Dienstag, 30. Juli 2024
1045
Seit einigen Wochen beobachte ich hier und da einen neuen Stern am Literatur- und Theoriehimmel: Lea Ypi. In ihrem aktuellen Buch rekonstruiert sie Kants Architektonik der Vernunft, öffentlich wahrgenommen wurde sie aber vor zwei Jahren vor allem mit der autobiographischen Analyse ihrer Kindheit und Jugend im poststalinistischen Albanien. Als (politische) Philosophin steht Ypi für das, was sie selbst moralischen Sozialismus nennt – für einen kapitalismuskritischen und radikaldemokratischen Versuch, aus der theoretischen Verschlingung von Kant und Marx ein neues gesellschaftliches und politisches Ideal zu gewinnen.
Montag, 29. Juli 2024
1044
Man sagt, Religion diene der Kontingenzbewältigung. Wir haben Religion, wir sind religiös zum Zwecke der Handhabung von Offenheit und Ungewissheit des Wirklichen. Das gilt aber wohl für alle Erzählungen, die wir vom Wirklichen und über das Wirkliche erfinden oder ausfindig machen. Vielleicht kann man sogar sagen: Sprache überhaupt ist Kontingenzbewältigungspraxis. Sprache ist das Instrument unseres Bewusstseins zur Bewältigung der ängstigenden Ohnmacht inmitten einer als kontingent wahrgenommenen Wirklichkeit.
Mittwoch, 24. Juli 2024
1043
Am vergangenen Sonntagabend in Köln, zwischen Hauptbahnhof und Heumarkt, der inzwischen gewohnte Weg durch die Altstadt. An diesem Abend ist alles ein wenig anders: Ich muss durch die menschlichen, hier und da allzumenschlichen Residuen der ColognePride 2024 hindurch.
Dienstag, 23. Juli 2024
1042
Max Weber fragt und sucht nach möglichen Bestimmungsgründen und Bedingungen für die Revolution okzidentaler Moral zwischen Mittelalter und Moderne, für die Überwindung der Moral der Mäßigung durch die Moral des Mehr. Wesentlich sind hier Impulse aus der reformatorischen Uminterpretation des Wirklichen und ihren modernen Anverwandlungen.
Nicht weniger spannend ist die Suche nach Bestimmungsgründen und Bedingungen für die Revolution des okzidentalen Selbstverständnisses zwischen Reformation und Spätmoderne, für die Überwindung des Selbst als Sünder durch das Selbst als Subjekt, für die Überwindung unbedingter Selbstkritik durch unbedingte Selbstbehauptung. Wesentlich sind hier wohl Impulse aus der modernen Uminterpretation des Wirklichen und ihren postmodernen Anverwandlungen.
Die Pointe hier wie dort: Das wirkliche Ergebnis beider Revolutionen weicht deutlich ab von dem, was die jeweils Uminterpretierenden noch im Sinn und vor Augen hatten.
1041
Was meine ich, wenn ich Verzweiflung sage: Mit Verzweiflung meine ich nicht etwa einen psychischen Zustand letzter Verzagtheit, kein Gefühl überbordender Schwermut. Mit dem Begriff Verzweiflung bezeichne ich vielmehr einen interpretatorischen Zustand, in dem nichts übrigbleibt als ein allerletzter interpretatorischer Akt – der Sprung in den Ab-Grund, das Wagnis des Nichts.
Montag, 22. Juli 2024
1040
Während der langen Bahnfahrten, die ich derzeit über mich ergehen lassen muss, klicke ich mich hin und wieder durch Podcasts mit mehr oder weniger philosophischen oder theologischen Inhalten.
1039
Was uns verführt und verleitet: dass wir an unsere Begriffe glauben.
Mittwoch, 17. Juli 2024
1038
Was Kant selbst noch wusste: Sein kategorischer Imperativ, sein als ob jeder Praxis, hat nur wenig zu tun mit dem, was man gemeinhin als Goldene Regel bezeichnet. Das triviale quod tibi fieri nolueris alteri ne feceris, so Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, könne gerade nicht als Prinzip dienen, weil es keinen allgemeinen und insofern verbindlichen Grund angebe. Kants Imperativ, so muss man Kants Beobachtung messianisch interpretierend verschärfen, hat schon gar nichts gemein mit der praktischen jesuanischen Empfehlung, der Einzelne solle dem Anderen alles tun, was er von ihm wolle, dass dieser es ihm auch tun solle (Mt 7,12).
Dienstag, 16. Juli 2024
1037
Vor einigen Tagen das Attentat auf Donald Trump. Trump selbst wird nur leicht verletzt. Im Fokus der nachträglichen Aufarbeitung des Ereignisses steht auch eine leichte Kopfbewegung Trumps unmittelbar vor dem Schuss. Die Bewegung – Trump hatte seinen Blick in diesem Augenblick wohl auf eine Anzeigetafel richten wollen – rettet dem US-Präsidentschaftskandidaten das Leben.
Montag, 15. Juli 2024
1036
Zu Nr. 1034: Das Christentum selbst ist keine (notwendige) Bedingung der Möglichkeit der Ungültigkeitsinterpretation. Es steht dieser Interpretation eher im Wege. Möglich ist allerdings, dass die Deutungsarbeit an zwei christlichen Bildern eine Atmosphäre stiftet, in der die Annäherung an das messianische als ob nicht zumindest erleichtert wird: unmittelbar die Arbeit am Bild des Kreuzes, wenn und insofern sie das Ende der Gottesrepräsentation im Wirklichen vorbereitet, mittelbar die Arbeit am Bild der Auferstehung, wenn und insofern sie die Hoffnungen auf eine heilende Gottesrepräsentation im Wirklichen überdehnt und die Hoffenden damit zuletzt in die Entzauberung hineintreibt.
Donnerstag, 11. Juli 2024
1035
Meine Erkenntnis richtet sich sowohl gegen meine Natur als auch gegen meine Prägung. Nun ist es leicht, diese Erkenntnis zu haben in Zeiten, in denen die Lebensbedingungen die Bedürfnisse von Natur und Prägung halbwegs befriedigen. Schwer wird es erst dann, wenn diese Befriedigung fehlt oder ausbleibt. Erst dann muss sich tatsächlich bewähren, was ich erkannt habe. Das Erkannte bewährt sich, wenn es mir gelingt, mit seiner Hilfe den Vergegenwärtigungsdruck, dem mich meine Natur und meine Prägung aussetzen, zu lösen, zumindest zu moderieren.
Mittwoch, 10. Juli 2024
1034
Einige meiner stillen Überlegungen der vergangenen Wochen haben mich hier und da zum Streit zwischen Barth und Brunner zurückgeführt. Mich beschäftigt nach wie vor und immer wieder die Vermittelbarkeit des messianischen als ob nicht. Mich beschäftigen damit gerade auch die Bedingungen der Möglichkeit des als ob nicht überhaupt. Unter welchen Voraussetzungen wird Ungültigkeitsinterpretation allererst möglich (siehe u.a. Nr. 262, 326)?
Dienstag, 9. Juli 2024
1033
In der Theologie des Christentums setzt sich fort, was sich auch in der Theologie des Judentums schon beobachten lässt: eine Sakralisierung des Ertrotzten. Herausragend und folgenschwer ist die Heiligsprechung des Gesetzes (siehe auch Nr. 838).