Freitag, 30. Dezember 2022
899
Wir verfolgen Ziele. Und während wir sie zu realisieren versuchen, entzieht uns der Prozess des Alterns schleichend so viel Lebensqualität, dass wir alles, was wir möglicherweise erreichen, bloß noch in immer enger werdenden Grenzen genießen können.
Dienstag, 27. Dezember 2022
898
Was uns daran hindert, andere zu sehen: die Spiegelung als Missverständnis. Intuitiv sehen wir andere zunächst als Gleichnis, wir sehen sie gewissermaßen als Analogie, als Repräsentation unserer selbst. Und indem wir andere so sehen, sehen wir nicht sie, sondern lediglich uns selbst. Wir übersehen, dass das Anderssein anderer gegen unendlich geht. Indem wir uns in anderen spiegeln, fliehen wir letztlich vor ihrem Anderssein.
Montag, 26. Dezember 2022
897
Am heiligen Abend zu Besuch im Gottesdienst der Kirche für Oberberg – eine dieser Projektkirchen, die mit einem möglichst professionellen Angebot das auf dem Markt zu halten versuchen, was vom christlichen Glauben noch übrig ist. Das Angebot scheint hier aktuell zu ziehen: Die größte Halle der Stadt wurde angemietet, und die Reihen sind gut gefüllt.
Sonntag, 25. Dezember 2022
896
Wirklich verzweifelt sind wir erst dann, wenn es uns endgültig nicht mehr gelingt, uns in unserem Selbstmitleid wohlzufühlen.
Samstag, 24. Dezember 2022
895
Karl Barth: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“
Karl Barths Missverständnis: Wir sollen keine Theologen, wir sollen Menschen sein. Als solche sollen wir gar nicht von Gott reden. Unser eigentliches Problem liegt nicht darin, dass wir als Menschen von Gott als dem ganz Anderen reden sollen, dies aber gar nicht können. Wir können und sollen als Menschen nur vom Menschen und vom Wirklichen überhaupt reden (vom Anderen sollen wir schwiegen). Jenseits der Gültigkeiten können und sollen wir vom Menschen und vom Wirklichen aber nur noch göttlich, verungültigend, begnadigend sprechen – und eben dies ist es, was wir als Menschen gar nicht können. Als Gültigkeitswesen können wir nicht verungültigend reden. Das ist unser eigentliches Problem, das es zumindest zu bearbeiten gilt. Zu lösen ist es nicht (siehe auch Nr. 170, 549).
894
Tragen oder getragen werden. Etwas anderes steht nicht zur Wahl. Aber die Wahl haben eigentlich nur jene, die tragen. Aber jene, die tragen, haben eigentlich keine andere Wahl.
Mein heutiger Wunsch: Einen erträglichen Tag, den wir im deutschen Sprachraum Heiligabend nennen. Heilig ist dieser Abend, wenn er erträglich, wenn seine Last leicht ist. Die Last dieses Tages möge so leicht sein, dass wir sie gut, vielleicht sogar gelassen, unbelastet tragen können.
Freitag, 23. Dezember 2022
893
Gegen Ende des vergangenen Jahres habe ich meine Lebenssituation als Beginn einer Annäherung von Denken und Leben interpretiert (Nr. 784). In diesem Beginn habe ich mich in den vergangenen Monaten geübt.
Was heißt es in meinem Falle, wenn das Denken im Leben wirklich wird? Es heißt zunächst: unbedingt unbegründet zu wollen, den Willen von allen möglichen Gültigkeitsgründen zu lösen. Dieses Unterfangen ist gefährlich, weil das, was als Wille gesetzt wird, nicht mehr (durch Gültigkeiten) zu rechtfertigen ist. Allenfalls noch fiktiv. Als ob.
Es heißt zudem: nichts anderes mehr zu wollen als die Sache selbst, den zu setzenden Willen der fiktiven Ungültigkeit als Sache unbedingt unterzuordnen. Dieses Unterfangen ist schmerzhaft, weil es zunächst und vor allem verlangt, die Ungültigkeit der Gültigkeit des eigenen Selbst zu wollen.
Mittwoch, 21. Dezember 2022
892
Ein vorweihnachtlicher Gedanke: Warum habe ich mein Christentum verloren? Weil die jeweils sich ergebende Wirklichkeit zu oft und zu deutlich von der aus Glauben gewollten, erbetenen, erhofften Wirklichkeit abgewichen ist. Und dies, so meine Selbstwahrnehmung (über eine andere verfüge ich nicht), obwohl man authentischer nicht glauben, obwohl man ernsthafter nicht glaubend wollen, beten und hoffen kann, als ich es getan habe. Ich habe mein Christentum verloren, weil ich zu oft Steine essen musste statt Brot. Simple as that.
891
Ein junger Kamerad, es ist einer von den wenigen guten, fragt mich in seinen Worten um Rat, wie die Differenz zwischen vorgestellter und vorgefundener Wirklichkeit zu ertragen sei.
Auch wenn das Fass groß ist, dass er damit geöffnet hat, habe ich mich zunächst um eine kurze Antwort bemüht. Was ich zu sagen hatte, konnte er wohl so nicht erwarten, hat er vielleicht auch so gar nicht hören wollen. Unter anderem habe ich ihm geraten, etwas gegen seinen Idealismus zu unternehmen. Gerade auch dieser Rat hat sich für mich so angefühlt, als würde ich von ihm fordern, alles zu verkaufen, was er hat. Und mein junger Kamerad ist reich an dem, was er zu verkaufen hätte. Er ist reich an Idealismus.
Dienstag, 20. Dezember 2022
890
Bin in diesen Tagen, was selten geschieht, an einer Netflix-Mini-Serie hängen geblieben: „Ein Sturm zu Weihnachten“.
889
Kürzlich eine kleine Beobachtung in der samstäglichen Warteschlange beim Bäcker. Eine der Fachverkäuferinnen redet, etwas abseits der Theke stehend, lautstark auf eine ihrer Kolleginnen ein. Offenbar hatte es zuvor Beschwerden gegeben. Andere Kolleginnen scheinen nicht allzu gut mit ihr auszukommen. Mit Nachdruck und erhobener Stimme weist die Dame allerdings jeden Wunsch nach Änderung ihres Verhaltens zurück. Auch unter Verweis auf die unmöglichen Forderungen ihres Ex-Freundes (!) pocht sie darauf, sie sei nun einmal so, und sie wolle und werde sich auch nicht ändern.
Schon mehrfach ist mir die Dame – sie ist vielleicht 40 Jahre alt – an den vergangenen Samstagen aufgefallen, dann jedoch jeweils durch ihren unmittelbaren Umgang mit Kundinnen und Kolleginnen. Immer wieder ist sie mir unangenehm laut, aufdringlich, raumgreifend, übermäßig zuvorkommend oder übermäßig abweisend erschienen. Kurz bin ich nun versucht, sie darauf hinzuweisen, dass ihre Natur und ihre unbedingte Naturbehauptung sie unvermeidlich in die Einsamkeit hineintreiben werden. Angesichts des Wortgewitters, das mich ziemlich sicher erwarten würde, wähle ich jedoch das Schweigen.
Grundsätzlich erinnert mich die kleine Samstagsbeobachtung noch einmal daran, dass jeder Versuch, das Beieinander von Menschen auf Gültigkeiten zu gründen, immer nur misslingen kann. Gültigkeiten sind raumfordernd und raumgreifend, nötigen uns in Gemeinschaft immer und überall dazu, Räume abzustecken, zu behaupten oder gar konfrontativ zu erweitern. Die Folge: unendlicher Streit oder unendliche Einsamkeit.
Freitag, 16. Dezember 2022
888
Für mich ist meine Existenz interpretierte Wahrnehmung, für andere ist sie interpretierte Geschichte. Zwischen Wahrnehmung und Geschichte, zwischen dieser und jener Interpretation liegt ein unüberbrückbarer garstiger Graben.
Samstag, 10. Dezember 2022
887
Es ist ein Fehler zu denken, die öffentlich engagierten Egozentriker unserer Tage seien öffentlich engagierte Bürger. Idee und Wirklichkeit des Bürgerlichen stehen im Phänomen des öffentlichen Egozentrikers vor ihrem Ende. Jede repräsentative Idee bringt selbst auch jene Wirklichkeitsbedingungen hervor, die ihren Untergang befördern.
886
Kultur als Fortschritt im technischen Sinne hat uns vor allem physisch von der Natur entfremdet. Indem wir uns technischer Mittel bedienen, um Natur (leichter) zu bearbeiten, verlieren wir zahlreiche physische Fertigkeiten und Kräfte, derer wir zum Zwecke unmittelbarer Naturbearbeitung bedürfen. In einem nächsten technischen Fortschritt, im Bemühen um die Entwicklung künstlicher Intelligenz, arbeiten wir nun vor allem an einer (letzten) Entfremdung des Geistes von der Natur. Die eigentliche Bedrohung liegt dabei nicht darin, dass uns dieses Projekt über den Kopf wachsen, dass sich am Ende die Maschinen autonomisieren und die Herrschaft antreten könnten. Die eigentliche Bedrohung liegt darin, dass kostbare und unverzichtbare Fertigkeiten und Kräfte unseres Bewusstseins verkümmern werden. Durch die Entwicklung künstlicher Intelligenz werden wir nicht zu Sklaven der Maschinen, wir werden endgültig und unumkehrbar Sklaven des Wirklichen.
Mittwoch, 7. Dezember 2022
885
Nach einem erstaunlich erfreulichen Blockseminar mit Master-Studierenden zum Verhältnis von Glauben und Wissen, auf der Suche nach der möglicherweise haarfeinen Linie, die beide voneinander unterscheidet.
Dienstag, 6. Dezember 2022
884
Realisten, unabhängig davon, ob sie Wahrheit an der Oberfläche oder in der Tiefe, im Sichtbaren oder Unsichtbaren wähnen, folgen ihrem repräsentativen Glauben an Substanzen. Nominalisten dagegen erscheinen auf den ersten Blick aufgeklärter, nüchterner. Allerdings folgen auch Sie einem Glauben, dem nicht weniger repräsentativen Glauben an Kausalitäten und Funktionen. Beide Glaubensweisen sind auf unterschiedliche Weise gleichermaßen bindend erdverhaftet.
Montag, 5. Dezember 2022
883
In einem Buch von Don Winslow einem Satz von Stephen King begegnet: „If you don‘t have time to read, you don't have the time (or the tools) to write. Simple as that.“ Wer ausatmen will, muss zuvor einatmen.
Donnerstag, 1. Dezember 2022
882
Gelegentlich fragt man mich, ob ich glücklich sei. Mich irritiert diese Frage stets aufs Neue. Glück als Wirklichkeit verstehe ich als die auf Dauer gestellte Identität von vorgestellter und wahrgenommener Wirklichkeit. Angesichts der prinzipiellen Unmöglichkeit dieser Identität, angesichts der prinzipiellen Differenz von vorgestellter und wahrgenommener Wirklichkeit, ist mir das, was Glück genannt werden könnte, als Möglichkeit, als mögliche Wirklichkeit noch nicht einmal vorstellbar.