Unter unseren eigenen, wohlständigen Bedingungen, trifft uns der Wirklichkeitsschmerz selbst weniger unmittelbar und weniger hart als andere. Er trifft uns gefiltert, gedämpft.
Die Möglichkeiten, in technisch, moralisch oder anders gefilterte Wirklichkeiten auszuweichen, die Möglichkeiten, den Wirklichkeitsschmerz zumindest zu dämpfen, sind vielfältig und verlockend.
Bereitschaft und Fähigkeit, sich dem Wirklichkeitsschmerz ungefiltert und ungedämpft zu stellen, lassen nach.
Die Aufmerksamkeit für das eigene Leiden am bereits gefilterten und gedämpften Schmerz des Wirklichen, die Sensibilität für den eigenen Wirklichkeitsschmerz nimmt zu.
Die Schwelle für das, was wir bereits Schmerz nennen, sinkt (auf einer Skala von eins bis zehn scheint in unserer bereits gefilterten Alltagswirklichkeit die Intensität unseres Schmerzempfindens irgendwo bei sieben zu liegen).
Unsere Wirklichkeitsbezeichnungen und -beschreibungen eskalieren. Kaum noch ein die eigene Wirklichkeitswahrnehmung darstellender, beschreibender Satz, der nicht mit einem Ausrufezeichen enden würde. Kaum noch ein Satz, der ohne Zuspitzung, ohne Übertreibung, ohne Superlativ auskommen würde.
Unter diesen Voraussetzungen kann die Begegnung mit der wirklichen Wirklichkeit nur unendlich schmerzen. Selbst der ganz normale Schmerz der wirklichen Wirklichkeit kann bloß noch als traumatisierend empfunden werden.
Moral injury: Was Generationen vor uns als schlechtes Gewissen wahrgenommen und bezeichnet haben, erleben und bezeichnen wir selbst heute als moralische Verletzung.
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