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Montag, 30. Dezember 2024

1085

Damit wir überhaupt sehen können, was unsere Existenz wesentlich überschattet, müssen wir das benennen oder bezeichnen können, was uns wesentlich fehlt. Was mir selbst, in eine Nussschale gepresst, wesentlich fehlt, ist wohl dies: der Resonanzraum für das, was mir wesentlich ist, für meine eigentümliche messianische Erzählung des Wirklichen, für meinen Glauben. Diese Benennung oder Bezeichnung hat durchaus etwas Entlastendes, gar etwas Aufhellendes. Weil das, was fehlt, zwar schmerzlich, aber doch überschaubar und erträglich ist.

1084

Der Wert dessen, was wir Glauben oder auch Fiktion nennen, liegt im Wesentlichen in der Kraft, die aus der Selbsterinnerung erwächst. Ich selbst bin derzeit genötigt, mich noch einmal an Nr. 680 und 685 zu erinnern. Die hier in ersten Vorüberlegungen einsetzende Wende oder Klärung ist entgegen sich zuletzt aufdrängender Wirklichkeitsandeutungen noch einmal verschärft, nun wohl auf Dauer zu vollziehen. Es wird (noch einmal) Zeit und Mühe kosten, bis diese Einsicht auch meine Natur als Entlastung oder gar als Gelassenheit erreicht.

1083

Selig sind, die nicht glauben müssen.

Samstag, 28. Dezember 2024

1082

Gegen Descartes: Ich bin, obwohl ich denke. Über wesentliche natürliche und eingeprägte Dispositionen kommen wir reflexiv schlechtweg nicht hinweg.

1081

Wenn richtig ist, dass geteilte Kontexte das Beieinandersein erleichtern, dass sie es vielleicht sogar allererst ermöglichen, dann ist die Geschwindigkeit, mit der heute Kontexte kommen und gehen, dann sind die Differenz und die sich beschleunigende Flüchtigkeit der Kontexte kulturell verhängnisvoll. Selbst Geschwister einer einzigen Generation, die sich in Lebensalter und Herkunftsmilieu kaum unterscheiden, finden nur noch schwer Zugang zueinander, weil sie in immer kürzer werdenden Abständen in differenten und sich weiter differenzierenden Kontexten existieren. Weder der Wille zur Progression noch der Wille zur Regression wird uns hier weiterhelfen können. Was wir in dieser Lage zunächst einmal benötigen, ist so etwas wie die Bereitschaft zur selbstdiagnostischen Kritik.

Freitag, 27. Dezember 2024

1080

Mathematik ist, wie auch die Moral, eine Form der Kontingenzbewältigung. Besonders gefährlich ist Mathematik, wenn sie moralisch wird. Besonders gefährlich ist auch jede mathematisch konstruierte Moral. Mit jeder (vermeintlichen) Bedingungslosigkeit, mit jeder (vermeintlich) zwingenden Logik in der Moral, wie sie der Mathematik eigentümlich zu sein scheinen, ergreift man das Wirkliche in wirklichkeitswidriger Weise und wirkt damit zuletzt unvermeidlich destruktiv.

Donnerstag, 26. Dezember 2024

1079

Wer zur Emanzipation anleitet, der erwarte nicht Harmonie. Der wappne sich vielmehr für die Differenz.

1078

Paradox: Wer sesshaft existiert, der muss sich Ziele setzen. Wer dagegen nomadisch existiert, der kann Ziele loslassen. Wer sesshaft existiert, der muss dem Wirklichen widerstehen. Wer dagegen nomadisch existiert, der kann wirklichkeitsgemäß handeln. Wer sesshaft existiert, der muss als Gegenüber zuletzt weichen. Wer dagegen nomadisch existiert, der kann als Gegenüber verlässlich sein.

Mittwoch, 25. Dezember 2024

1077

Gegen den Trend in den aktuellen politischen und militärischen Debatten um die Reaktivierung der Wehrpflicht: Seit Jahren plädiere ich für einen Systemwechsel im deutschen Streitkräfteverständnis, insbesondere für eine Abkehr von der Bürgerarmee und vom Bürgersoldaten (siehe u.a. Nr. 825, 911, 954). Positiv empfehle ich, Streitkräften allein noch den Zweck defensiver Existenzsicherung zu setzen. Das Selbstverständnis von Soldaten würde ich im Gedanken der Stellvertretung verankern. Alles, was dazu ausdeutend zum Zwecke der grundlegenden Verständigung zu sagen wäre, ließe sich in einem schmalen Kodex zusammenführen.
Mit diesem Ansatz wären längst nicht alle Fragen beantwortet, längst nicht alle Probleme gelöst. Dieser Ansatz hätte jedoch den Vorzug, dass er der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, dass er insbesondere aber auch der überwiegenden Mehrheit der Soldaten unmittelbar zugänglich und vermittelbar wäre. Mit ihm würden wir ohne große wertgeladene Rahmenerzählungen auskommen, die ohnehin spätestens auf der operativen Ebene, die spätestens im Gefecht jede Relevanz und Bindungskraft verlieren. Vor allem aber wäre mit diesem Ansatz die Gefahr des ideologischen Missbrauchs von Streitkräften und Soldaten deutlich reduziert.

1076

Neulich noch einmal einen Podcast mit Markus Gabriel gehört, einem in Bonn lehrenden Philosophen, dessen Denken ich seit einigen Jahren aus der Ferne beiläufig verfolge. Ich lausche und lese Gabriel stets mit Bewunderung und Bedauern zugleich. Er ist ein hochbegabter und beeindruckender Sprachspieler, der komplexe Sätze mit einer Leichtigkeit zusammenfügt, die andere allenfalls beim Stapeln von Bauklötzen an den Tag legen. Bedauerlich ist jedoch, dass Gabriel tatsächlich an seine Sätze zu glauben scheint, dass er sich gewissermaßen selbst in ihnen verstrickt und gefangen setzt. Er fällt seiner eigenen Hochgeschwindigkeitsphilosophie zum Opfer, in der sich die Leichtigkeit zur Fieberhaftigkeit wendet. Was Gabriel aber nach meiner Wahrnehmung vor allem fehlt, ist die Ironie im Selbstverhältnis. Ihm fehlt das, was sich etwa bei Richard Rorty hier und da andeutet: das ironische Verhältnis auch zu den eigenen Sätzen, insbesondere dann, wenn sie sich zum System auszuwachsen drohen.

Montag, 23. Dezember 2024

1075

Nicht wenige Ereignisse haben paradoxe Wirkungen. Im Angesicht dessen, was sich derzeit für mich fügt, was über mich verfügt ist, stehe ich vor einer mir überraschend erscheinenden Frage: Lässt sich die messianische Erzählung, die im Reich der Gültigkeiten eher reaktiv auf Depositionierung aus ist, möglicherweise auch positionell wenden? Ist reservativer Messianismus auch als aktive Positionierung möglich – und dies ohne Rückfall in die dem Gültigkeitsdenken eigentümlichen Schließungen? Noch vermag ich hier keine Antwort zu geben. Sollte allerdings eine positive Antwort möglich werden, so würde diese wohl im Ereignis der Tempelreinigung einen ersten messianischen Anhalt finden.

Sonntag, 22. Dezember 2024

1074

Aktuell erfolgreich im Kino: Wicked – ein verfilmtes Musical, das die Vorgeschichte des Wizard of Oz erzählt. Der Film beeindruckt durch seine Bildgewalt, er ist farbenprächtig und symbolgeladen. Die Erzählung hat eine sozialkritische, für mich vor allem aber auch eine religionskritische Pointe. Mit Hilfe ihrer Symbole und symbolischen Wendungen lässt sich der individuelle wie ideengeschichtliche Prozess der Entzauberung und des Gottesschwundes unter den Kulturbedingungen des römischen Christentums nachzeichnen (Randbemerkung: Wicked bezeichnet ja nicht nur das Böse, sondern eben auch das Gottlose). Besonders eindrücklich: Im Moment, in dem sich Gott, der große Zauberer, als Popanz entpuppt, verschwimmen die Grenzen von Gut und Böse. Gerade in diesem Moment wählt das grüne Wesen Elphaba jenen Weg, den auch die säkulare Moderne gewählt hat und den wir in zugespitzter, weiter individualisierter Form bis heute wählen: den Weg der Selbstbehauptung. Und bezeichnenderweise wird Elphaba eben durch diese Wahl zur bösen Hexe des Westens. Auch wenn die damit grob angedeutete Analogie nicht beabsichtigt sein sollte, so drängt sie sich doch unmittelbar auf und bietet sich zum Gebrauch geradezu an.

Samstag, 21. Dezember 2024

1073

Zeitenwende, Kriegstüchtigkeit – und politische wie militärische Führung wiederholen die Fehler der 1990er Jahre. Wir stehen in und vor einem Umbruch in den deutschen Streitkräften, der qualitativ und in seiner Reichweite vergleichbar ist mit dem Umbruch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994. Und wie damals transformieren wir Strukturen, Gerät und Ausrüstung. Was wir dagegen erneut nicht transformieren ist unser Verständnis dessen, was Streitkräfte und Soldaten überhaupt sind, was sie sein sollen. Hier halten wir vielmehr erneut – die einen nostalgisch, die anderen trotzig – an der alten großen Erzählung der Inneren Führung und ihrem Bürgersoldaten fest, die immer schon von brüchigen Voraussetzungen gelebt haben, die sie selbst nicht garantieren können, von Voraussetzungen, die mittlerweile längst verloren sind. Nostalgie und Trotz werden uns früher oder später auf die Füße fallen. Und dieser Fall hat jetzt schon begonnen.

Freitag, 20. Dezember 2024

1072

Seit geraumer Zeit spricht man in Deutschland von Kriegstüchtigkeit. Ich halte diesen Begriff für unglücklich. Er verleitet zu viele Zeitgenossen mit fragwürdigen Motiven dazu, Morgenluft zu wittern. Ich selbst hielte den Begriff der Abwehrfähigkeit für angemessener. Er würde das, worauf wir uns vorbereiten müssen, nicht auf die militärische Option verengen. Und diesem Begriff fehlt die grimmige Konnotation, aus der sich propagandistisch allzu leicht aggressive Absichten ableiten lassen.

Sonntag, 15. Dezember 2024

1071

Jene, die nicht glauben können, mit Hilfe der ihnen verfügbaren und vertrauten Mittel des Unglaubens zu dem zu bewegen, was allein der Glaube eröffnet und ermöglicht – das ist die Kunst messianischer Führung. Es ist die Kunst der Führung durch Gleichnis.

1070

Sesshaftigkeit als Haltung ist der Versuch, sich dem Wirklichen nicht zu stellen.

1069

Jede idealistische Erzählung ist, wie jedes Märchen auch, noch nicht einmal im Kern wahr.

1068

Zu Nr. 1018: Die Antwort auf die Frage, ob sich Fügung fügen lässt, ist immer schon gegeben. Sie lautet: Ja und Nein. Und weder Ja noch Nein sind verfügbar. Alles, was wir ausrichten, ist bereits für uns getan (Jes 26,12) – unabhängig davon, ob wir tatsächlich wollen, was wir da ausgerichtet (oder angerichtet) haben. Am Ende muss sich unser Wille immer dem sich Fügenden fügen. Denn das, was sich fügt, ist nie das, was unser fügender Wille vor Augen hatte.

Samstag, 7. Dezember 2024

1067

Dem Christentum gerade auch in seiner protestantischen Gestalt wohnt eine radikale Forderung inne, die sich regelrecht als lebensfeindlich erweisen kann: die radikale Forderung nach Identität von Erkenntnis und Lebensweise. Dem stellt sich die anders-radikale messianische Forderung entgegen: die Forderung nach fiktiver Annullierung jeder beliebigen Erkenntnis und jeder beliebigen Lebensweise. Unter dieser Annullierung ist grundsätzlich jede Erkenntnis und jede Lebensweise möglich, solange sie zugleich fiktiv als annulliert angeschaut und gehandhabt wird. Messianisch darf ich also sein und bleiben, wer und wie ich bin (was auch immer das meint), bleibe aber immer zugleich auch unabhängig von mir selbst. Und es ist diese Unabhängigkeit, die den Raum für das eröffnet, worauf die messianische Forderung innerwirklich hinaus will: Liebe.

1066

Die okzidentale Kultur auch in ihren modernen Funktionalisierungen und Ausdifferenzierungen gründet in der Idee der Repräsentation. In ernsthafte Schwierigkeiten gerät diese Kultur erst dann, wenn niemand mehr repräsentieren will oder kann. In gerade diese kommende Wirklichkeit rutschen wir derzeit hinein.

Mittwoch, 4. Dezember 2024

1065

Wenn wir fordern, andere mögen unsere Interpretation des Wirklichen teilen, dann müssen wir uns immer in Erinnerung rufen, dass wir so und nicht anders interpretieren, auch weil wir so sind wie wir sind. Andere sind anders und interpretieren entsprechend anders. Die Annahme also, andere wären in der Lage, so zu interpretieren wie wir selbst, gründet stets in einem Irrtum. Und die Annahme, man wäre sich mit anderen in irgendeiner Interpretation einig, ist unter Umständen eine geradezu gefährliche Illusion.

Dienstag, 3. Dezember 2024