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Montag, 26. Juni 2017

298

Nachtrag zu Nr. 296. In den religiösen Sätzen, mit denen hier das protestantischen Denkens der religiösen Übergangsepoche zwischen Reformation und Moderne skizziert wird, ist einerseits vorgezeichnet, wie wir die Wirklichkeit heute (immer noch) interpretieren: säkularistisch, kosmologisch, nominalistisch, nomologisch. Es ist aber auch vorgezeichnet, wie wir die Wirklichkeit heute (immer noch) gebrauchen: moralisch, utilitarisch, konstruktiv, iterativ.

Donnerstag, 22. Juni 2017

297

Vor einigen Tagen ist Helmut Kohl verstorben. Dieser Mann kann zuletzt nur Mahnung sein: Das politische Haus, das er, getrieben von Eitelkeit, zu bauen versucht hat, ist ein auf Sand gebautes Kartenhaus. Sein eigenes Haus, das Haus seiner Familie, in dem er Nächster hätte sein können, ist schlecht bestellt, auch um dieses Haus ist es schlecht bestellt. Was helfen da alle Ehrungen und Würdigungen.
Man muss nicht nur behutsam abwägen, welcher Sache man dienen will und was es ist, was zu dieser Sache treibt. Man muss auch sehr bedächtig abwägen, ob man überhaupt einer Sache, oder ob man nicht besser seinen Nächsten dienen will. Dass beides zusammen geht, ist Ausnahme, nicht Regel.

296

Webers Protestantische Ethik liefert nicht allein eine mögliche Erklärung für die Heraufkunft der okzidentalen, kapitalistischen Lebensmechanik. Aus meiner Sicht schließt sich hier, unausgesprochen, eine weitere Deutungslücke.

Mittwoch, 21. Juni 2017

295

Gelegentlich bleibe ich noch einmal an dem für meine eigene Denkbewegung so entscheidenden Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ hängen – an einem Text, den Bonhoeffer unmittelbar nach dem gescheiterten Hitler-Attentat am 21. Juli 1944 niederschreibt. Ungeachtet seines historischen und vor allem biographischen Kontextes, ungeachtet also seiner sichtlichen Bedingtheit sind in diesem Text eine Haltung und eine Praxis der Freiheit angedeutet, die der reservativen Haltung und Praxis schon sehr nahe kommen.

Dienstag, 13. Juni 2017

294

Tückisch: Eine Liebe, eine Geduld, ein Langmut, die sich als reservativ ausgeben, hinter denen sich aber tatsächlich natürliche Bindungen und die Feigheit vor der reservativen Grenzziehung verbergen. Man kann angesichts der Hinterlist der eigenen Natur nicht misstrauisch genug sein. Aber: Besser, in diesem Falle der Natur auf den Leim gehen, als den reservativen Kampf zu früh konfrontativ wenden.

293

Harnack meint einmal ganz richtig, ein Reformator könne nur sein, wer für sich persönlich unter einer zwingenden, unausweichlichen Nötigung stehe. „Das Größte tut nur, wer nicht anders kann.“ Es ist wohl so: Wer die Gewagtheit und Relativität der eigenen Interpretationen durchschaut hat, kann das Größte nicht mehr tun. Vielleicht noch nicht einmal Großes.

Montag, 12. Juni 2017

292

Derzeit drängt sich mir nicht ein Gedanke auf, von dem ich annehmen könnte, er sei ausreichend relevant oder wertvoll, ihn tatsächlich auszuformulieren oder gar zu publizieren. Die Gründe dafür kann ich nur ahnen. Es gibt einfach Zeiten, in denen die Existenz dem denkenden Erkennen im Wege zu stehen scheint. Weit schwerer wiegt in meinem Falle aber wohl die andauernde Beschäftigung mit der „Protestantischen Ethik“ Max Webers. Selbst wenn man Webers Interpretationen nicht immer folgen will, so offenbart sich in seinem Versuch, die dogmatischen und ethischen Eigentümlichkeiten der verschiedenen protestantischen Bewegungen zu bezeichnen, doch deren geradezu haarsträubende Lächerlichkeit (hinter der sich letztlich ja immer das verzweifelte Ringen mit dem deus absconditus verbirgt). Und dieser Lächerlichkeit will ich hier nun eine weitere hinzufügen? Und dies ohne das, was etwa dem Puritaner noch selbstverständlich sein konnte: ohne calling, ohne Ruf?

Freitag, 2. Juni 2017

291

Das wohl herausragende Merkmal reservativen Denkens ist die Gleichzeitigkeit von Gleich-Gültigkeit und Gleich-Ungültigkeit. Die reservative Gleichzeitigkeit ist keine konstruktive (gegen Kant) und auch keine dialektische (gegen Hegel). Damit entzieht sie sich dem (christlich-heilsgeschichtlich motivierten) Begriff des Fortschritts und ist insofern radikal entzaubernd und unendlich enttäuschend. Was sie jedoch jenseits von Entzauberung und Enttäuschung zu bieten hat, ist eine relative Stabilisierung im und einen relativ freien Gebrauch des Gleich-Gültigen.