Und doch: Reservative Interpretation und Lebenspraxis greift selbst und gerade in dieser Lage zu Apfelbaum und Spaten. Erst dann, wenn der Jüngste Tag tatsächlich Wirklichkeit ist, endet das Dasein für die Welt, das Für-andere-da-Sein in der Welt (dazu Nr. 111).
Freitag, 17. November 2017
337
Nach einigen aufklärenden Gesprächen zu Nr. 329, 331 und 336: Nein, letzte Macht über die Kausalitäten ist uns nicht gegeben. Vielmehr: Die qualitative und räumliche Komplexität der Weltwirklichkeit, die wir selbst durch unsere Bemächtigungsversuche befördern, minimiert zugleich unsere Kausalmacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass (vermeintlich) Gutes (vermeintlich) Böses und dass (vermeintlich) Böses (vermeintlich) Gutes bewirkt, wird größer. Die Wahrscheinlichkeit eines (im aristotelischen Sinne) gelingenden, glückenden, glücklichen Lebens geht gegen Null.
Donnerstag, 16. November 2017
336
Ergänzung zu Nr. 331: Der prägende Kontext, gerade auch die Weise des engsten sozialen Zusammenlebens und Zusammenhaltens entscheidet über Bestand und Dauerhaftigkeit einer größeren Gemeinschaft von Menschen, entscheidet über ihr Zusammenbleibenkönnen.
Dienstag, 14. November 2017
335
In meinem wirtschaftsethischen Seminar vergangene Woche einer dieser leider allzu seltenen Momente, in denen im Diskurs die Annäherung an eine relevante Gegenwartsdiagnose gelingt.
Sonntag, 12. November 2017
334
Erfahrung, so lernen wir bei Kant, geht der Erkenntnis zeitlich voraus. Daraus folgt allerdings nicht, dass die Erkenntnis der Erfahrung folgt. Es gibt Menschen (und ihre Zahl scheint mir zuzunehmen), bei denen Erfahrung auf kein Vermögen trifft. Erfahrung trifft hier nicht nur auf ein (noch) wenig oder (noch) fragwürdig ausgebildetes, sie trifft auch nicht auf ein pathologisch verformtes Vermögen. Erfahrung trifft hier tatsächlich auf nichts. Und ihr folgt daher auch nichts. Das bedeutet: Erfahrung wiederholt sich, doch die Existenz bleibt formlos, als hätte es die Erfahrung nie gegeben.
Samstag, 11. November 2017
333
Die Forderung der Reformation: Der Einzelne darf und soll selbst die eine Glaubenswahrheit finden. Alle Einzelnen glauben an den einen Gott. Und folgen seinem Gebot.
Die spätmoderne Wahrnehmung und Praxis der reformatorischen Forderung: Der Einzelne darf und soll selbst seine eigene Glaubenswahrheit finden. Jeder Einzelne glaubt an seinen eigenen Gott. Und folgt dessen Gebot.
Die Forderung der idealistischen Philosophie: Der Einzelne darf und soll selbst zur einen Vernunftwahrheit finden. Alle Einzelnen kommen zu einer Vernunft. Und folgen ihrem Gebot.
Die spätmoderne Wahrnehmung und Praxis der idealistischen Forderung: Der Einzelne darf und soll selbst seine eigene Vernunftwahrheit finden. Jeder Einzelne kommt zu seiner eigenen Vernunft. Und folgt ihrem Gebot.
Die reformatorische Fiktion möglicher Glaubenseinheit und die idealistische Fiktion möglicher Vernunfteinheit scheitern. Wirklich werden die Pluralität der Glaubensgültigkeiten und die Pluralität der Vernunftgültigkeiten. Derzeit mühen wir uns noch darum, diese Pluralitäten irgendwie zusammenzuhalten. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass dies dauerhaft gelingen kann. Denn jedes Ringen um eine mögliche Einheit von Pluralitäten lebt im Kern immer noch von den gescheiterten Fiktionen der Reformation und des Idealismus.
Freitag, 10. November 2017
332
Vorhin im Radio ein Beitrag zur Krise des Ehrenamtes in Bayern – am Beispiel eines Ortes, in dem nun der Bürgermeister und der Pfarrer den Vorsitz des Sportvereins übernommen haben. Weil sich sonst niemand gefunden hat. Nach dem Beitrag ein leidenschaftlich werbendes Votum der Moderatorin: „Ich selbst habe auch 12 Jahre lang ein Ehrenamt ausgeübt. Und ich kann Euch nur sagen: Es lohnt sich!“
Eine Weile denke ich über den Begriff des Ehrenamtes nach – über das (vielleicht typisch deutsche) Bedürfnis, jedes ökonomisch nicht notwendige Für-andere-da-Sein zu Verbeamten und dem Dienst in diesem Amt zumindest so etwas wie Ehre in Aussicht zu stellen. Nachdenklich macht mich aber vor allem das Votum der Moderatorin. Ist es nicht gerade die Eigentümlichkeit des Für-andere-da-Seins auch in einem Ehrenamt, dass es sich nicht lohnt, dass der Da-Seiende ausdrücklich auf Lohn verzichtet? Keinen Lohn erwartet? Auch ohne jeden Lohn da ist? Dass er da ist, selbst wenn er keine Ehre, noch nicht einmal Dankbarkeit erfährt? Dass er sogar da ist, wenn es etwas, vielleicht sogar viel kostet?
Was könnte eine Antwort auf die Krise des Ehrenamtes sein? Es müsste gelingen, das Für-andere-da-Sein dem ökonomischen Diktat zu entwinden. Und vielleicht müsste dieser Prozess bei der Verabschiedung des Begriffs selbst einsetzen.
Donnerstag, 9. November 2017
331
Gestern früh, kurz nach halb acht. Auf meiner kleinen Laufrunde eines dieser traurigen Bilder, die mir (hier im Münchener Speckgürtel) so oder ähnlich inzwischen häufig ins Auge fallen.
Mittwoch, 8. November 2017
330
„Wer den Harnisch anlegt, soll sich nicht rühmen wie der, der ihn abgelegt hat“ (1 Kön 20,11). Im Kontext ausgesprochen als Warnung, wahrgenommen als Provokation.
Für den Wirklichkeitskrieger selbst eine unverzichtbare Erinnerung: Vor und in der Schlacht keine Freude, kein Jubel. Allein die demütige und bange Hoffnung, dass der Krieg als gewonnen geglaubt werden darf. Und dann mag kommen, was immer kommen will. In der Schlacht währet das Weinen, danach ist Freude.
329
Ausgrenzung. Rassismus. Anerkennung. Respekt. Einige von vielen populären Begriffen, die Ideologie und Moral der Gleich-Gültigkeit negativ oder positiv zu befördern versuchen. Menschen und Kollektive sollen nicht mehr normativ diskriminiert, nicht mehr normativ unterschieden, nicht mehr normativ getrennt werden. Weder weltanschaulich noch lebenspraktisch.
328
Heute mein letzter von mehr als 20 Elternabenden im gymnasialen Kontext. Letzte Gelegenheit für einen unvermittelten Blick in die Abgründe pädagogischer Existenz heute.