sichtlich infiziert. Alles, wirklich alles hatten wir darauf ausgerichtet, global zusammenzurücken, uns global engmaschig zu vernetzen. Und nun werden wir plötzlich auseinander getrieben wie eine Herde Schafe, die keinen Hirten hat und unter die der Wolf gefahren ist wie der Leibhaftige. Babel lässt grüßen.
Von der momentan durch Medien und Netze grassierenden, oft allzu wichtigtuerisch und selbstverliebt zur Schau gestellten Solidarisierung darf man sich nicht täuschen lassen. Eine bloß virtuelle und bloß flüchtige Erscheinung.

Mittwoch, 25. März 2020

610

Man kann Corona durchaus als Ereignis willkommen heißen. Im Netz kursieren nicht wenige Texte, die die Zeit danach zu antizipieren versuchen und dabei auf einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel, gar auf eine kulturelle Wende hoffen.

Inzwischen in zahlreichen Portalen hinterlegt und vielfach geteilt wird etwa eine kleine Erzählung des Zukunftsforschers (was auch immer das sein mag) Matthias Horx. Er erprobt den zukünftigen Blick zurück und bezeichnet die gegenwärtige Krise als historischen Moment. Wir werden uns wundern, so nimmt er an, wie viele neue Möglichkeitsräume uns Corona eröffnet haben wird: neue Räume der Wertschätzung, der Nähe, der Höflichkeit, der Kommunikation. An die Stelle des Technikglaubens wird eine neue Menschlichkeit getreten sein. Horx wertet Corona als eine Art Evolutionsbeschleuniger: der Kollaps als Potenzial. Wir werden uns durch die Krise hindurch weiter, höher entwickeln. „Könnte es sein“, so Horx, „dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?“ Das Leben, die Natur, die Wirklichkeit – in hoffnungsfrohen Narrativen, wie sie uns von Horx und anderen Zeichendeutern gerade erzählt werden, treten sie in guter mythischer Tradition wieder als personalisierte Größen auf, die es letztlich gut mit uns meinen, die uns zu neuer Aufmerksamkeit zwingen und uns, einer neuen Harmonie entgegen, zu sich empor führen.

Abgesehen davon, dass ich die Kosmologien, von denen derartige Erzählungen getragen werden, für überkommen und durchaus für gefährlich halte: Alle jetzt, alle im Angesicht des Corona-Ereignisses formulierten Vorstellungen vom möglichen Anbruch einer neuen Zeit hüpfen zu schnell und zu kurz. Die vorausgesetzten Annahmen über den Gang von Menschen und Menschenmassen sind fragwürdig, illusionsgesättigt, ebenso die Vorstellung, Kulturen könnten sich spontan wenden, seien geradezu zu Sprüngen fähig. Und was grundsätzlich allen Hoffnungserzählungen gemeinsam zu sein scheint: Sie bleiben gefangen im modernen Fortschrittsoptimismus (christlicher Herkunft). Eigentlich, so die Grundidee, können wir so weitermachen wie bisher, eben nur ein bisschen anders, ein bisschen reflektierter, bewusster, zurückhaltender, entschleunigter. Das aber ist gerade jener zukunftsfixierte Idealismus, das ist das Existenzschema, das unsere Kultur an den traurigen Ort geführt hat, an dem wir inzwischen angekommen sind.

Dienstag, 24. März 2020

609

Vor einigen Tagen mit einer guten Freundin telefoniert, Theologin in Zürich. Wir waren uns einig: Nicht eine einzige theologische oder philosophische, nicht eine einzige wirklichkeitsinterpretatorische Frage stellt sich derzeit neu oder anders.
Aber: Nicht wenige sehen sich derzeit vor Fragen gestellt, die sie sich bislang noch nicht gestellt haben. Sie haben nicht vorgesorgt für Zeiten wie diese. Und nun fehlen ihnen Antworten, ihnen fehlen sogar alle Mittel, sich halbwegs tragfähigen Antworten anzunähern. Also geht man hektisch Hamstern in den Discountern populärer Meinungen.

608

Ein Votum des Vizegouverneurs von Texas, Dan Patrick, machte heute die Runde. Er fordert von den älteren Bürgern (also von den durch die Corona-Pandemie besonders bedrohten Gruppen) die Bereitschaft, sich notfalls für das eigene Land zu opfern. Sich selbst schließt Patrick dabei ausdrücklich ein. Im deutschen Netzt erntet er für seine Forderung einen Aufschrei der Empörung.
Abgesehen davon, dass derartige Überlegungen unvermeidbar sind, sobald die Metapher des Krieges bemüht wird: Patricks Votum legt den Finger in das nervöse Zentrum der Lage, in die die Politik sich und uns nun hineinmanövriert hat. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann werden wir vor der Wahl stehen: Wollen wir den Zusammenbruch des Systems riskieren, oder sind wir zur Sicherung des Systems bereit, auf eine (unproduktive und kostenträchtige) Minderheit zu verzichten? Der Befehl des absolutistischen Ökonomismus, unter dem wir existieren, ist an dieser Stelle eindeutig. Noch hält ein anderer, moralischer Absolutismus dagegen. Aber dieser Absolutismus hat in Zeiten des Toilettenpapiermangels eine verschwindend kurze Halbwertzeit.

Ich habe kürzlich (Nr. 600) formuliert, das Corona-Virus ließe sich nicht unmittelbar moralisieren. Das bedeutet nicht, dass es gar nicht möglich wäre. In den vergangenen Tagen ist dies sogar in atemberaubender Geschwindigkeit geschehen. Nicht diejenigen stehen nun am moralischen Pranger, die die Pandemie tatsächlich oder vermeintlich verschuldet haben (hier ist eine Identifizierung ja tatsächlich kaum möglich). Am Pranger stehen jene, die sich als politisch widerspenstig erweisen, die die Ausgangsbeschränkungen der Politik missachten: #staythefuckathome.
Von diesem nun ausgemachten Feind ist der Weg nicht weit zu jenem, der sich wider alle Massenvernunft nicht bereit zeigt, zum Zwecke des Überlebens und des Wohlstandes der Vielen die notwendigen Opfer zu bringen.

Montag, 23. März 2020

607

Der neu gewählte Vorsitzende des Sachverständigenrats, Lars Feld, weist gestern in einem Interview darauf hin, dass der gegenwärtige Zustand wirtschaftlich nicht länger als drei Monate durchzuhalten sei. Und dann ein folgenschwerer Satz zur kommenden medizinischen Strategie: „Irgendwann werden wir zu einer personalisierten Isolierung übergehen müssen“. Anders formuliert: Man wird die Infizierten in Lagern absondern müssen (wobei man für Lager sicher einen freundlicheren Begriff erfinden wird). Damit die Gesunden draußen überleben und weiter funktionieren können. Der Absolutismus des Überlebens kann sich nur als gnadenlos erweisen.

606

Kaum ein Text vermag uns deutlicher vor Augen zu führen, was künftig von uns gefordert sein könnte, als der gestern kurz zitierte Rechenschaftsbericht Bonhoeffers Nach zehn Jahren. Deshalb habe ich ihn hier nun in voller Länge hinterlegt.
Bonhoeffer schließt den Text mit der Frage: Sind wir noch brauchbar? Die Frage, die sich uns nun aufdrängt: Werden wir uns als brauchbar erwiesen haben?

Sonntag, 22. März 2020

605

Bonhoeffer in seinem Rechenschaftsbericht Nach zehn Jahren an der Wende zum Jahr 1943: „Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.“

Abgründig sind vor allem jene Bösen, die das Gute zu exekutieren glauben. Wir werden in der nächsten Zeit begabte und mutige Apokalyptiker brauchen. Begabt sind nicht jene, die Katastrophen prophezeien und sich daran ergötzen. Begabt sind jene, die das Böse hinter dem Schleier des Guten zu entdecken und aufzudecken vermögen. Heute, in Zeiten globaler Infektion, verbirgt sich das Böse hinter dem Schleier des Überlebensnotwendigen.

Samstag, 21. März 2020

604

Zwei kurze Beobachtungen zu den öffentlichen Auftritten von Kirchenrepräsentanten in diesen Tagen.

Das stille Gebet dieser Repräsentanten scheint zu sein: Gott, erhalte mir mein Gottesbild! Und sorge bitte dafür, dass niemand merkt, wie dürftig dieses Bild doch im Grunde ist.

Und: Kirche und Kirchenrepräsentation sind tatsächlich nichts anderes mehr als Funktion. Man funktioniert mit. Wie alle anderen auch.

603

In der NZZ mittlerweile online frei verfügbar: der Kommentar Agambens zur Lage in Italien (hier). Der Text formuliert – bei aller Frag- und Kritikwürdigkeit – einige meiner eigenen Anfragen, gerade an das, worauf wir nun politisch und gesellschaftlich zusteuern. Daher gebe ich ihn hier ungekürzt wieder:

Freitag, 20. März 2020

602

Heute zwei kurze Gedanken – unmittelbar vor den nun doch beschlossenen Ausgangsbeschränkungen in Bayern.

Zunächst: Man mag die übereilte politische Eskalation der vergangenen Tage befragen, man mag sie sogar als totalitären Akt begreifen. Und doch gilt es in diesem Moment, die nun not-wendige Rolle zu spielen und in der not-wendigen Rolle auszuharren. Derzeit verlangt die ins Totalitäre abkippende Politik ja lediglich, vorübergehend in unseren Wohnräumen zu verbleiben.

Dann: Von allen Seiten wird nun Solidarität eingefordert. Repräsentativ aufgeladene Begriffe wie dieser sind mir fremd. Reservatives Füreinanderdasein im Hier und Jetzt meint etwas anderes. Dazu habe ich hier schon Vieles angedeutet. In unserer konkreten Lage meint reservative Praxis vor allem, die eigene Existenz der Existenz des Anderen nicht zur Last werden zu lassen, den anderen Existierenden, soweit unter Wirklichkeitsbedingungen möglich, nicht durch die eigene Existenz zu belästigen. Das gilt für die Begegnung im öffentlichen Raum, noch viel mehr aber wohl für die Begegnung im eigenen Wohnraum – dort, wo wir jetzt alle mehr oder weniger zusammengepfercht sind.

Donnerstag, 19. März 2020

601

Nachtrag zu Nr. 593: In der NZZ kürzlich (hier) eine treffende Replik Slavoj Žižeks auf den Totalitarismus-Vorwurf Giorgio Agambens gegenüber der italienischen Corona-Politik. Mit guten Gründen klagt Žižek notwendige Differenzierungen ein. Das ist richtig und wichtig. Genauso richtig und wichtig, wie der Verzicht auf voreilige Böswilligkeitsannahmen. Aber: Wir müssen uns künftig sorgfältiger denn je davor hüten, uns an die schützend-kuscheligen Behaglichkeiten totalitärer Politik zu gewöhnen.

600

Der wahre Feind der offenen, gerade auch der ins Globale hinaus offenen Gesellschaft: das sind nicht jene, die uns heute wieder an muffige Gültigkeiten binden wollen, die keine Bindungskraft mehr haben und deren Verbindlichkeiten wir gar nicht mehr wollen können. Gegen die Stumpfheit dieses Feindes haben wir geeignete Mittel in der Hand.
Der wahre Feind der offenen Gesellschaft: das ist das unsichtbar bedrohlich Unverfügbare, das der Wirklichkeit als Natur innewohnt, das uns, wenn es erscheint, in unserer Hilflosigkeit zusammenzucken und in übertriebene, weil schutzverheißende Schließungen zurückweichen lässt. Besonders gefährlich sind jene Unverfügbarkeiten, die sich nicht unmittelbar moralisieren lassen – wie einst das HI-Virus. Hier fehlt uns selbst die normative Handhabe.

Erster Nachgedanke: Der neu zu beobachtende Versuch der Religiösen, in der gegenwärtigen Krise Parallelen herzustellen zur frommen Pest-Literatur des Mittelalters, kann heute nicht mehr verfangen. Wir können nicht mehr anders, als die Corona-Ausbreitung als tatsächliche Kausalität wahrzunehmen. Nicht als metaphysische.

Zweiter Nachgedanke: Zweifellos werden wir Idee und Praxis global geöffneter Gesellschaften überdenken müssen. Das Jenseits darf aber keine wieder geschlossene Gültigkeitsgesellschaft sein. Anempfehlen können sich möglicherweise neue, quasi-nomadische Existenzformen, neue Überschaubarkeiten und Beweglichkeiten (siehe auch Nr. 339). Mit allen Wohlfahrts- und Wohlstandsverlusten, die damit verbunden sein werden (was sich aus der Behaglichkeit unserer eigenen Lage allzu leicht anschauen und zumuten lässt).

Mittwoch, 18. März 2020

599

Der Bundespräsident hat den Bürgern für ihren Weg durch die kommenden Tage eine Botschaft mitgegeben. Drei Sätze dieser Botschaft erscheinen mir bedenklich.

„Wir werden das Virus besiegen.“ Was dieser Satz eigentlich sagen soll: Wir haben die Wirklichkeit und den Lauf der Dinge im Griff. Ist aber nicht gerade dies die Vorstellung, die nun noch einmal nachdrücklich angegriffen wird? Nach dem Virus ist vor dem Virus. Und dann?

„Die Welt danach wird eine andere sein.“ Nein, die Wirklichkeit wird nach Corona – wenn es so etwas wie ein nach überhaupt geben kann – gerade so sein, wie vor Corona. Nur dem Anschein nach verfügbar. Nur dem Anschein nach formbar.

„In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wir leben werden, hängt von uns ab.“ Ganz offensichtlich nicht. Was sich derzeit ereignet: Die Natur entzieht unseren (inzwischen globalisierten) Idealen politischer und sozialer Organisation die Voraussetzung. Offenbar ist es so: Leben geht vor Freiheit, Wohlergehen geht vor Offenheit. Wenn Leben und Wohlergehen bedroht sind (und dies nicht durch fremden Willen, sondern durch die Natur), dann sind Menschen sehr rasch bereit, ihre ideale Moralität über Bord zu werfen und stattdessen Unfreiheit und Abschließung geradezu einzufordern. Wer würde zum Beispiel in der gegenwärtigen Lage noch ernsthaft verlangen können, die Grenzen für Flüchtlinge offen zu halten?

Also: Zumindest beim Bundespräsidenten keine neue Demut, keine veränderte Interpretation von Welt in Sicht. Noch nicht.

Dienstag, 17. März 2020

598

Spannend zu beobachten, dass diejenigen, deren Beruf die Entscheidung ist, im Angesicht dessen, was wir Ereignis nennen können, sich als entscheidungsunfähig erweisen. Die einen verfügen, die anderen zögern sich zu Tode. Eine Entscheidung, die dem, was sich zeigt, angemessen wäre, wird so oder so verfehlt. Nimm den Entscheidern unserer Zeit die Sicherheiten ihrer sie üblicherweise stützenden Funktionalitäten (unter denen sie nur noch managen, nicht mehr entscheiden müssen), und sie stehen der Wirklichkeit unbeholfen gegenüber. Carl Schmitt sagt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Tatsächlich, wirklich ist es anders: Im Ausnahmezustand zeigt sich, dass uns die Regel unserer Tage hat vergessen lassen, was souverän zu sein überhaupt meint. Wir haben die Souveränität verlernt.

597

Es gibt unhintergehbare Beschleunigungspunkte in der Eigendynamik politischer und sozialer Eskalation. Wenn diese Punkte einmal erreicht sind, dann ist es dem Einen nicht mehr möglich, sich der politischen und sozialen Verschärfung, die der Andere soeben beschlossen hat, noch zu verweigern. Dann ist das Entscheiden und Handeln des Einen nicht mehr durch die – wenn man so will – eigentlichen Reallagen geboten und gerechtfertigt, sondern durch die im Entscheiden und Handeln des Anderen subtil real gewordenen, eigentlich fiktionalen Reallagen. Jenseits derartiger Beschleunigungspunkte wird die Gefahr immer größer, dass sich anfängliche Menschenfreundlichkeit zur Menschenfeindlichkeit wendet.

Sonntag, 15. März 2020

596

Man darf nicht vergessen, wo die totalitäre Corona-Politik ihren Anfang genommen hat: in China. Dort, wo die Politik ein Interesse daran hat, ihre totalitäre Struktur mit dem Schein von Fürsorglichkeit und Wohltätigkeit zu umgeben.

Samstag, 14. März 2020

595

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den modernen Rechtsstaat bekanntlich als gewagtes Experiment begriffen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“. In einem meiner früheren Texte habe ich aus verschiedenen Gründen die Annahme formuliert, Böckenfördes Diktum müsse neu gefasst werden: Der freiheitliche säkulare Rechtsstaat vernichtet die Voraussetzungen, von denen er lebt und deren Wirklichkeit er zu ermöglichen vorgibt.
Das scheint sich mir gegenwärtig zu bestätigen. Die gesellschaftliche, politische, ökonomische Wirklichkeit, in der wir leben, hat sich ihrer Voraussetzungen längst entledigt. Wenn nun die Kulturmaschine, der wir inzwischen dienen, in die Krise gerät, wenn sie auseinanderzufliegen droht, dann sind wir vollständig ins Leere geworfen. Wir haben keine Rückfallposition mehr, wir haben nichts mehr, worauf wir uns zurückziehen könnten. Weder die Einzelnen noch die Vielen.

594

Die Deutschen neigen (herkunftsbedingt) zu zwei existenzbestimmenden Absolutismen: zur Systemhörigkeit und zur Selbsthörigkeit. Die unter Nachkriegsbedingungen noch mögliche Atmosphäre des moderierenden Ausgleichs löst sich auf. Und nun taumeln wir einem neuen Krieg der Absolutismen entgegen. Noch ist es lediglich ein Krieg um Toilettenpapier und Seife.

Donnerstag, 12. März 2020

593

Die coronainduzierte politische Entmündigungspraxis, die wir gegenwärtig beobachten und deren Wirkungen wir zunehmend spüren, wird uns künftig alltäglich, wird uns selbstverständlich werden. Wir rutschen mit zunehmender Geschwindigkeit in die politische Ausnahme als Regel (Agamben). Und dies nicht etwa, weil böse Absichten dahinter stünden. Im Gegenteil. Die Motive sind aller Ehren wert.

Sonntag, 8. März 2020

592

In der zunehmenden Kontingenz und Aufgeregtheit unserer Gegenwart: Wo bleibt das beruhigende erschreckt nicht der Kirchen, die Erinnerung daran, dass dies unter Wirklichkeitsgesetzen alles so geschehen muss, dass es gar nicht anders geschehen kann (Mk 13)? Stattdessen aus dem Mund der Kirchenrepräsentanten nichts andere als wirklichkeitsverfallene Moralität.

591

Das Corona-Phänomen: In den vergangenen Tagen immer wieder Verärgerung über die öffentliche Panik, auch Verhöhnung der aufgescheuchten Massen. Dahinter steckt die in der Moderne ins gesellschaftliche und politische System integrierte irrige Annahme, das Einzelne und das Allgemeine ließen sich synchronisieren. Menschen folgen jedoch anderen Gesetzen als Menschenmassen. So etwas wie eine reflektierte Öffentlichkeit gibt es nicht (siehe auch Nr. 117, 267, 313).

Mittwoch, 4. März 2020

590

Ein vertrautes, auch mir vertrautes Phänomen, das ich nun, unter veränderten, wieder alten, alt bekannten Bedingungen, noch einmal intensiv wahrnehme: Die mir bisweilen geradezu bedrohlich erscheinende Dämpfung, Betäubung, Lähmung des Denkens durch das Leben. Ist es tatsächlich so: Wer lebt, kann nicht denken, wer denkt, kann nicht leben? Gerade für unsere funktionalistisch beschleunigte Existenz scheint das zuzutreffen.
Drei Wege bieten sich an. Zunächst: Rückzug aus dem Leben, Flucht ins Denken. Dann: Denkende Dauerrevolte gegen das Leben. Beide Wege haben sich mir selbst aus verschiedenen Gründen immer verschlossen. Mir ist immer nur ein dritter Weg geblieben: Die Suche nach einem Denken, das im Angesicht des jeweils gegebenen Lebens, das mitten im Leben stille halten und zugleich stille machen kann. Ein Denken, das im jeweils gegebenen Leben verharren kann und zugleich im Leben zu verharren, auszuharren befähig, ermächtigt.

Erster Nachgedanke: Nietzsche hat wohl recht deutlich gespürt, dass seine Lehrstücke vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht gerade dies nicht zu leisten vermögen – Denken und Leben zueinanderzuführen. Vor allem ein gestilltes Denken, das Stille mitten im Leben eröffnet, sucht man bei Nietzsche vergeblich.

Zweiter Nachgedanke: Der denkende Mensch mitten im Leben, und dies als allgemeine Erscheinung – das ist die vielleicht größte Illusion der aufgeklärten Moderne. Wer kann unter (spät)modernen Bedingungen überhaupt noch denken, ohne dafür vom Leben bestraft zu werden?