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Donnerstag, 23. Februar 2023

917

Es ist ein Widerspruch in der Kultur der Gleich-Gültigkeit. Ausgehend von der Annahme, dass es eine absolute Gültigkeit nicht gibt und dass keine Gültigkeit gegenüber anderen Vorrang beanspruchen darf, fordert und erzwingt diese Kultur die Gleich-Gültigkeit aller Gültigkeiten. Dies kann sie allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie die Gleich-Gültigkeit selbst absolut setzt.

916

Einer der wesentlichen dogmatischen Geburtsfehler des Christentums: die Annahme, die Weltwirklichkeit solle nach Gottes Willen sein. Unter dieser Voraussetzung sind Wissen, Sollen und Hoffen heillos durcheinander geraten.

Montag, 20. Februar 2023

915

Aktuell müht sich die Bundeswehr – wie üblich um diese Jahreszeit – noch einmal nachdrücklich um künftige Führungskräfte. Mit einer bundesweit sichtbaren Kampagne will sie Bewerber für die Offizierlaufbahn generieren.
Die Führungskräftewerbung der Bundeswehr lebt seit Jahren von der Voraussetzung, dass man im Kampf um die Besten des Nachwuchses konkurriert mit den anderen großen Anbietern auf dem zivilen deutschen Arbeitsmarkt.
Zu diesem Kategorienfehler zwingt uns die nach wie vor vorausgesetzte Idee der Bürgerarmee. In dem damit erzwungenen Konkurrenzkampf kann die Bundeswehr nur unterliegen, insbesondere in mehr oder weniger offensichtlich bedrohlichen Zeiten.
Angemessener wäre es dagegen, bei der Werbung um Nachwuchs davon auszugehen, im Kampf um die Besten mit den anderen großen Armeen dieser Welt zu konkurrieren. Der Weg zu dieser Voraussetzung ist aber gerade für die Bundeswehr unendlich weit.

Sonntag, 19. Februar 2023

914

Wir setzen heute nicht deshalb auf Diskurs, weil mit seiner Hilfe, weil auf seinem Wege Wahrheit ausfindig zu machen wäre. Wir setzen auf Diskurs, weil uns Wahrheit als etwas Auffindbares nicht mehr zur Verfügung steht. Nicht mehr im Sinne einer unsichtbaren, tiefen, hinter den Erscheinungen sich verbergenden Wahrheit, im Sinne einer geteilten oder teilbaren substanziellen Wahrheit.
Was uns als Wahrheit noch geblieben ist, ist das, was man kausale oder funktionale Wahrheit nennen könnte. Diese Wahrheit lässt sich durchaus am besten im Diskurs aufdecken und teilen – allerdings auch immer bloß näherungsweise und flüchtig. Diskurs ist daher nicht mehr als das Instrument einer pragmatischen Hoffnung, die in einem ewigen Aufschub gefangen bleibt, gefangen bleiben muss.
Ähnliches gilt übrigens im Raum des Politischen auch für das Instrument der Demokratie. Diese Wahrheit über Diskurs und Demokratie muss unausgesetzt bewusst gehalten werden, weil wir uns unausgesetzt nach einem Mehr an Wahrheit sehnen, weil wir auch von Diskurs und Demokratie unausgesetzt ein Mehr an Wahrheit erhoffen. Ob Diskurs und Demokratie überhaupt dauerhaft stabil gelingen können, ohne dass beide von einem Mehr an geteilter Wahrheit getragen werden – das ist eine andere Frage.

Freitag, 17. Februar 2023

913

Kulturen nehmen immer auch normativ Einfluss auf den Willen des Einzelnen. Unter Bedingungen der Kultur schwindet die Kunst des Wollens. Weil Kultur die Selbstorientierung des Einzelwillens durch allgemeine praktische Selbstverständlichkeit, weil Kultur die Selbststärke des Einzelwillens durch allgemeine soziale Einbettung verdrängt und ersetzt. Und doch ist der normierende Ersatzwille der Kultur traditionell immerhin ein Wille gewesen – ein Wille, der es dem Einzelnen ermöglicht hat, sich selbst zu handhaben, der dem Einzelnen Mittel bereit gestellt hat, seine eigene Natur einschließend oder ausschließend zu regulieren und so zu kanalisieren.

Donnerstag, 16. Februar 2023

912

Verwundert, oft zunächst auch ein wenig unbeholfen. So nehme ich mich in der Gegenwart von Menschen wahr, die immer und überall unvermittelt Antworten haben und aufdrängen, ohne jemals ernsthaft Fragen gestellt zu haben. Wie soll mit solchen Menschen Kommunikation oder gar Verständigung wenigstens halbwegs gelingen? Eine Herausforderung sind solche Menschen vor allem dann, wenn sie führen, wenn ihre Antworten also mit Macht hinterlegt sind. Dann sind in der Handhabung ihrer Antworten sehr viel Wachsamkeit und Geschick erforderlich.

Sonntag, 12. Februar 2023

911

Warum ich annehme, dass wir in Deutschland Idee und Praxis der Bürgerarmee in ihren verschiedenen Erscheinungsformen hinter uns lassen müssen (zu Nr. 875).

Mittwoch, 8. Februar 2023

910

Wie alt wir auch werden: Es gibt in uns die Wahrnehmung eines Da- und In-der-Welt-Seins, eines Bei-sich- und Mit-sich-Seins, das uns merkwürdig unveränderlich erscheint. Dieses uns unveränderlich erscheinende Sein ist wohl die wesentliche Ursache dafür, dass wir unser Alter anders wahrnehmen als diejenigen, die äußerlich bei und mit uns sind.

Sonntag, 5. Februar 2023

909

Am vergangenen Neujahrstag in Zandvoort an der niederländischen Küste mit einem Freund eher ungeplant und unvorbereitet am traditionellen Nieuwjaarsduik teilgenommen. Ein großer Spaß!
Meine Frau lässt die Kamera mitlaufen. Hinterher beim Betrachten der Aufnahmen wieder einmal diese irritierende Selbstbeobachtung: Der Mensch, den meine Frau dort im Video festgehalten hat, erscheint mir merkwürdig fremd. Es gibt eine befremdliche Abweichung zwischen der nachträglichen Außenwahrnehmung als Betrachter und der aktuellen Innenwahrnehmung als Handelnder. Derridas différance ist auch in allen Wahrnehmungen: unendliche Abweichung, unendlicher Aufschub, unendliche Nicht-Präsenz (siehe Nr. 34, 687).

908

Im Beieinandersein von Menschen wirkt das Recht immer den Verlust der Unmittelbarkeit.

Ein Beieinandersein von Menschen, das zuletzt ausschließlich noch im Recht gründet, verliert früher oder später jede Unmittelbarkeit.

Was sichert im Beieinandersein von Menschen die Unmittelbarkeit, wenn uns für die Gründung des Beieinanderseins von Menschen nichts anderes mehr bleibt, als das Recht? Auch das ist die Frage Böckenfördes (siehe Nr. 21, 595, 778).