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Samstag, 1. April 2023

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Gelegentlich teste ich jene vermeintliche Intelligenz, die derzeit so viel Aufmerksamkeit erregt: die OpenAI ChatGPT.

Das Tool ist durchaus ein beeindruckender Sprachspieler, wobei der Begriff deep, mit dem man ChatGPT üblicherweise in Verbindung bringt, wenig treffend ist. Die Wirklichkeit, in der ChatGPT sein Sprachspiel treibt, ist unendlich flach und unendlich schmal. Und weil das so ist, wohnt ChatGPT eine geradezu entlarvende Kraft inne. ChatGPT entlarvt die Nichtigkeit unserer eigenen Sprachspiele, die Nichtigkeit der Wirklichkeit, die unsere Sprachspiele erzeugen und in der sich unsere Sprachspiele bewegen. Und vielleicht empfinden wir ChatGPT gerade deshalb auch als Bedrohung.

Das Tool ist als Sprachspieler gut, wenn es auf Masse zurückgreifen kann. Es ist auf Datenmasse geradezu angewiesen, damit seine Wahrscheinlichkeitsberechnungen überhaupt greifen können. Ist Datenmasse zuhanden, dann erweist sich ChatGPT als imponierende Rekonstruktions- und Reproduktionsmaschine. Diese Maschine ist in gewissen Grenzen regelrecht kreativ, weil auch Symbolketten produziert werden, die es in dieser Konstellation so noch nicht gibt. Und dabei ist nicht ausgeschlossen, dass die neuen Begriffsverknüpfungen für menschliche Leser durchaus auch anregend, sogar inspirierend sein können.

Das Tool ist als Sprachspieler weniger gut, wenn es bei begrenzter Datenlage treffend zusammenfügen und wiedergeben soll. Unter diesen Bedingungen geht und führt ChatGPT leicht in die Irre. Was dieses Tool nicht oder noch nicht kann: Vorhandenes abseits von Wahrscheinlichkeiten neu bewerten und unabhängig von Gegebenem weiterentwickeln. ChatGPT kann sich, im Unterschied zum menschlichen Sprachspieler, von Vorhandenem nicht oder noch nicht zu Neuem anregen, inspirieren lassen, ist also in diesem Sinne nicht oder noch nicht das, was wir Bewusstsein nennen.
Was ChatGPT im Unterschied zum Bewusstseinswesen Mensch gar nicht kann, was es auch nie lernen, wozu es nie fähig sein wird: in fiktive Distanz gehen zum Vorhandenen, sich fiktiv distanzieren von sich selbst, von der Masse, vom Wirklichen überhaupt. In diesem Sinne wird KI, wie sie derzeit angelegt ist, nie intelligent sein. In diesem Sinne wird sie nie können, was der Mensch kann: denken.
Sollte die Entwicklung, sollten die künftigen Entwicklungen von KI den Menschen auf diese eigentümliche Möglichkeit des menschlichen Bewusstseins neu aufmerksam machen, neu zurückwerfen, dann könnte sich KI abseits aller funktionalen Vorteile, die sie uns verschafft, in gewissem Sinne auch substanziell als gewinnbringend erweisen. Wenn auch bloß negativ.

Nachbemerkung: Nicht zuletzt in den sogenannten Geistes- und Sozialwissenschaften wird derzeit diskutiert, welche Folgen ChatGPT und ähnliche KI für Forschung und Lehre haben werden. Nun ja. Sollte sich ChatGPT als Anfang vom Ende der Geistes- und Sozialwissenschaften als aufgeblähte Rekonstruktions- und Reproduktionsmaschine erweisen, dann wäre dies durchaus Anlass zur Hoffnung. Auch und vor allem für das Denken.

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