Nachgedanke: Manchmal frage ich mich, ob Menschen wie Kant auch bereit gewesen wären, ihre im Laufe ihres Lebens und Denkens entwickelte Wirklichkeitserzählung über Bord zu werfen – gesetzt den Fall, die Wirklichkeit wäre ihnen gnädig gewesen und ihre Hoffnungen wären ohne ihr Zutun tatsächlich wirklich geworden. Ich jedenfalls trage diese Bereitschaft nach wie vor in mir. Weil mir das, was ich zu denken genötigt bin, nach wie vor nicht gefällt. Und es gelingt mir schlechtweg nicht, meine Wirklichkeitshoffnungen, die ich natürlicherweise in mir trage, denkend abzutöten.
Donnerstag, 19. August 2021
776
Alles Denken, zumindest das religiöse und metaphysische, lässt sich als Versuch interpretieren, Enttäuschung zu vermeiden oder Enttäuschung zu verarbeiten. Denkend entwerfen wir Erzählungen, mit deren Hilfe wir die künftige Wirklichkeit unserer Hoffnungen sicherzustellen oder unseren erfahrenen Hoffnungsverlust zu handhaben versuchen. Alles Denken ist damit immer eine Form der Distanzierung vom Wirklichen. Denkend sind wir unausgesetzt darum bemüht, der unmittelbaren, schmerzhaften Wahrheit des Wirklichen auszuweichen, zu entkommen.
Mittwoch, 18. August 2021
775
Eine kurze Vorbeobachtung zu einem übergroßen Vorhaben (siehe Nr. 737 und 740): Die Aufgabe, sich einer prä-religiösen, prä-metaphysischen Interpretation des Wirklichen neu anzunähern, ist besonders eindringlich vorweggenommen in der symbolisch so aufgeladenen und schwer zu entschlüsselnden Verhältnisbestimmung von Verheißung und Gesetz, die Paulus in Gal 3 andeutet und in Gal 4 und 5 gerade auch für die Lebenspraxis zu entfalten versucht.
Erste, ganz vorläufige Fragen, die sich hier stellen: Was ist die abrahamitische Verheißungserzählung? Was meint es, prä-gesetzlich (prä-religiös, prä-metaphysisch) aus Verheißung zu leben? Ist prä-gesetzliche Existenz auch jenseits des Gesetzes denkbar, möglich? Wie lässt sich diese Existenz vorstellen – wo wir doch als Existierende in Interpretation und Praxis vollgesogen sind mit Gesetz, mit den Prägungen des Gesetzes, wo wir zugleich von Existierenden eingehüllt, eingeschlossen sind, die nichts anderes kennen und exekutieren als das Gesetz, und dies selbst in post-gesetzlichen Gewändern? Ist, wie ist es möglich, in Interpretation und Praxis dem Schema des Gesetzes, das seine Aufgabe an uns erfüllt hat, endgültig zu entrinnen?
Im Grunde genommen präzisiert also die Frage nach prä-religiöser, prä-metaphysischer Existenz noch einmal die Frage nach dem richtigen Leben im falschen.
Donnerstag, 12. August 2021
774
Eine weitere Urlaubslektüre – ich blättere mich noch einmal durch Agambens Herrschaft und Herrlichkeit. Einer dieser analytischen und diagnostischen Kraftakte, deren wir derzeit so dringend bedürfen.
Dienstag, 10. August 2021
773
Noch einige Sätze zu Hararis Kurzer Geschichte der Menschheit.
Freitag, 6. August 2021
772
Einige Zwischeneindrücke zu Hararis Kurzer Geschichte der Menschheit – vorläufig und verkürzt formuliert.
Donnerstag, 5. August 2021
771
Wir werden nicht los, was wir durch unsere Interpretationen zu bekämpfen versuchen. Mir selbst ist es bislang nicht gelungen, den tief in meiner Natur angelegten und durch meine religiöse Prägung nachdrücklich beförderten präparativen Messianismus abzulegen, ihn hinter mir zu lassen (siehe auch Nr. 45).
Alles, was ich mir in meinem Leben als Aufgabe gestellt habe und stelle, war und ist – mal mehr, mal weniger offensichtlich – auf Ankunft ausgelegt. Auch wenn ich nie der konstruktivistischen Utopie verfallen bin, mir das, worauf ich warte, selbst verschaffen zu können, so war in mir doch immer etwas darauf aus, zumindest die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass irgendwann irgendwie kommen, dass ankommen kann, worauf ich warte.
Und nun schreite ich mit großen Schritten hinein in mein letztes Lebensdrittel – und ertappe mich nach wie vor und immer wieder bei irgendeinem präparativen Akt. Entgegen jeder mir mittlerweile zur Verfügung stehenden Interpretation. Und obwohl die Zeit schön längst über meine Erwartungen hinweggeschritten ist, obwohl mein gewordenes Leben das, worauf ich warte, gar nicht mehr zulassen kann. Wie oft muss man eigentlich über sich selbst den Kopf geschüttelt haben, bevor man seinen interpretatorisch gewonnenen Einsichten in Haltung und Praxis endlich zu folgen vermag?
Mittwoch, 4. August 2021
770
Die beste Antwort auf Differenz ist Schweigen. Zugleich die unmittelbar auffangende, ableitende Tat.
Montag, 2. August 2021
769
Ein lieber Freund hat mir die Kurze Geschichte der Menschheit von Harari empfohlen – und rechtzeitig vor dem Urlaub zugeschickt. Die ersten Seiten sind durchaus kurzweilig und vielversprechend – vielversprechend vor allem wegen des aufgeklärten, nominalistischen Zugangs zur Wirklichkeit. Und wegen der nüchternen Einsicht in den fiktionalen Charakter der kulturbildenden, selbstermächtigenden Erzählungen jenes Wesens, das wir Mensch nennen.
Was sich jedoch bereits auf den ersten Seiten erahnen lässt: Harari kennt offenbar keine nominalistische Trauer. Er weiß nichts von der erschütternden Verlusterfahrung, mit der sich der zuletzt zum Nominalismus gezwungene Suchende in der Begegnung mit der Substanzlosigkeit menschlicher Wirklichkeitserzählungen konfrontiert sieht. Wer jedoch als Nominalist nicht das Leid der Trauer in sich trägt, wer also letztlich nie wirklich hat suchen müssen, der wird nicht selten konstruktivistisch übermütig – gerade auch im Umgang mit den beiden großen Lücken, die es zu schließen gilt, ohne dass dafür noch Substanzen zur Verfügung stünden: mit der Lücke des Sinns und mit der Lücke der Moral. Was ich hier abseits meiner aktuellen Urlaubslektüre von Harari weiß, ist nicht wirklich verheißungsvoll. Aber ich werde es ja sehen. Keine Schließungen vor der Zeit.
Sonntag, 1. August 2021
768
Das, was wir Urlaub nennen. Erlaubnis zu entkommen, auf Distanz zu gehen. Erzwungene Stilllegung. Ende der Möglichkeit, sich selbst durch die Gaukeleien der alltäglichen Betriebsamkeit zu blenden. Für mich in den ersten Tagen immer tiefer Sturz und harter Aufschlag. Aufschlag in der Realität der Realität. In der totalen Sinnlosigkeit von Sein und Existenz, vor der wir heute nicht mehr in Erzählungen, sondern bloß noch in Funktionen fliehen können. Und in den ersten Momenten dessen, was wir Urlaub nennen, will mir seine Funktionalisierung immer nur schwer gelingen. In den ersten Momenten des Urlaubs sehe ich mich also immer unmittelbar und unvermeidlich mit der Wahrheit meiner Wahrheit konfrontiert.