Mittwoch, 25. Oktober 2017
327
Die gegenwärtige Zerbrechlichkeit unserer engsten sozialen Beziehungen, unserer Partnerschaften und familialen Milieus, lässt sich ursächlich auch zurückführen auf die ungeeignete oder gar fehlende Begleitung unserer Kinder im Prozess ihrer Annäherung an die Praxis von Geschlechtlichkeit und Partnerschaft.
Sonntag, 22. Oktober 2017
326
Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ aus dem Jahr 1519: ein eindrückliches Beispiel für seinen Begriff und seine Handhabung des Glaubens. Eine starke, mit robustem Strich gezeichnete Bilderwelt der Hoffnung wird der Realität (des Sterbens) und einer (im Sterben) sich aufdrängenden, ängstigenden religiösen Bilderwelt entgegen gestellt. Luther müht sich geradezu darum, Realität und ängstigende Religion durch Glauben so zu überdecken, dass sie nicht mehr sichtbar sind und ihre Macht verlieren.
Freitag, 20. Oktober 2017
325
Der Fehler der Pascal’schen Wette: sie wird zum Zweck des Erwerbs der Gotteswirklichkeit abgeschlossen. Wollte man reservativ wetten, so könnte man dies allein zum Zweck des Dienstes in und an der Weltwirklichkeit tun. Und dies mit einem doppelten Vorteil: Ob sich nun der reservative Glaube, die Setzung der ganz anderen Gotteswirklichkeit und die Annahme der Ungültigkeit der Weltwirklichkeit (als ob nicht) als „wahr“ oder als „unwahr“ erwiesen haben wird, so wird dieser Glaube doch in jedem Falle der Weltwirklichkeit gedient, so wird der Glaubende doch in jedem Falle der Weltwirklichkeit seinen reservativen Dienst erwiesen haben.
Ohne reservativen Glauben dagegen wird die repräsentative Schädigung der Weltwirklichkeit beschleunigt und verschärft. Dies allerdings, repräsentativ formuliert, ohne jede Transzendenzrelevanz, ohne jeden Transzendenzeffekt.
Mittwoch, 18. Oktober 2017
324
Ich beschäftige mich gerade noch einmal mit Luthers ehetheologischen Texten. Das darin alles ergreifende und durchdringende Interpretament: eine fiktionale Schöpfungstheologie. Hier geht es nicht (mehr) um die praktische Rekonstruktion und (noch) nicht um die praktische Konstruktion einer Schöpfungsordnung oder eines Schöpferwillens. Wirklichkeit soll nicht auf ein in der Vergangenheit liegendes Schöpfungsideal zurückgeführt oder einem in der Zukunft liegenden Schöpfungsideal entgegengeführt werden. Die Wirklichkeit, hier die Wirklichkeit der Ehe und des Partners, soll lediglich durch die Fiktion einer Schöpfungsordnung oder eines Schöpferwillens hindurch angeschaut, sie soll im Glauben wahrgenommen werden. Damit ist und wird die Wirklichkeit nicht verändert. Der Ehepartner und die Ehe selbst bleiben, wie sie nun einmal sind. Was sich jedoch ändert, ist die Haltung des Glaubenden gegenüber der Wirklichkeit und seine Handhabung der Wirklichkeit. Glaubende schauen und nehmen ihre Ehe und ihre Ehepartner an, wie sie vom gedachten Schöpfer gedacht sind – also einer Fiktion, nicht der Realität gemäß. Und Glaubende handhaben ihre Ehe und ihre Ehepartner so, wie es dem gedachten Willen eines gedachten Schöpfers entspricht – also wie es die Fiktion fordert, nicht die Realität.
Die fiktionale Ehetheologie Luthers ist einer reservativen Ehetheologie strukturell sehr ähnlich. Sie wählt allerdings als leitendes Interpretament ein als ob der Schöpfungsordnung, nicht ein als ob nicht des messianischen Ereignisses. Damit verharrt sie im Repräsentativen.
Dienstag, 17. Oktober 2017
323
In Zeiten der Vervielfältigung und Vergleichgültigung der Geschlechter ein Versuch der Typisierung des schlicht natürlich Männlichen und des schlicht natürlich Weiblichen in ihrem Verhältnis zueinander, in ihrer Korrespondenz.
322
Niklas Luhmanns bekanntes Forschungsprogramm: Theorie der Gesellschaft. Laufzeit: 30 Jahre. Kosten: keine. Mein gänzlich unbekanntes Forschungsprogramm: Theologie reservativen Lebens. Laufzeit: lebenslänglich. Kosten: repräsentatives Leben.
Weder mit Luhmanns noch mit meinem Forschungsprogramm kann man in der gegenwärtigen Wissenschaftsindustrie (noch) reüssieren. Wissenschaft muss heute etwas kosten. Die Kosten dürfen allerdings nicht zu hoch sein. Sie müssen zählbar bleiben.
Montag, 16. Oktober 2017
321
Vielleicht ist es so, darf es so sein: Die Praxis liegt verborgen in der Interpretation, die Interpretation liegt aber auch verborgen in der Praxis. Die Tat wird geboren aus dem Glauben, der Glaube wird aber auch geboren aus der Tat. Glaube, so wirst Du handeln. Handle, so wirst Du glauben. Für manche Menschen, für manche in sich selbst verkrümmte Wesen scheint mir dies die einzige Hoffnung zu sein.
Sonntag, 15. Oktober 2017
320
Nachtrag zu Nr. 319: Eine Interpretation, die nicht stark genug ist, sich auch gegen die Wirklichkeit natürlicher oder geschaffener Gesetze praktisch zu behaupten, sich gegen die Wirklichkeit praktisch durchzusetzen, erliegt früher oder später der Versuchung, zu einer Rechtfertigungsstrategie dieser oder jener Wirklichkeit, dieser oder jener Gesetze der Natur oder der Kunst zu werden – der Gesetze der Existenz, des Seins, der Kultur, des Milieus oder des Ereignisses. Im abendländischen Raum der Interpretationen äußert sich die Hingabe an diese Versuchung vor allem im Christentum und seinen Säkularisaten.
Samstag, 14. Oktober 2017
319
Jede Interpretation, jeder Glaube steht einer kaum über- und durchschaubaren Wirklichkeit natürlicher und geschaffener Gesetze gegenüber, die Wollen und Tun zu bestimmen versuchen. Tatsächlich gefordert ist der Glaube erst dann, wenn er sich gegen die Wirklichkeit praktisch durchsetzen muss. Wenn er zu Wollen und Tun treiben muss gegen die Gesetze der Existenz, des Seins, der Kultur, des Milieus oder des Ereignisses. Wenn er gegen die zu Wollen und Tun treibenden Gesetze der Existenz, des Seins, der Kultur, des Milieus oder des Ereignisses zu Warten und Stille befähigen muss. Eine Interpretation, ein Glaube muss letztlich so stark sein, dass er sich auch gegen die Wirklichkeit natürlicher und geschaffener Gesetze praktisch zu behaupten vermag (das ist der Anspruch an jede ethische Theorie, an jedes normativ-ethische Interpretationssystem, an jeden praktisch-normativen Glauben).
Es lässt sich kaum ein stärkerer Glaube denken als der reservative. Gleich nach ihm kommt wohl Kohelets Nihilismus.
Es lässt sich kaum ein stärkerer Glaube denken als der reservative. Gleich nach ihm kommt wohl Kohelets Nihilismus.
Mittwoch, 11. Oktober 2017
318
„Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon“ (Lk 16,9). Die hohe Kunst reservativen Lebens, nur für Fortgeschrittene: das Spiel der Repräsentativen in reservativer Absicht spielen, als wäre es das eigene Spiel.
Montag, 9. Oktober 2017
317
In seiner Nachfolge formuliert Bonhoeffer: „Der Begriff einer Situation in der geglaubt werden kann ist nur die Umschreibung des Sachverhalts, in dem die folgenden zwei Sätze gelten, die in gleicher Weise wahr sind: Nur der Glaubende ist gehorsam und nur der Gehorsame glaubt. Es ist eine schwere Einbuße an biblischer Treue, wenn wir den ersten Satz ohne den zweiten lassen.“
Sonntag, 8. Oktober 2017
316
„Mein Angesicht kannst du nicht sehen. Denn kein Mensch wird
leben, der mich sieht“ (Ex 33,20). Unverstelltes Ungültigkeitsevangelium. Das
Leben der Gotteswirklichkeit ist der Tod des Lebens der Weltwirklichkeit. Daher
ist Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit immer nur fiktional zu „haben“.
Dies aber noch nicht einmal als seinsanaloges, relationales, repräsentatives „als
ob“, sondern lediglich als dürres, verstelltes, vorübergehendes, sich immer
wieder entziehendes „als ob nicht“ der Weltwirklichkeit. Dieses Evangelium,
dieses „als ob nicht“ hat im messianischen Ereignis gerade nicht sein Ende
gefunden, sondern zeigt sich hier vielmehr in bekräftigter und geschärfter
Weise.