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Donnerstag, 25. Juli 2019

517

Kürzlich habe ich mich tatsächlich dazu durchgerungen, mich an einer kurzen Klimadebatte im kleinen Freundeskreis zu beteiligen. Warum bin ich hier üblicherweise sehr zurückhaltend?

Samstag, 20. Juli 2019

516

Wenn für den deutschen Soldaten vom Rückblick auf den 20. Juli 1944 etwas bleiben kann, dann ist es dies: Er muss bereit und fähig sein, unabhängig von der Zahl der Likes aus Gesellschaft und Politik das Richtige und Gute ausfindig zu machen und zu tun. Und alles andere zu lassen.

515

Es gibt Menschen, die halten sich für kritisch, weil sie unermüdlich und akribisch Unstimmigkeiten und Fehler im gesellschaftlichen und politischen System aufzudecken und anzuprangern versuchen. Kritik dieser Art, in der immer auch die geradezu diebische Freude des Kritisierenden an der eigenen Intelligenz und an der eigenen Moralität mitklingt, ist jedoch nichts anderes als Funktion des jeweils geltenden Allgemeinen. Mit Kritik im eigentlichen, etwa im Kantischen Sinne, hat diese Art von Kritik nichts zu tun.

514

Vor 75 Jahren scheitert der Versuch, Hitler zu töten. Eine Überlegung: Die historische Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Faschismus und der von ihm installierten Vernichtungsmaschinerie lässt sich mit guten Gründen behaupten. Und mit guten Gründen kann man fordern, sich der Einzigartigkeit des im Nationalsozialismus wirklich gewordenen Bösen zu erinnern.
Wenn allerdings diese Erinnerung in ihrer Perpetuierung gerinnt und wenn dabei die Erinnerung an das einzigartig Böse, selbst die Erinnerung an den Widerstand gegen das einzigartig Böse, zuletzt allein noch dem Zweck dient, das dem einzigartig Bösen Folgende als das einzigartig Gute zu behaupten und abzusichern, dann werden die Behauptung der Einzigartigkeit des Bösen und die Erinnerung daran selbst zur Gefahr. Weil sie den Blick auf das Böse im folgenden Guten verstellen, weil sie vor allem den Blick auf die natürliche und kulturelle Anfälligkeit verstellen, die sowohl das einzigartig Böse als auch das folgende, vermeintlich einzigartig Gute möglich gemacht hat.
Die natürliche und kulturelle Anfälligkeit der Deutschen ist der allzu leichtfertige Gehorsam gegenüber dem jeweils als gültig auftretenden Allgemeinen. Daran hat sich in den vergangenen 75 Jahren nur wenig geändert.

Eine Überlegung am Rande: Auch der deutsche militärische Widerstand rund um Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist bei der Planung des Tötungsversuchs einem Allgemeinen gefolgt, war mit dem Tötungsversuch auf ein Allgemeines aus – auf ein Allgemeines, das rückblickend glücklicherweise nicht wirklich geworden ist. Und damit stellt sich auch hier die alte normative Frage: Wenn man nicht will, worauf Menschen hinaus wollen, kann, darf man dann dennoch bewundern, was sie tun?

Freitag, 19. Juli 2019

513

In mir wirken drei jeweils stark ausgeprägte Unfähigkeiten, teils miteinander, teils gegeneinander: die Unfähigkeit, Gott zu lassen, die Unfähigkeit, Gott im Weltwirklichen wahrzunehmen oder ihn ins Weltwirkliche hineinzuinterpretieren, und schließlich die Unfähigkeit, Zuflucht zu finden in einer Gültigkeitsfiktion, in einem als ob des Göttlichen – es sei religiöser oder metaphysischer, theologischer oder philosophischer Natur.
Diese drei Unfähigkeiten sind gewissermaßen die natürlichen Bedingungen, die zumindest in Ansätzen gegeben sein müssen, um sich reservativer Interpretation und reservativer Wirklichkeitshaltung überhaupt annähern zu können.

Anmerkung: Angesichts meiner drei Unfähigkeiten ist es nicht verwunderlich, dass mich weder die reformatorische Theologie noch die (deutsche) idealistische Philosophie auf Dauer hat überzeugen und binden können.

Donnerstag, 18. Juli 2019

512

Subjekt, Person, Individuum – allzu gerne glauben wir, dass diese und ähnliche Begriffe, mit deren Hilfe, von denen ausgehend wir heute unsere (politische) Wirklichkeit zu konstruieren und zusammenzuhalten versuchen, tatsächlich eine mögliche Wirklichkeit sind, dass mit ihnen zumindest etwas mögliches Wirkliches bezeichnet ist.
Dieser Glaube ist eine quasi-religiöse Annahme, die durch nichts Wirkliches gestützt werden kann. Die in den Begriffen Subjekt, Person oder Individuum angenommene Möglichkeit formaler oder substanzieller Einheit, Unteilbarkeit, Stabilität entspricht keiner wirklichen und auch keiner möglichen Wirklichkeit. Was das letztlich für die mögliche Einheit, Unteilbarkeit und Stabilität unserer (politischen) Wirklichkeitskonstruktionen bedeutet, lässt sich leicht vorstellen. Auf Sand gebaut.

Anmerkung: Die gesamte Kantische Transzendentalphilosophie steht und fällt mit der quasi-religiösen Annahme, Behauptung, Forderung, dass das, was als Bedingung Wirklichkeit überhaupt erst möglich macht, eben darum gültig und damit wirklich sein muss. Der alte religiöse Handstreich also, lediglich in säkularisierter, konsequent verdiesseitigter Fassung.

Nachbemerkung: Die hier angedeutete Kritik schließt nicht aus, dass wir auf dem Weg hinein in ein Jenseits der Gültigkeiten durchaus vorläufig auf Gültigkeitsfiktionen wie Subjekt, Person oder Individuum setzen können. Vermutlich müssen wir das sogar. Es muss uns allerdings bewusst sein und bleiben, was wir da tun.

511

Was der Fromme nicht glaubt: Er glaubt nicht, dass seine Interpretationen, seine Empfindungen und sein Praxis sehr viel mit seiner Natur, seiner Erziehung und seinem kulturellen Herkunftskontext zu haben – nur sehr wenig aber oder auch gar nichts mit Gott. Er glaubt nicht, dass er gerade in dem, worin er sich Gott nahe wähnt, Gott ausgesprochen fern ist.
Der Fromme glaubt nicht an die eigene Gottlosigkeit, an die Gottlosigkeit der Weltwirklichkeit in der eigenen Person. Sie ist ihm unerträglich. Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, die Gottlosigkeit der Welt zu ertragen, und religiöser Musikalität.

Anmerkung: Säkular gewendet gibt es selbstverständlich auch einen positiven Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, den Nihilismus, die Nichtigkeit des Wirklichen zu ertragen, und metaphysischer Musikalität. Also der Neigung, Ideen und Idealen, metaphysischen Erzählungen unterschiedlichster Art anzuhängen.

Montag, 15. Juli 2019

510

Heute auf der Autobahn einen Reisebus überholt. Auf der Motorhaube im Heck stand in großen geschwungenen Lettern zu lesen: Make Today So Awesome That Tomorrow Gets Jealous.
Besorgniserregend ist nicht der Satz an sich. Als solcher lässt er sich ja durchaus als lächerlicher Einfall eines überspannten Werbetexters beiseite schieben. Besorgniserregend ist dieser Satz als Symbol. Als Symbol für eine nicht unerhebliche generationsübergreifende Zahl von Menschen in modernen Gesellschaften, die mit eben dieser Erwartung an die Wirklichkeit herantreten und die die Welt mit eben dieser Erwartung auszukaufen versuchen: Das Leben als unendliches und sich selbst unausgesetzt überbietendes Spektakel.

Samstag, 13. Juli 2019

509

Gegenwärtig wollen die okzidentalen Gesellschaften und Politiken gleichzeitig (und dies in globaler Dimension), was nicht gleichzeitig zu haben ist: Sie wollen den (spät)modernen Menschen, die ihm zuträglichen Formgebungen, die mit ihm gegebenen, vor allem materiellen Segnungen. Zugleich wollen sie die Begrenzung, gar Überwindung der dem (spät)modernen Menschen eigentümlichen Deformierungen und des mit ihm zugleich gegebenen, vor allem ökonomischen und ökologischen Unheils. Das geht nicht zusammen. Wer den (spät)modernen Menschen mit seinen Errungenschaften will, der muss zugleich auch dessen Abgründe und Katastrophen wollen. Die Idee einer sensibilisierten, reflexiven Moderne ist eine nette aber gefährliche Gaukelei. Diese Gaukelei zügelt nichts, die hält nichts auf, sie verhindert nichts.

Nachgedanke: Die gegenwärtige Panik vor den unvermeidlichen Abgründen des (spät)modernen Menschen, die damit einhergehende, teils dramatische Durchmoralisierung und Vergesetzlichung aller Lebensbereiche okzidentaler Gesellschaften (insbesondere in Deutschland) – eine säkular-religiöse, geradezu mittelalterliche Angst vor der Verfehlung oder gar dem Verlust des Heils, verbunden mit verzweifelten Selbstentlastungs- und Selbstrechtfertigungsbemühungen.

Freitag, 12. Juli 2019

508

Wenn man tatsächlich glaubt, Vorbilder haben, Vorbildern folgen zu müssen: Dieser Glaube wird immer dazu zwingen, das gewählte Vorbild so stark zu verkürzen und das Verkürzte so stark zu überhöhen, dass das Bild, dem man dann zuletzt folgt, nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Donnerstag, 11. Juli 2019

507

Es gibt Lebensphasen, in denen wir uns genötigt sehen, ganz in dieser Welt seiend, uns mit aller Kraft an das reservative nicht von dieser Welt zu klammern. Weil uns nichts anderes geblieben ist, als der reservative Nihilismus.

Es gibt aber auch Lebensphasen, in denen wir der Stadt Bestes suchen (Jer 29,7), in denen wir ganz weltlich ganz in dieser Welt sein dürfen. In diesen Phasen darf der reservative Nihilismus ruhig verklingen und zu einer Art Hintergrundrauschen der Existenz werden.

Entscheidend ist die bleibende Aufmerksamkeit dafür, dass cantus firmus und Kontrapunkt nicht vertauscht, nicht verwechselt werden. Die systematische Vertauschung von cantus firmus und Kontrapunkt ist eines der herausragenden Merkmale der Theologie des Christentums (siehe auch Nr. 422).

506

Aufschlussreich – die gegenwärtige öffentliche, vor allem auch sozial-mediale Empörung über das Verfahren zur Nominierung der schließlich ausgehandelten Kandidatin für den EU-Kommissionsvorsitz. Fragwürdig ist weniger das Verfahren selbst. Deutlich fragwürdiger ist der Glaube, der die Empörung über das Verfahren antreibt. Der Glaube an eine bestimmte Idee von Demokratie als Politik und der Glaube daran, dass diese Idee tatsächlich Wirklichkeit sein oder werden könnte. Wer glaubt, dass Demokratie als Politik repräsentativ sein kann, wer Demokratie als (mittelbare oder unmittelbare) Repräsentation für eine mögliche Wirklichkeit hält, der ist in der Tat politisch ein Kind.

Donnerstag, 4. Juli 2019

505

Zu Nr. 503 und 504: Die reservative Interpretation und Praxis gebraucht die (christliche) geordnete Sesshaftigkeit und die (islamische) offene Pilgerschaft gleichermaßen, lässt sich allerdings von den jeweiligen Bindungskräften, von der Sucht nach Endgültigkeit und von der Flucht vor Endgültigkeit nicht festsetzen.
Das wohl treffendste Symbol reservativen Lebens ist die abrahamitische Existenz. „Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, an einen Ort zu ziehen, den er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen im Land der Verheißung wie in einem fremden Land und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (Hebr 11,8–10). Der reservativ Existierende begreift sich in der Weltwirklichkeit als pilgernder Fremdling, und dies an dem Ort, an dem er sich in der Wirklichkeit wiederfindet und den er für sich als Land der Verheißung annimmt. Das meint: Er lässt sich vorläufig auf eine Endgültigkeit ein, die er unausgesetzt als vorläufig interpretiert. Alles, was er hat, hat er immer schon losgelassen. Alles immer schon Losgelassene hat er, als habe er es auf Dauer.

504

Zu Nr. 503: Was hier vorläufig angedeutet ist, gilt selbstverständlich nicht für jede christlich imprägnierte Kultur, auch nicht für jede islamisch imprägnierte Kultur. Die christliche Sucht nach Endgültigkeit findet sich vor allem im (erweiterten) kontinentaleuropäischen, die islamische Flucht vor der Endgültigkeit findet sich vor allem im (erweiterten) arabischen Raum.
Wenn sich die Heuristik der geordneten Sesshaftigkeit einerseits und die Heuristik der offenen Pilgerschaft andererseits tatsächlich als treffend erweist, dann lässt sich damit etwa erklären, warum die kontinentaleuropäische Interpretation und Praxis zwar eine gewisse Attraktivität in den arabischen Kulturraum ausstrahlt, hier jedoch auf Dauer kulturell keinen An- und Rückhalt finden kann. Erklären lässt sich etwa das unvermeidliche Scheitern des sogenannten Arabischen Frühlings, auch das unvermeidliche Scheitern der Gründung und Sicherung eines sogenannten Islamischen Staates. Erklären lässt sich aber auch, warum Muslime einer bestimmten Kulturprägung, die im europäischen Kontext leben, unvermeidlich in subkulturelle Milieus ausweichen und hier abseits der europäischen Ordnungsvorstellungen ihr eigenes Ding drehen müssen.

Mittwoch, 3. Juli 2019

503

Erste ganz vorläufige Formulierung einer Intuition. Über eine kulturelle Prägungsdifferenz, die mir nicht wenig zu erklären scheint.

502

Enttäuschungsschmerzen sind Wachstumsschmerzen. Sofern wir sie uns als solche dienen lassen.

Dienstag, 2. Juli 2019

501

Gestern bin ich auf David Hayward, auf Nakedpastor aufmerksam geworden. Auf einen Menschen, der die Dekonstruktion seiner Religion, seiner Theologie, seiner Profession offensichtlich existenziell durchlebt und durchlitten hat. Sehr schön etwa die Skizze seines Gottesverlustes:


Spontan erinnert mich die Skizze an den Gedanken Bonhoeffers: „Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt.“

Für Nakedpastor ist heute die Dekonstruktion die Mission. Schon das lässt mich innerlich einen Schritt zurücktreten. Meine fundamentalere Distanz ist jedoch diese: Religiöse Christen wie David Hayward (oder auch wie Josh de Keijzer mit seinem Blog End of God), die im Interpretationsraum der Dekonstruktion Erklärungen für ihren eigenen Gottesverlust gefunden haben, bleiben nicht selten in diesem Raum hängen, richten sich gewissermaßen in der Öffnung und Offenheit der Dekonstruktion bequem ein. Damit bleiben Sie einerseits negativ im Schema ihres Gegners gefangen. Damit sind sie andererseits nicht mehr als ein Phänomen, ein Symptom ihrer Zeit, ein Symptom der späten Moderne. Mir selbst wäre das zu schlicht, zu wenig, zu kurz gesprungen.

Montag, 1. Juli 2019

500

Im Kairos muss man die Wirklichkeit handhaben wie im Gefecht.