Zur Einführung in die linke Demokratietheorie empfehle ich übrigens gerne das kleine Suhrkamp-Bändchen Demokratie? Eine Debatte.
Samstag, 29. Juni 2019
499
Was mich an der linken Theorie Alain Badious und anderer beeindruckt: Sie müht sich (im Unterschied zur liberalen Alternative) konsequent darum, Demokratie vom Einzelnen her zu denken. Was mich zu ihr auf Distanz bringt: Sie kennt in der Handhabung des Allgemeinen letztlich immer bloß die Revolution. Warum ich sie nicht teile: Sie vermag, wie der Liberalismus auch, keinen Ausweg zu öffnen aus den herkömmlichen Systematiken der Gültigkeiten. Sie ist nichts anderes als Gültigkeitsdogmatik.
498
Manchmal bleibt in der Erziehung nichts anderes übrig, als die Luft anzuhalten und auf die enttäuschende Macht der Wirklichkeit zu warten.
497
Heute nicht nur auf dem Olympiadach, sondern auch noch einmal auf dem eventgeladenen Olympiagelände unterwegs. Beim aufmerksamen Blick in die bunte Menge ist ein Trend kaum zu übersehen: Der urbane Mensch generiert sich selbst zunehmend als Exponat. Dieses Exponat verweist auf nichts. Oder anders: Dieses Exponat ist Verweis auf ein Nichts.
Mittwoch, 26. Juni 2019
496
Öffentlichkeit ist weder reflektiert noch differenziert. Öffentlichkeit ist immer schlicht und pauschal. Selbst jene, die sich öffentlich zu reflektieren und zu differenzieren bemühen, werden früher oder später aus der Öffentlichkeit verdrängt oder in der Öffentlichkeit und durch die Öffentlichkeit zur Schlichtheit und Pauschalität genötigt. Das gilt für Freunde und Feinde der Öffentlichkeit gleichermaßen.
495
Zwei Netz-Notizen: Nach Jahren wohl begründeter Abkehr habe ich mir erneut ein Facebook-Profil eingerichtet (was man durchaus als konfrontationstherapeutischen Akt verstehen darf). In dieser besonderen repräsentativen Wirklichkeit, in der in besonders ausgeprägtem Maße schlichte Gültigkeiten schlicht geteilt werden, ist für mich schon die Auswahl von Profil- und Titelbild eine Herausforderung. Sich reservativ abbilden mitten im Repräsentativen, dabei sein ohne als gleich wahrgenommen zu werden – auf Netzplattformen wie Facebook ist was wohl nahezu unmöglich.
Und: Ich habe mir die Domain hosme.de gesichert. Zwar stößt das paulinische hōs mē (als ob nicht) umgangssprachlich durchaus auf Verständigungsschwierigkeiten – im bayerischen Umfeld wird hier gerne die mundartliche Frage „Host mi?“ herausgehört. Aber so abwegig scheint mir diese humorige Analogie gar nicht zu sein. Frei übertragen will sich der Bayer mit seinem etwas ruppigen „Host mi?“ eigentlich nur vergewissern, ob man ihm interpretatorisch folgen kann und will. Und eben in diesem Sinne will hōs mē, will hosme.de interpretatorisches Angebot und interpretatorische Einladung sein.
494
Der politische Westen glaubt traditionell und nach wie vor an eine katholische (universale) und ökumenische (globale) Gemeinschaft der Glaubenden. Dabei sind Substanz und Funktion dieses Glaubens mittlerweile ausschließlich von dieser Welt.
493
Hiobs größte Herausforderung in den 140 Lebensjahren nach seiner Genesung (zu Nr. 146): nicht zu vergessen, dass er zuvor recht und was er zuvor Rechtes von Gott geredet hat. Seine vom Aussatz zerfressenen Finger und Zehen werden ihm bei der notwendigen Erinnerungsleistung sicher behilflich gewesen sein.
Donnerstag, 13. Juni 2019
492
Wenn wir in früheren Jahren, was eher selten vorkam, auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln Menschen begegnet sind, die leise oder laut mit einem nicht sichtbaren Gegenüber kommuniziert haben, dann war diesen Menschen unser Bedauern und unsere Anteilnahme gewiss. Ganz offensichtlich waren sie krankhaft verwirrt. Heute sind Menschen wie diese im öffentlichen Leben üblich geworden. Was sie unterscheidet: Sie tragen kleine Kopfhörer, immer seltener kabelgebunden. Und sie halten sich selbst sicher nicht für krankhaft verwirrt. Dennoch: Auf mein Beileid können sie nach wie vor zählen.
491
Eine der wichtigsten Fragen, die ich mir denkend immer wieder vorgelegt habe, ist wohl diese: Wer bin ich? Weit wichtiger aber war und ist mir die Frage: Wer soll ich sein? Oder nachmetaphysisch, mündig gewendet: Wer will ich sein? Wie auch immer ich diese Fragen an den verschiedenen Stationen meines Denkweges beantwortet habe: Nie, zu keinem Zeitpunkt habe ich die bisweilen kaum erträgliche Spannung zwischen Sein und Wollen auflösen können. Weder in die eine noch in die andere Richtung.
490
Ein für mich durchaus bedeutsamer Tag: Heute beende ich, mit einer letzten militärethischen Sitzung, nach vielen Jahren meine hauptberufliche universitäre Lehrtätigkeit. Es bleibt die Hoffnung, dass bei allem, was ich in meinen Lehrveranstaltungen ausgestreut habe, die eine oder andere Perle dabei war. Und dass diese Perlen nicht bloß von Borstenvieh verschluckt wurden.
489
Die Hoffnung der Alten: dass irgendwer oder irgendetwas die Welt im Innersten zusammenhält. Die Hoffnung der Modernen: etwas – es sei Substanz oder Funktion – ausfindig zu machen, mit dessen Hilfe es ihnen gelingen kann, die Welt – es sei innerlich oder bloß äußerlich – zusammenzuhalten. Beide Hoffnungen trügen.
Mittwoch, 12. Juni 2019
488
Mit einem lieben muslimischen Freund bei Tee und Shisha das mögliche Verhältnis von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis ausgelotet. In Calvins Bestimmungsversuch, in seinem berühmten Auftakt zur Institutio finden wir zueinander (was viel aussagt über die strukturelle Analogie zwischen calvinischem und muslimischem Denken). Der für mich entscheidende Satz Calvins: Erst dann fangen wir an, uns nach Gott, nach dem wirklichen Gott, nach der Gotteswirklichkeit auszustrecken, „wenn wir angefangen haben, uns selber zu missfallen“. Ein Satz, der im gerade auch christlich mitverursachten und christlich (nicht zuletzt protestantisch) nach wie vor beförderten „Zeitalter der Authentizität“ (Charles Taylor), im Zeitalter der Gier nach uneingeschränktem Gefallen am Selbst und nach unregulierter Realisierung des Selbst nicht deutlich genug in Erinnerung gerufen werden kann.
487
Nach einem Kurzbesuch in Tunis: Wer tatsächlich annimmt, (theologische oder philosophische) Interpretationen und deren öffentliche Verbreitung könnten (heute noch) den Lauf der Welt, den Gang der Dinge, die Interpretationsbewegungen von Menschen und Menschheit wirklich bewegen oder gar entscheidend steuern, dem empfehle ich einen längeren aufmerksamen Beobachtungsaufenthalt im Terminal eines gut frequentierten internationalen Flughafens. Wer hier halbwegs sensibel wahrnimmt, was da kommt, was da ist, was da unbeeindruckt und unbeeindruckbar weiterzieht, dem wird jede missionarische Illusion rasch vergehen.
486
Eintrag unter der Rubrik „Man begegnet sich immer zweimal im Leben“ (zu Nr. 301). Heute früh auf meiner Laufrunde, einige Kilometer liegen noch vor mir. Schon von Weitem sehe ich einen Mann auf mich zukommen. Es wird sich herausstellen, dass es der Unbekannte von damals ist. Als wir uns fast erreicht haben, lüftet er seinen Hut, strahlt mich fröhlich an und ruft mir erneut zu: „Wer an Christus glaubt, der hat das ewige Leben!“
„So ist es“, gebe ich, kurz bevor sich unsere Wege wieder trennen, lächelnd zurück – wohl wissend, dass sein und mein Verständnis der von ihm gebrauchten Formel nach wie vor inkompatibel ist. Aber nach wie vor scheint er seine Straße fröhlich (und für andere unschädlich) zu ziehen. Warum also über Interpretationen streiten?
Donnerstag, 6. Juni 2019
485
Zu Nr. 480: Der Begriff der Entscheidung ist diskreditiert – gerade auch in Deutschland. Entscheidungen werden verachtet, weil sie pflichtbestimmt sind, also einer rationalen Mechanik folgen. Entscheidungen werden verachtet, weil sie triebbestimmt sind, sich also nicht rational universalisieren lassen. Oder Entscheidungen werden verachtet, weil sie gar nicht bestimmt erscheinen, also willkürlich im Sinne von beliebig getroffen werden.
Jenseits des Nihilismus wird es eine der größten (politischen) Herausforderungen sein, einen Entscheidungsbegriff jenseits von Pflichtbestimmtheit, Triebbestimmtheit und Unbestimmtheit ausfindig zu machen – und diesen dann praktisch einzuüben.
484
Idealisten, auf ihre Weise oft auch Universalisten, kritisieren das Tun oder Unterlassen Einzelner gerne mit dem Alle-Argument: Wenn alle dieses oder jenes tun oder unterlassen würden, dann! Dann ließe sich die Katastrophe verhindern. Dann wäre das Heil wirklich möglich. Das Alle-Argument der Idealisten ist zumindest in dreifacher Hinsicht problematisch:
Es stützt sich auf eine ideale (gedachte) Wirklichkeit, die nicht und niemals Wirklichkeit ist.
Es birgt die Gefahr der unduldsamen Gewaltsamkeit gegenüber allen, die nicht alle sind oder sein wollen.
Es kann nicht wirklich darüber Auskunft geben, was tatsächlich Wirklichkeit würde, wenn alle dieses oder jenes tun oder unterlassen würden.
483
In unseren Interpretationen äußern sich auch unsere neuronalen Strukturen, auch – so könnte man vielleicht sagen – die neuronalen Abdrücke, die besonders unsere eindrücklichen Erfahrungen hinterlassen haben. Und nicht selten ist es wohl der Fall, dass wir mit unseren Interpretationen gerade unsere größten inneren Feinde zu bekämpfen versuchen.
Dienstag, 4. Juni 2019
482
Neulich einen Radiobeitrag gehört über Steve Jobs, insbesondere auch über seine spirituelle Beheimatung im Be Here Now von Ram Dass. Dieses Sein im Hier und Jetzt hat mit der reservativen Gegenwärtigkeit nichts gemeinsam. Im Gegenteil. Es ist totale Wirklichkeitsfunktion, totale Wirklichkeitsgefangenschaft, verborgen hinter dem Heiligenschein (pseudo)religiöser Transformationsverheißungen. Nicht zufällig gehört Jobs zu jenen Menschen, deren verlockende und faszinierende Wirklichkeitsschöpfungen uns kaum noch Alternativen, kaum noch Auswege lassen.
Montag, 3. Juni 2019
481
Auch in unserer eigenen, westlichen Kulturgeschichte gab es Zeiten, in denen Menschen in mehr oder weniger ritualisierter Weise sichtbar markiert wurden. Nicht selten waren damit Mündigkeit, (kriegerische) Leistungsfähigkeit oder soziale Stellung symbolisiert. Das, was heute als Piercing oder Tattoo modern ist, ist also wahrhaftig kein neues Phänomen. Es scheinen sich allerdings die Vorzeichen geändert zu haben. Mit dem sichtbaren Symbol soll wohl etwas kompensiert oder zumindest verborgen werden. Gelegentlich drängt sich geradezu der Verdacht auf: Je mehr äußerlich dranhängt, desto weniger ist drin. Je großflächiger und martialischer das sichtbare Symbol auf der Haut, desto dürftiger und enttäuschender der (zunächst) unsichtbare Mensch unter der Haut.
Sonntag, 2. Juni 2019
480
Jenseits des Nihilismus gibt es keine Gründe mehr. Nur noch Entscheidungen. Selbst der einzige mögliche Grund, der noch bleibt, selbst die Fiktion der Ungültigkeit, wird zum Grund allein durch Entscheidung. Durch Entscheidung, nicht durch Wahl. Jenseits des Nihilismus bleibt uns keine Wahl.
Samstag, 1. Juni 2019
479
Es ist vollbracht? Nichts ist jemals vollbracht im Wirklichen. Die Wirklichkeitsgeschichte, die Geschichte des Wirklichen, die Geschichte des Vorletzten geht weiter. Immer.