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Sonntag, 19. Februar 2023

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Wir setzen heute nicht deshalb auf Diskurs, weil mit seiner Hilfe, weil auf seinem Wege Wahrheit ausfindig zu machen wäre. Wir setzen auf Diskurs, weil uns Wahrheit als etwas Auffindbares nicht mehr zur Verfügung steht. Nicht mehr im Sinne einer unsichtbaren, tiefen, hinter den Erscheinungen sich verbergenden Wahrheit, im Sinne einer geteilten oder teilbaren substanziellen Wahrheit.
Was uns als Wahrheit noch geblieben ist, ist das, was man kausale oder funktionale Wahrheit nennen könnte. Diese Wahrheit lässt sich durchaus am besten im Diskurs aufdecken und teilen – allerdings auch immer bloß näherungsweise und flüchtig. Diskurs ist daher nicht mehr als das Instrument einer pragmatischen Hoffnung, die in einem ewigen Aufschub gefangen bleibt, gefangen bleiben muss.
Ähnliches gilt übrigens im Raum des Politischen auch für das Instrument der Demokratie. Diese Wahrheit über Diskurs und Demokratie muss unausgesetzt bewusst gehalten werden, weil wir uns unausgesetzt nach einem Mehr an Wahrheit sehnen, weil wir auch von Diskurs und Demokratie unausgesetzt ein Mehr an Wahrheit erhoffen. Ob Diskurs und Demokratie überhaupt dauerhaft stabil gelingen können, ohne dass beide von einem Mehr an geteilter Wahrheit getragen werden – das ist eine andere Frage.

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