Sonntag, 26. Januar 2020
586
Die Wirklichkeit kann in unserer Wahrnehmung zu einer quasi-metaphysischen Größe heranwachsen, sie kann sich – je nach Interpretation – zu einer negativen oder positiven, zu einer beängstigenden oder beglückenden Gottheit aufblähen. Davor muss man sich aufmerksam hüten.
585
Von Bewusstsein kann man erst dann sprechen, wenn das Bewusstseins sich seiner selbst bewusst wird, wenn es anfängt, sich von sich selbst zu distanzieren und sich kritisch anzuschauen. Vorher ist Bewusstsein eher ein (manchmal überaus wach erscheinender) Schlummer.
Mittwoch, 22. Januar 2020
584
Nietzsche, der Radikalnominalist, ist (wie später etwa auch Derrida) vernarrt, geradezu verliebt in Sprache. Nominalistische Entzauberung kann mit Sprachvergötterung einhergehen. Nach der reservativen Entzauberung von Sprache ist auch diese letzte repräsentative Tollheit vorbei. Reservativ bleibt zuletzt allein noch das Verstummen. Aber dann sogleich die Frage: Wie reservativ sprechen? „Wie nicht sprechen“ (Derrida), wie nicht sprechend sprechen? Auch hier: Es gibt keinen Ausweg aus dem repräsentativen Zirkel menschlich-bewusster Existenz. Es bliebt allein die reservative Handhabung des Repräsentativen, auch die reservative Handhabung von Sprache.
Sonntag, 19. Januar 2020
583
Darwins Entwicklungsidee: eine dieser säkularen Spätgeburten des Christentums. Schöpfung aus dem Nichts und prozesshaft errungene Weltheilung durch das Chaos der Sünde hindurch – das gleiche Schema, nur etsi deus non daretur. Auf einer bestimmten Abstraktionsebene der genealogischen Ideendiagnostik ist der Streit zwischen Kreationisten und Evolutionisten geradezu lächerlich.
582
Der sichtbare Gott erhört Gebet so zufällig und unberechenbar, dass der Sinn des Gebets überhaupt in Frage stehen muss. Der von mir erbetene Gang der Wirklichkeit tritt ein – oder nicht. Ob ich nun bete – oder nicht.
581
Vorhin beim winterlichen Spaziergang. Auf einem kleinen dunklen Auto ein kleiner schwarzer Schriftzug: Odin statt Jesus. Zunächst ein Kategorienfehler. Hier die Gottesidee Odin, dort die historische Person Jesus. Eine vergleichende Gegenüberstellung kann da nur ins Leere laufen. Gemeint ist wohl eher: Odin statt Christus. Also lieber die Gottesidee Odin als die Gottes(sohn)idee Christus. Nun. Dass die Gottes(sohn)idee des christlichen Christus nicht dauerhaft tragfähig ist und eine angemessene Handhabung des Weltwirklichen eher hindert als fördert – das würde ich durchaus unterschreiben. Aber die Gottesidee Odin als Alternative? In die damit geforderte Anschauung der Welt und in die praktischen Wirkungen dieser Anschauungen können wir doch heute nicht ernsthaft zurück wollen.
Freitag, 17. Januar 2020
580
Was mich zu Nietzsche auf Distanz bringt – einige wenige Sätze.
Nietzsche ist in seinem Vorstoß zu wirklichkeitsinterpretatorischer Redlichkeit und Nüchternheit allzu pathetisch, nicht selten euphorisch.
Nietzsche ist in seinem Streit wider die Metaphysik noch ganz Metaphysiker, in seinem Kampf wider den Idealismus noch ganz Idealist.
Nietzsche will letztlich nichts anderes, als die Tradition: die Um- und Überformung, die Transformation und Erneuerung der Natur, insbesondere der eigenen Natur. Dabei ist er bisweilen geradezu abstoßend selbstzentriert und selbstfixiert.
Insgesamt wird Nietzsche das Christentum, sein eigenes Christentum nicht los. Er bleibt ganz im Schema seines ärgsten Feindes.
Donnerstag, 16. Januar 2020
579
Noch einmal Nietzsches herrlichen Begriff entdeckt: Bewusstseinszimmer. Ein aufklärender, verlockender und enttäuschender Begriff zugleich. Unser Bewusstsein ist wie ein Raum. Unser Bewusstsein macht uns glauben, wir könnten diesen Raum tatsächlich verlassen. Und immer dann, wenn wir den Eindruck haben, die Tür gefunden zu haben und hindurchschreiten zu können, landen wir doch nirgendwo sonst als eben – wieder in unserem je eigenen Bewusstseinszimmer.
578
Die kantische Erschütterung: dass die Wirklichkeit nicht an sich ist, was und wie sie ist, sondern dass sie als solche nichts anderes ist als Entwurf unserer Interpretationen, dass alle Wirklichkeitssubstanz immer nur hineininterpretierte Substanz ist, dass alle Wirklichkeitsform immer nur aninterpretierte Form ist – erst bei Nietzsche wird diese Wendung in ihrer möglichen Radikalität gedacht.
Sonntag, 12. Januar 2020
577
Bei Nietzsche freigelegt und ausgeleuchtet: die Herkunft unserer abendländischen Vorstellung einer prinzipiell möglichen Erkennbarkeit und Bearbeitbarkeit des Wirklichen aus dem hellenischen Geist.
Freitag, 3. Januar 2020
576
Nach einer ersten Wiederannäherung an Nietzsche einige ganz kurz gefasste Wiederbeobachtungen und Intuitionen.
Mittwoch, 1. Januar 2020
575
Das entscheidende Problem der (öffentlichen) Deutschen ist nicht ihre überzogene Moralisierung des Lebens, ihr abstoßendes Bessermenschentum. Das Problem ist ihre (kulturgeschichtlich erklärbare) Neigung zu einer apokalyptischen Weltanschauung, ihre unausgesetzte Selbstbedrohung mit einem unmittelbar bevorstehenden Katastrophalen. Die Selbstbedrohung wird beantwortet mit einer (ebenfalls kulturgeschichtlich erklärbaren) Moralisierung. Der (öffentliche) Deutsche setzt seine Hoffnung darauf, die Katastrophe durch Moralität abwenden zu können.
574
Jede Interpretation die nicht auf Praxis zielt, jede Interpretation, die nicht praktisch wird, ist tote Interpretation (Jak 2,26).
573
Durch die Erfindung von so etwas wie Jahreszählungen schaffen wir uns Wirklichkeitspunkte eines möglichen Endes und eines möglichen Anfangs, eines möglichen Abschlusses und eines möglichen Neubeginns. Das ist einerseits lächerlich, andererseits können wir davon aber auch hilfreichen Gebrauch machen.
Zum erfundenen Neubeginn am Anfang des Jahres 2020 können wir uns etwa gute Wünsche mit auf den Weg geben. Gute Wünsche sind befestigende, stabilisierende Erinnerungen. Wir machen vom Jahreswechsel einen besonders hilfreichen Gebrauch, wenn wir uns wechselseitig einen entspannten und fröhlichen Glauben wünschen, eine – falls notwendig – mutige und trotzige Interpretation, die die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden annehmen kann, die uns von der Weltwirklichkeit befreit und uns gerade dadurch eine unverzagte und achtsame Pilgerschaft durch die Wirklichkeit hindurch eröffnet.
In diesem Sinne wünsche ich allen, die diesem Blog folgen, für das kommende Jahr 2020 vor allem eines: Glauben.