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Freitag, 26. November 2021

802

In der vergangenen Woche wurde ich unfreiwilligerweise in eine dieser für mich so befremdlichen Gender-Debatten hineingezogen. Und weil sich meine (!) Gegenüber bislang noch nicht einmal im Ansatz mit meinem Denken beschäftigt hat, wurde mir meine Distanz zum populären Gender-Diskurs rasch als Selbstimmunisierung eines alten weißen Mannes ausgelegt, der seine abstrakten Anfragen nur deshalb formulieren kann, weil er aus einem privilegierten Status heraus argumentiert, den ihm vor allem sein Geschlecht ermöglicht hat. Aus guten Gründen habe ich das Gespräch möglichst rasch leer laufen lassen. Ich hätte meiner Gegenüber wohl sagen können: Tolle, lege! Aber das hätte ihr zu viel zugemutet. Noch.

In mir hinterlässt der kleine Disput vor allem zwei Wahrnehmungen: Zunächst ist mir der Kampfmodus völlig fremd, in dem derartige Debatten geführt werden. Ich streite nicht mehr über Gültigkeiten. Wie und warum auch? Und: In meiner Interpretation bleibt die durch Gleich-Gültigkeit hergestellte Gleichheit der Geschlechter weit hinter der Gleichheit zurück, die durch den Zugang der Gleich-Ungültigkeit möglich würde. Der Gleich-Gültigkeits-Gleichstellungsdiskurs verharrt im Schema der konfrontativen Anspruchsbehauptung. Der Gleich-Ungültigkeits-Gleichheitsdiskurs dagegen würde das eröffnen, was der aktuelle Gender-Krieg keinesfalls und niemals ermöglichen wird: eine veränderte Form der willentlichen Zuwendung und Gemeinschaft ganz unabhängig auch vom Geschlecht.

801

Zu Nr. 779: So unangenehm wie Wertschätzung und Dankbarkeit, so unangenehm sind mir Geschenke. Sowohl in der Rolle des Gebenden, noch viel mehr aber in der Rolle des Empfangenden.
In meiner Interpretation repräsentiert ein Geschenk eine willentliche personale Beziehung. Ohne willentliche personale Beziehung ist ein Geschenk überflüssig oder gar unpassend, irreführend oder heuchlerisch ausgehändigter Repräsentant des Nichts.
Soll sich dagegen im Geschenk willentliche personale Beziehung ausdrücken, dann kann das Geschenk, wenn ich Gebender bin, nur völlig unzureichend darstellen, was ich geben will. Bin ich Empfangender, dann ist mir das Geschenk immer bloß kümmerliches Symbol für das, was ich an willentlicher personaler Beziehung erwarte. Erinnerung daran, dass ich nicht empfangen werde, was ich zu empfangen erhoffe.
Geschenke sind mir also unangenehm, weil sie für mich vor allem Repräsentanten des Schmerzes sind, den mir die unvermeidliche und unüberbrückbare personale Differenz zwischen Menschen bereitet. Geschenke bereiten mir Schmerzen, nicht Freude. Ausnahmen sind sehr selten.

800

Die Denkimpulse eines lieben muslimischen Freundes zu Nr. 798 veranlassen mich zu einigen kurzen ergänzenden Sätzen.

Samstag, 20. November 2021

799

Zu Nr. 729: Die in den vergangenen Monaten vollzogene Abkehr meines Denkens und Lebens vom Motiv der Postsäkularität, die gleichzeitige Hinwendung zum Motiv der Präkulturalität, lasst sich auch beschreiben als Abkehr vom Politischen bei gleichzeitiger Hinwendung zum Therapeutischen.
Nicht, dass damit das Politische irrelevant würde. Es bleibt relevant und zentral, jedoch bloß noch mittelbar.

Freitag, 19. November 2021

798

Am Ende eines langen Denkweges werden die Sätze kurz und schlicht. Ich kann mein Wirklichkeitsproblem und die damit sich mir stellende Aufgabe nun knapp fassen.

Sonntag, 14. November 2021

797

Zu Nr. 785: Was uns auch immer ängstigt – es ist streng genommen nicht die Angst selbst, der wir zu entkommen versuchen. Unsere je spezifischen Ängste bereiten uns unspezifische Schmerzen. Und es sind unsere unspezifischen Schmerzen, die wir lindern, die wir, wenn möglich, meiden wollen.
Es ist, so meine Annahme, der unspezifische Schmerz des In-Der-Welt-Seins, der uns bis heute den Weg Kains anempfiehlt: den Weg der Sesshaftigkeit und Kulturbildung, den Weg der religiösen oder metaphysischen Befestigung, den Weg der technisch optimierten Bequemlichkeit, insgesamt den Weg der Schmerzeinhegung durch Schließung.

Anmerkung: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Schmerzempfindlichkeit und Schließungsneigung. Und es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Maß der Fähigkeit zur Interpretation und der jeweils gewählten oder schlicht vollzogenen Weise des Schließens.

796

Bei der traurig-resignierten Beobachtung eines an Gott, letztlich an sich selbst leidenden Menschen noch einmal zwei (reformatorische) Erinnerungen.
Zum einen: (Repräsentative) Disziplin und (reservative) Freiheit – sie sind analog in dem, was wir uns von ihnen versprechen, durchaus hier und da auch in dem, wie sie sich praktisch auswirken. In ihrer Begründung und in ihrer inneren Wirkung könnten sie jedoch nicht ferner auseinander stehen. Hier Gültigkeit, dort Ungültigkeit. Hier Kampf, dort Frieden. Hier Qual, dort Aufatmen.
Zum anderen: Wer an Gott, wer letztlich an sich selbst leidet, der wird, wenn er sich wirksame Linderung verschaffen und vielleicht sogar so etwas wie Befreiung erfahren will, bereit werden müssen, aus jenem inneren Schema auszubrechen, das ihn im Leiden an Gott und an sich selbst gefangen gesetzt hat. Wer zu dieser Bereitschaft nicht durchringt, dem ist sein Leiden letztlich lieber als die Freiheit.

795

Beim Blick auf den Ort, an dem ich lebensgeschichtlich derzeit stehe, drängt sich mir eine Analogie auf: Ich bewege mich durch jene Spanne, durch die sich das werdende Christentum zwischen dem zweiten und fünften Jahrhundert bewegt hat. Jenseits des messianischen Ereignisses gilt es, sich dem andauernden In-Der-Welt-Sein zu stellen, ein auf Dauer gestelltes messianisches Weltverhältnis zu leben.
Die Herausforderung liegt dabei darin, ganz in der Welt, sogar ganz Welt zu sein, dem Schema der Welt jedoch nicht zu folgen, sich vom Schema der Welt nicht assimilieren zu lassen. An dieser Herausforderung ist das Christentum grandios gescheitert. Gerade in seiner Grandiosität äußert sich sein Scheitern.

Freitag, 12. November 2021

794

Mitten in seiner Enttäuschung an Gott und Welt, an der Wirklichkeit des Göttlichen in der realen Welt, bleiben dem existenziell Gottsuchenden letztlich nur drei Auswege: der Kompromiss, die Mystik oder die Entzauberung.

Samstag, 6. November 2021

793

Was heißt es, prä-religiös, prä-metaphysisch, prä-moralisch, prä-kulturell zu leben? Es heißt, diesseits aller entlastenden Erklärungs- und Bindungserzählungen anzuschauen, auszuwählen und zu entscheiden. Als Einzelner, ohne Allgemeines.
Allerdings: Heute ist dies allein unter den Bedingungen der je vorgefundenen Kultur möglich. Das ist das Gefängnis des Allgemeinen, in dem und mit dem wir als Einzelne unvermeidlich leben müssen.

792

Denke Dein Leben. Und dann lebe, was Du denkst. Nimm Dir für beide Schritte ausreichend Zeit. Gehe den zweiten Schritt nicht vor dem ersten. Bedenke aber auch, dass Du das unentdeckte Land Deines Denkens nicht denkend, sondern nur lebend entdecken kannst.

791

Von verschiedenen Seiten wird mir gespiegelt, meine jüngsten Blog-Einträge seien allzu düster. Ich selbst nehme das nicht wahr. Sicher: Dass ich nun, nach vielen Jahren des Denkens, damit beginne, so zu leben, wie ich denke, erfordert ein hohes Maß an Nüchternheit und Wachsamkeit. Und doch ist dieser Beginn ein Grund zur Freude.

790

Ich muss fragmentarisch leben, um das sein zu können, was ich bin. Dabei gilt es, aufmerksam und behutsam zu bleiben. In der Zahl, der Qualität und dem Maß der Widersprüchlichkeit der Fragmente des Lebens liegt eine stets bedrohliche Überlastung und Sprengkraft.

789

Im als ob nicht leben heißt, sich an die Wirklichkeit wirklich zu binden, ohne von ihr wirklich gebunden zu sein.