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Montag, 30. Dezember 2019

572

Früher haben die Gesetzlichen unter den Frommen nicht selten angenommen, ich sei einer von ihnen. Das war für mich insofern befremdlich, als dass ich mich auch in frommer Zeit eher als suchend begriffen habe. Allerdings: Was mir auch auf der Suche nie als Möglichkeit erschienen ist: die Gleich-Gültigkeit. Das hat wohl manchen Beobachter auf die falsche Fährte gesetzt.

571

Die Hoffenden sind immer auch die Unzufriedenen.

Sonntag, 29. Dezember 2019

570

In den kommenden Wochen will ich mich noch einmal Nietzsche zuwenden, noch einmal seinem Denken nachdenken. Man kann verschiedene Zugänge zu Nietzsche finden, man kann ihn ganz unterschiedlich, auch ganz fragwürdig ausdeuten. Mir selbst war Nietzsche immer hilfreich als hellsichtiger Diagnostiker seiner kommenden und unserer gegenwärtigen Kultur. Und ich habe Nietzsche immer in selbstdemütigender Absicht gelesen, habe ihn als vehementen Einspruch gerade gegen unseren (meinen) traditionellen christlichen und unseren (meinen) modernen säkularen Dünkel wahrnehmen können.
Ein eindrückliches Beispiel – der Auftakt zu Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt.“

569

Bonhoeffer wirft nicht zuletzt der christlichen Apologetik vor, sie treibe ein sinnloses, unvornehmes und unchristliches Spiel, wenn sie versuche, den einfachen Menschen in die Verzweiflung zu treiben, um so den Boden zu bereiten für eine zweifelhafte, kaum noch tragfähige Heilsbotschaft. Unter modernen, säkularisierten Bedingungen erreiche man auf diese Weise ohnehin bloß noch eine „kleine Zahl von Intellektuellen, von Degenerierten, von solchen, die sich selbst für das Wichtigste auf der Welt halten und sich daher gerne mit sich selbst beschäftigen“.
Mein Eindruck ist: Alle derzeit als relevant geltenden politischen Debatten sind säkularisierte Erscheinungsformen der von Bonhoeffer kritisierten Apologetik. Und in allen relevanten politischen (und moralischen) Lagern haben die Degenerierten Konjunktur.

568

Benoît Peeters hat im Blick auf Derrida einmal bemerkt, dass Menschen, deren Denken starke emanzipatorische Impulse aussendet, sich in ihrer Rolle als Eltern durchaus sehr konservativ gebärden können. Ich selbst beobachte bei mir gelegentlich eine gewisse Sorge vor der Freiheit, die ich meinen eigenen Kindern denkend eröffnen musste. Vermutlich sorge ich mich deshalb, weil ich einen zu selbstverständlichen und zu sorglosen Gebrauch dieser Freiheit befürchte, weil ich sehr genau weiß, dass der angemessene Gebrauch dieser Freiheit sehr viel Achtsamkeit und sehr viel Übung voraussetzt.

Mittwoch, 25. Dezember 2019

567

Noch einmal – nach der erneuten Erfahrung eines erschreckend naiven, evangelikal katholisierenden Gottesdienstes am sogenannten Heiligen Abend (welcher Abend kann überhaupt heilig, welcher kann nicht heilig sein?): Stark verkürzt gesagt, ist die Weltwirklichkeit in sich widersprüchlich. In dieser Widersprüchlichkeit ist sie selbstdestruktiv. Die Widersprüchlichkeit der Weltwirklichkeit lässt sich nicht auflösen, das Ende ihrer Selbstdestruktivität lässt sich nicht abwenden. Wenn dem messianischen Ereignis – von der Krippe bis zum Grab – überhaupt ein repräsentativer Gehalt gegeben werden darf, dann ist dies nicht etwa die (christliche) Leugnung, sondern die ursprünglich jesuanische Bekräftigung dieser Einsicht.

Die Widersprüchlichkeit der Weltwirklichkeit lässt sich nicht auflösen, das Ende ihrer Selbstdestruktivität lässt sich nicht abwenden. Widersprüchlichkeit und Selbstdestruktivität des Weltwirklichen lassen sich allenfalls im Übergang handhaben. Handhabung meint jedoch nicht, Gesetze, also etwa Moral und Recht zu exekutieren – also gerade das nicht, was auch in evangelikal katholisierenden Gottesdiensten gerne eingefordert wird (oft verbunden mit der Illusion eines als Möglichkeit behaupteten gelingenden Lebens). Der Exekution von Gesetzen ist eigentümlich, dass sie die Wirklichkeit unter Harmonisierungsdruck setzt und damit letztlich nichts anderes bewirkt als die Dynamisierung und Beschleunigung der Selbstdestruktion. Handhabung meint reservativen Gebrauch von Wirklichkeit, meint weltunabhängige Weltlichkeit. Handhabung in diesem Sinne rettet die Welt nicht, löst nichts auf und wendet nichts ab. Und doch kann man sagen, dass wir der Welt in ihrer Widersprüchlichkeit und Selbstdestruktivität nichts besseres zukommen lassen können, als ihren reservativen Gebrauch.

Frohe Weihnachten!

Sonntag, 22. Dezember 2019

566

Ein Freund berichtet mir von der Entsorgung seiner durch intensiven Gebrauch zerlesenen, geradezu zerfledderten Bibel. Er berichtet mir von der inneren Hemmung, von der natürlichen Besorgnis, der eigene Glaube werde mit der entsorgten Bibel zugleich entsorgt.
Eine schöne Repräsentation für den Moment, in dem die repräsentative Interpretation entsorgt werden und der reservativen Interpretation weichen muss. Wenn repräsentative Werkzeuge (wie etwa die Bibel) ihr Werk verrichtet haben, dann dürfen, dann müssen sie in gewissem Sinne sogar beiseite- und abgelegt werden (siehe Nr. 461).

565

Gestern Star Wars IX angeschaut. Die quasi-christlich-religiöse Botschaft des Films: Deine Herkunft ist nicht bindend für das, was Du bist. Oder anders: Was Du bist ist nicht bindend für das, was Du sein kannst.
Eine pathetische und anrührende Botschaft, in der unsere westliche Kultur gründet. Die entzaubernde weltwirkliche Wahrheit ist jedoch: Die religiöse Gründungsbotschaft der westlichen Kultur als mögliche Gültigkeit ist schlechtweg falsch. Und gerade im Blick auf die bevorstehenden Weihnachtsfeierlichkeiten muss auch gesagt werden: Das messianische Ereignis ist gerade nicht Ermöglichungsgrund der Gründungsbotschaft westlicher Kultur, sondern deren endgültige Destruktion. Aber für wen wäre das schon ein Grund zu feiern?

564

In unserer weltanschaulich und moralisch sich neu aufladenden Zeit scheint mir die Erinnerung an den alten paulinischen Gedanken neu relevant zu werden: die Erinnerung daran, dass jene, die sich in weltanschauliche und moralische Sicherheiten flüchten, die mit weltanschaulichen und moralischen Sicherheiten aufwarten (und sei es mit der Sicherheit weltanschaulicher und moralischer Gleich-Gültigkeit), nicht etwa zu den Starken, sondern zu den Schwachen zu rechnen sind. Die Schwachheit dieser Schwachen gilt es zu handhaben (siehe Nr. 186, 205, 394). Wehe uns aber (und darauf steuern wir zu), wenn die Schwachen mit ihren weltanschaulichen und moralischen Sicherheiten das Zepter an sich reißen. Wehe uns, wenn die Schwachen zu herrschen beginnen.

563

Heute früh beim Bäcker. Auf der Theke eine Sammlung kleiner Marzipanfiguren. Daneben ein Aufsteller mit der Aufschrift: „Glücksbringer. Eigene Herstellung.“ Ein nicht intendierter Pleonasmus. Unschlagbar.

Sonntag, 15. Dezember 2019

562

Das messianische Ereignis ist ein repräsentativ erscheinendes Zeichen für eine nicht repräsentierbare Sache selbst. Der vielleicht entscheidende Fehler des Christentums liegt darin, die Sache selbst als repräsentierbar zu behaupten, das Repräsentierte mit dem Zeichen zu identifizieren und somit über das Zeichen unmittelbar zugänglich zu machen. Das ist der Grund dafür, dass alle christliche Predigt letztlich in die Irre gehen und in die Irre führen muss.

561

Die zahllosen Gültigkeitsschlammschlachten in den sogenannten sozialen Netzwerken: Symptom auch für die anonymisierende Vermassung in der späten Moderne. Selten geht es in den Schlachten um eine mögliche Relevanz der jeweiligen Gültigkeiten selbst. Es geht vielmehr um die panisch behauptete Relevanz derjenigen, die mit letztlich beliebigen Gültigkeiten um sich werfen. Mit Gültigkeiten um sich werfend verschaffen sie sich selbst den Eindruck von Relevanz, von Sinn, Aufmerksamkeit und Einfluss.

Samstag, 14. Dezember 2019

560

Boris Johnson gewinnt in Großbritannien die Wahlen. Absolute Mehrheit. Der tatsächliche Brexit rückt damit in greifbare Nähe. Dazu ein Gedanke (siehe auch Nr. 113 und 329).

Freitag, 13. Dezember 2019

559

Der reservativ Existierende hat keine Meinung, keine Position im Sinne einer gefestigten Gültigkeitsbehauptung. Der reservativ Existierende hält sich offen für die Wahl im Augenblick, für die not-wendige Entscheidung.

558

Gestern eine dieser ritualisierten Jahresabschlussreden. Darin ein immer wiederkehrender Leitspruch, der dem Porzellanfabrikanten und Politiker Philip Rosenthal zugeschrieben wird: „Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein.“
Der Absicht des Zitierten kaum entsprechend, wurde dieser Leitspruch gestern im Sinne einer eher schlichten Motivations- und Selbstoptimierungsformel aus dem Coaching-Handbuch verwendet. Wird der Ausspruch Rosenthals tatsächlich so verstanden, dann kann man durchaus sagen: Die tragische (gerade auch christlich provozierte) Verirrung abendländischer Kultur in einem Satz. Der Höhepunkt dieser Verirrung dann am Ende der Rede: Dem Aufruf zum unausgesetzten Fortschritt folgte die Klage über die Rastlosigkeit gegenwärtiger Gesellschaft, die Klage darüber, dass kein Advent, kein Ankommen mehr möglich sei.
Wie kann man, wenn man halbwegs intellektuell redlich bleiben will, einerseits den unausgesetzten, letztlich sinnentleerten Fortschritt predigen, zugleich aber Kultur und Gesellschaft beschuldigen, nicht mehr innehalten zu können?

Sonntag, 8. Dezember 2019

557

Kein Ruf, der an den Einzelnen ergeht, lässt sich universalisieren. Es lässt sich jedoch so etwas wie eine Universalität des Gerufenseins denken, eine Universalität des aufhebenden und überwindenden, des verungültigenden Gerufenseins der Einzelnen. Die weltwirklich entscheidende Frage lautet: Ist diese unmögliche Möglichkeit politisierbar?

556

Es gibt keinen Fortschritt im Denken. Es gibt lediglich einen Verlust möglicher Interpretationen.

Samstag, 7. Dezember 2019

555

Derzeit halte ich mich häufig an Bahnhöfen und Flughäfen auf. Dabei streife ich in Wartezeiten gerne durch die dort ansässigen Bücher- und Zeitschriftenläden. Beim Blick über die Buchtitel und Überschriften fällt mir auf: Die apokalyptischen Zuspitzungen und Überzeichnungen haben Konjunktur, gleichzeitig die dramaturgisch aufbereiteten Rezepte und Konzepte. Zeichen der Zeit. Wie lässt sich in diese Krisen- und Lösungshysterie die reservative, nachhaltig beruhigende Hoffnung hineintragen? Ich weiß es nicht. Für Reservation gibt es keine Rezepte, keine Konzepte. Reservation geschieht, ereignet sich. Oder eben auch nicht.

554

Es ist wieder – gerade im beruflichen Kontext – die Zeit für Rückblicke und Ausblicke. Es ist nicht zuletzt auch wieder die Zeit für motivierende Belobigungen (ein Schelm, wer ökonomische Absichten dahinter vermutet).
Man kann immer nur hoffen, dass beide Seiten – die Belobigenden und die Belobigten – sehr genau wissen, dass hier nicht mehr geschieht, als ein Ritual zu pflegen. Man kann nur hoffen, dass niemand dem Glauben aufsitzt, hier ginge es um etwas Substanzielles, dem irgendetwas Verbindliches anhaften würde oder das man als verbindlich, als verbindend wahrnehmen dürfte.

Donnerstag, 5. Dezember 2019

553

Was hat mir die reservative Haltung, die reservative Interpretation, den reservativen Glauben ermöglicht: Die erschütternde Erfahrung des unendlichen Aufschubs der innerwirklichen Erfüllung einer messianischen Verheißung. Dann aber auch die ernüchternde Erfahrung der Ungenießbarkeit, ja der Nichtigkeit dessen, was sich mir als weltwirklicher Ersatz, als Surrogat des Verheißenen angeboten hat.
Beiden Erfahrungen, in denen sich ja im Grunde genommen die beiden zentralen geschichtlichen Erfahrungen des Christentums widerspiegeln, habe ich mich gestellt, weder der einen noch der anderen bin ich ausgewichen, aus beiden Erfahrungen habe ich die interpretatorischen und lebenspraktischen Konsequenzen gezogen. Dies allerdings im Unterschied zum Christentum und seinem modernen Säkularisat. Dies auch im Unterschied zu vielen religiösen und säkular-religiösen Mitmenschen, die mir bekannt und zum Teil vertraut sind. Wer reservativ denken und leben will, der muss beides lassen, loslassen: die mögliche Weltwirklichkeit messianischer Verheißungen, aber auch die mögliche Zuflucht zu weltwirklichen Surrogaten – welcher Art diese auch immer sein mögen.

Dienstag, 3. Dezember 2019

552

Wenn ich eine erste, nachdrückliche Erinnerung aus dem mitnehme, was nun meine Aufgabe ist, dann ist es wohl diese: Unser Wissen ist immer Bruchstück, ist immer Fragment. Nicht zuletzt unser Wissen über Menschen. Menschen sind wie die Wirklichkeit selbst: Sie bergen zahllose Überraschungen in sich. Manche Überraschungen sind erfreulich, viele aber auch erschreckend. Das bedeutet: Nicht nur unser Wissen, sondern damit zugleich auch unsere Urteile (über Menschen) sind immer bloß Bruchstück, können nie mehr sein.