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Mittwoch, 31. Januar 2018

353

Gestern hat Hans Joas vorgetragen. In der Münchner Katholischen Akademie, zu seinem neuen Buch über die Macht des Heiligen. Ein entspannter und durchaus anregender Abend. Joas war sichtlich gelöst, schien sich zu Hause wohl zu fühlen, unter Seinesgleichen, unter Glaubensschwestern und -brüdern. Was mich selbst in der Begegnung mit Menschen wie Joas immer besonders erstaunt: Sie können ganz selbstverständlich reden und schreiben – gerade so, wie andere einen gefüllten Wassereimer ausschütten.

Montag, 29. Januar 2018

352

Angesichts einer sich verschärfenden Zumutung reservativen Ausharrens heute die Erinnerung an Bonhoeffers Formulierung eines Glaubens, der das Walten Gottes in der Geschichte behauptet. Paradox: Tatsächlich behauptet Bonhoeffer in seinem Glaubensbekenntnis einen repräsentativ nicht (mehr) zu verortenden, einen repräsentativ nicht (mehr) dingfest zu machenden Gott. Das Bekenntnis ist eingewoben in einen der stärksten Texte Bonhoeffers: Nach zehn Jahren, geschrieben an der Jahreswende 1942/43, wenige Monate vor seiner Verhaftung. Teile des Bekenntnisses hingen einst über unserem heimischen Küchentisch.

„Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müßte alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“

Sonntag, 28. Januar 2018

351

Im gerade auch medial angeheizten Streben nach Authentizität (Charles Taylor) geht unserer Generation – und durch uns auch den Folgegenerationen – die Fähigkeit verloren, notwendige kulturelle (soziale) Rollen zu bedienen. Darin äußert sich nicht etwa der Verlust von Unaufrichtigkeit, sondern das zunehmende Unvermögen eines geeigneten, angemessenen Gebrauchs kultureller (sozialer) Wirklichkeit.
An diesem Prozess ist erfreulich und notwendig, dass er die kulturelle (soziale) Wirklichkeit, die noch stark von ihrer religiösen und metaphysischen Tradition lebt, aktiv dekonstruiert. An diesem Prozess ist besorgniserregend, dass er nicht von dem Bewusstsein der Substanzlosigkeit kultureller (sozialer) Wirklichkeit vorangetrieben wird, sondern von einer voraufgeklärten, geradezu vornominalistischen Sehnsucht nach substanzieller Eigentlichkeit. Wir versuchen also, der Nichtigkeit der Weltwirklichkeit durch Flucht in die Gaukeleien individueller Substanzen zu entkommen.

Montag, 22. Januar 2018

350

Ich wage die stechende Behauptung: Wen sein repräsentativer Glaube (dieser Glaube sei religiöser oder metaphysischer Natur, das ist einerlei), wen seine Hoffnung auf Repräsentation nicht in die Arme der Reservation treibt, wer also seinen repräsentablen Gott stets zu rechtfertigen und zu entlasten weiß, dessen Glaube kommt noch nicht einmal in die Nähe dessen, was Glaube genannt werden darf, der weiß gar nichts vom Glauben. Der hat sich nicht mit jeder Faser seiner Existenz an seinen Gott, an das Geglaubte gehängt. Dessen Glaube ist kaum mehr als eine mehr oder weniger pragmatische Weise der Kontingenzbewältigung.
Wer dagegen durch einen existenziellen repräsentativen Glauben hindurchgegangen ist, der wird wohl auch unter Bedingungen reservativen Glaubens den Stachel des Alten nicht los. In meinem Falle ist es der Stachel des Amos: Der Löwe brüllt, die Furcht ist groß, doch der Platz ist bei der Herde. Dort, wo man Gottesgebrüll und Gottesfurcht nicht kennt, dort, wo geschwiegen werden muss, wo nicht geredet werden darf (siehe auch Nr. 270).

Mittwoch, 17. Januar 2018

349

Wir können wissen, dass Evidenz in den empirischen Sozialwissenschaften über das Einzelne nichts aussagt, weniger noch als denkend und in heuristischer Absicht gebildete Idealtypen. Wir können wissen, dass Evidenz in den empirischen Sozialwissenschaften auch über das Allgemeine bloß scheinbar Wahres aussagt. Das allgemein Wahre empirischer Sozialwissenschaften lebt immer von unzähligen Abstraktionen und Verkürzungen, vor allem aber auch von der gewagten Annahme, Menschen wüssten tatsächlich und könnten tatsächlich angeben, was sie wirklich treibt.
Obwohl wir nun wissen können, dass Evidenz in den empirischen Sozialwissenschaften weder über das Einzelne noch über das Allgemeine wirklich Wahres aussagt, dass sie also das Einzelne wie das Allgemeine weder aufklären noch beraten kann, so sind wir heute doch überraschend stark geneigt, dieser Evidenz unser Vertrauen zu schenken, uns darauf zu stützen und uns von ihr durch die Wirklichkeit führen zu lassen. Was wir dabei verlieren, ist die Aufmerksamkeit für die wirkliche soziale (einzelne und allgemeine) Wahrheit abseits oder jenseits empirischer sozialer Wahrheiten, und wir verlieren die Fähigkeit, uns über diese Wahrheiten selbständig denkend zu orientieren. Nimm einem empirischen Sozialwissenschaftler sein Datenpaket und seinen beeindruckenden mathematischen Methodenapparat. Er wird unmittelbar blind und hilflos.

Donnerstag, 11. Januar 2018

348

Wie seltsam ist doch unsere Annahme, Gebet könne wie ein Ereignis in den Lauf der Weltwirklichkeit eingreifen, könne den Lauf der Welt zumindest transformierend ändern.

Mittwoch, 10. Januar 2018

347

In seiner Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion kündigt Karl Jaspers in der Mitte des 20. Jahrhunderts an, was unvermeidlich kommen und welche Aufgabe damit dem Denken gestellt sein wird.

Sonntag, 7. Januar 2018

346

Bei Jaspers einen schönen Satz zur Bestimmung der Botschaft jüdischer Prophetie gelesen: „Gott ist es, der die Welt aufrollt wie Teppiche.“ Nach-repräsentativ würde ich noch enger und schärfer formulieren: Gott ist es, der die Weltwirklichkeit, der Sein und Existenz aufrollt wie einen Teppich. Allerdings nicht, um ihn über die Stange zu hängen, auszuschlagen und nach der Reinigung wieder auszurollen. Sondern um ihn end-gültig, sein Ende endlich vergültigend zu entsorgen und zu ersetzen. Das will uns nicht schmecken. Und was uns schon gar nicht schmecken will, weil es so schmerzhaft ist: Dass wir als Existierende mit aufgerollt werden. Dass wir als Existierende mit hineingewirbelt sind in den Prozess des Aufrollens.
Unsere abendländische Gegenwart wird gelegentlich verglichen mit der Dekadenz des römischen Reiches. Jaspers dagegen verweist auf die Zeit der jüdischen Propheten. Das scheint mir tatsächlich treffender und tröstlicher. Die Perspektive im Schmerz des Aufgerolltwerdens ist dann die Wiederkehr des Messias, das verendgültigende messianische Ereignis. Und nicht etwa die Wiederkehr des religiösen Christentums und des römischen Imperiums.

Dienstag, 2. Januar 2018

345

Der moderne Mensch ist ein Meister der Selbstbetäubung, ausgebildet in den Lehranstalten des politischen und ökonomischen Liberalismus, geübt im Gebrauch der liberalen Anästhetika Aufklärung und Mündigkeit.