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Montag, 29. Februar 2016

10

Gestern früh, wieder beim Bäcker. Dieses Mal bedient mich ein junger Mann. Wie üblich, bestelle ich die weiße Semmel, ohne genauer anzugeben, wie sie aussehen und beschaffen sein soll. Während der Herr hinter sich in die Kiste greift, flötet mir Andreas Bourani aus dem Lautsprecher im Laden seine Weltmeisterschaftshymne ins Ohr: „Und solange unsere Herzen uns steuern, wird das auch immer so sein. Ein Hoch auf das, was vor uns liegt, dass es das Beste für uns gibt…“. Ganz kurz denke ich darüber nach, was das wohl für meine Semmelbestellung bedeuten könnte: Soll ich den netten Bäckereifachverkäufer mal fest in meine Armee schließen? Oder soll ich ihn doch eher von der Semmelkiste wegdrängen und selbst nach der Semmel meines Herzens suchen?

09

Die Wirklichkeit übt heute gerade auch in ihren Virtualisierungen eine erschreckende und destruktive Macht aus. Der Kultursoziologe Max Weber formuliert zu Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu prophetisch: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“

Sonntag, 28. Februar 2016

08

Auch die Religion funktioniert heute im Topmodel-Modus - bis hinein in die Gottesdienste. Besonders deutlich lässt sich das an dem demonstrieren, was wieder einmal aus der virtuellen US-Kultur zu uns hinübergeschwappt ist: am Trend zum Worship oder Lobpreis.

Samstag, 27. Februar 2016

07

Wie verständigen wir uns eigentlich? Wie tauschen wir unsere Vernünftigkeiten, unsere Interpretationen aus? Durch das, was wir Sprache nennen. Was tauschen wir da aus?

06

Von einer Illusion müssen wir uns verabschieden: dass die einzelnen oder allgemeinen Interpretationen, die wir zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort pflegen, Wahrheit seien. Unsere Interpretationen sind immer nur Symptom, und wichtiger, als die Suche nach Wahrheit, ist die Diagnose, wofür wir und unsere Interpretationen Symptom sind. Allerdings: Unsere Diagnosen sind ja selbst wiederum bloß Interpretationen. Nun kann man gerade diese Offenheit als Wahrheit begreifen und darin zu verharren versuchen. Aber kann uns das tatsächlich gelingen? Können wir so leben? Oder brauchen wir nicht doch so etwas wie Schließungen? Wenn ja - welche schließende Interpretation unserer Interpretationen ist möglich und hilfreich?



Freitag, 26. Februar 2016

05

"Hallo Mädchen!" Heidi gibt mal wieder den emphatischen Drill Instructor. "Na, geht's euch gut? Seid Ihr happy? Du siehst so edgy aus! Machst Du, was ich von Dir will? Nein? Moment, ich muss kurz telefonieren - das Ticket für Deinen Heimflug buchen." Einfach Abschalten? Nein. Anschauen, nachdenken, Diagnose stellen. Wirklichkeit durchschaue ich nicht, indem ich wegschaue.

Donnerstag, 25. Februar 2016

04

Was hält uns eigentlich zusammen? Oder besser: Was soll uns verbinden? Kant spricht von der ungeselligen Geselligkeit der Menschen. Offenbar können wir nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander leben. Worauf setzen wir nun in diesem Widerstreit?

Mittwoch, 24. Februar 2016

03

Arbeite gerade noch einmal an Kierkegaards "Furcht und Zittern". Leseempfehlung, gut in dieser Ausgabe (erscheint 2016 als Neuauflage). Warnung: Wen das Buch auf dem falschen Fuß erwischt, der muss sich warm anziehen ;-)

02

Die Interpretationen, durch die hindurch wir die Wirklichkeit wahrnehmen und einschätzen, sind vielfältig bedingt: durch unsere genetische Disposition, durch das unmittelbare Milieu, in dem wir aufgewachsen sind, durch unsere Erfahrungen, also die unzähligen Traumata, die Eindrücke des Glücks oder des Leids in uns hinterlassen haben. Linguistic turn und cultural turn in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts haben uns darauf aufmerksam gemacht, wie stark unsere Vernünftigkeiten abhängig sind vom kulturellen Kontext und von der Sprache, in denen uns Wirklichkeit vermittelt wird. Besonders unangenehm ist uns die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse. Insgesamt scheint es angesichts dieser Vorbedingungen geradezu lächerlich, von Freiheit im Denken und Handeln zu sprechen - was ja unmittelbar auch unsere Vorstellung möglicher Macht über die Wirklichkeit in Frage stellt. Dazu wird noch manches zu formulieren sein.

Dienstag, 23. Februar 2016

01

Die Wirklichkeit erweist sich als widerständig: Die Kaffeebohne, die morgens beim Auffüllen der Kaffeemaschine daneben- und unter den Tisch fällt. Das kränkliche Krächzen am Frühstückstisch, das uns auffordert, die Pläne für den Tag fallen zu lassen. Der Motor, der nicht startet, der Bus, der schon weg ist. Die Menschen, die so anders sind als wir, denen wir aber nicht ausweichen können, weil wir von ihnen abhängig sind. Die Lebensziele, von denen wir irgendwann ablassen müssen, weil die Zeit über sie hinweggeschritten ist. Die kleinen und großen Katastrophen, die das Leben in seinem Gang behindern oder gar radikal wenden.