Sonntag, 26. Januar 2025
1108
Noch einmal in aller Schärfe: In priesterlicher Verstrickung lässt sich nur schwer prophetisch reden, noch viel schwerer prophetisch leben. Wo immer möglich, gilt es daher, sich dem Priesterlichen in seinen religiösen und säkularen Erscheinungsformen zu entziehen.
1107
All unser Interpretieren strebt ins System. Damit befriedigt es einerseits das Bedürfnis unseres Bewusstseins nach sicherer Heimstatt, andererseits entfernt es sich so zugleich von dem, was wirklich ist, wird wirklichkeitsungemäß.
1106
Blumenberg schreibt einem Freund, sein Programm sei es, Freiheit um sich zu verbreiten. Eine Absicht des Denkens, der ich mich vorbehaltlos anschließen kann – wenn auch in ganz anderem Sinne.
Freitag, 24. Januar 2025
1105
Was kann man einer repräsentativen Politik unter Bedingungen der Sesshaftigkeit messianisch raten? Vielleicht dieses: Reduktion jeder Selbstbehauptung auf das geringstmögliche Maß, Absicherung der so reduzierten Selbstbehauptung durch glaubhafte und verlässliche Robustheit.
1104
Ob Paulus wohl gewollt hätte, dass seine Briefe aufgehoben, gemeinsam mit anderen Texten zwischen zwei Buchdeckel gebunden und als offenbartes Gotteswort begriffen werden?
1103
Der Zirkel des religiösen Gebets: Wird dem Beter das Erbetene zuteil, so darf er sich freuen und dankbar sein – sein Gebet war offenbar dem göttlichen Willen gemäß. Wird dem Beter dagegen das Erbetene verweigert, so darf er sich dennoch freuen und dankbar sein – auch gegen seinen Willen ist der göttliche Wille jedenfalls der Bessere. Im Angesicht dieses Zirkels fragt der religiös unmusikalische Beobachter (und dies nicht ohne Grund): zu welchem Zweck dann eigentlich noch beten?
Dienstag, 21. Januar 2025
1101
Im Wirklichen keinen Ort, keinen Raum zu haben – das ist die schlechthinnige messianische Erfahrung. Nun kommt es darauf an, diese Erfahrung auch messianisch zu interpretieren und damit zu wenden. Als Erfahrung der Befreiung vom Wirklichen für das Wirkliche.
1100
Jeder Begriff, mit dem wir etwas Wirkliches zu begreifen versuchen, ist eine Fiktion. So gibt es etwa das, was wir Arm nennen gar nicht. Es gibt, wenn man so will, allenfalls den Arm einer konkreten Person. Aber selbst diesen gibt es streng genommen nicht. Denn je genauer wir hinschauen, desto weniger können wir sagen, was im Blick auf die konkrete Person mit Arm überhaupt gemeint sein soll. Zudem ist der Arm einer konkreten Person in jedem nächsten Augenblick nicht mehr das, was er im Augenblick zuvor noch war. Und früher oder später ist dieser Arm auch nicht mehr. Alle Begriffe also, mit denen wir Wirklichkeit zu begreifen versuchen, sind zumindest insofern Fiktionen, als dass wir uns mit ihnen substanzielle Eindeutigkeiten und Beständigkeiten vorstellen, die es wirklich nicht gibt.
Nachbemerkung: Von der Frage der Teilbarkeit dessen, was sich verschiedene Personen unter gleichen Begriffen vorstellen, ist hier noch gar nicht die Rede. Auch Teilbarkeit ist eine Fiktion.
Samstag, 18. Januar 2025
1099
Blumenbergs Kritik seiner Gegenwartskultur entzündet sich auch am sich in seiner Zeit ankündigenden Phänomen des Massentourismus, das eng verbunden ist mit dem zugleich einsetzenden Phänomen der Massenfotografie. Man reise, so Blumenberg, nicht mehr irgendwo hin, um dort zu sein, sondern um dort gewesen zu sein.
Was in dieser Kritik aufleuchtet, lässt sich heute im Blick auf das Phänomen der sogenannten Sozialen Medien erneuern und verschärfen. Man könnte sagen: Es geht nicht mehr darum zu existieren, sondern bloß noch darum, existiert zu haben. Die Konsequenz ist eine bloß noch abgebildete, eine bloß noch repräsentative Existenz. Diese Existenz ist nichts anderes als nihilistische Existenz. In dieser Existenz vollendet sich der Nihilismus insofern, als dass selbst das Bewusstsein für das Verlorene hier verloren ist.
Montag, 13. Januar 2025
1098
In meinen Habilitationsvortrag habe ich vor Jahren die freiheitsrechtliche Friedensphilosophie Kants unter dem Titel Ewiger Krieg der Ansprüche kritisiert. In Anlehnung an Derrida hatte ich ursprünglich einen anderen Titel ins Auge gefasst: Ewiger Krieg dem Anderen. Ich habe damals auf diesen Titel verzichtet, weil die Aufgabe eine andere, grundsätzlichere und größere gewesen wäre und weil die so gerichtete Kritik bei meinem damaligen Publikum wohl erst recht auf taube Ohren gestoßen wäre. Für ein wenig Liberalismus- und Individualismuskritik konnte ich dagegen zumindest bei einigen Wenigen ein gewisses Verständnis erwarten. Die im ursprünglichen Titel angedeutete Kritik als Aufgabe ist für mich nach wie vor unerledigt: eine Fundamentalkritik der Schließungen und Ausschließungen, die dem modernen, aufgeklärten Idealismus wesentlich sind.
1097
Was heißt: die Wahrheit sagen? Üblicherweise begreifen wir Wahrheit als Identität von Aussage und Tatsache. Abgesehen davon, dass diese Identität gar nicht möglich ist, dass es auch diese Identität nicht gibt – notwendig und hilfreich ist (in Anlehnung an Bonhoeffer) ein anderer Wahrheitsbegriff: Wahr sind Worte, die der Wirklichkeit angemessen sind. Wahrheit im Sinne der Wirklichkeitsangemessenheit kann man nicht einfach sagen. Wahrheit in diesem Sinne zu sagen, muss mühsam erlernt und eingeübt werden.
1096
Zufall und Freiheit – zwei Fiktionen, die auf eine Art Außen im Innen setzen.
Samstag, 11. Januar 2025
1095
Habe kürzlich begonnen, noch einmal von und über Hans Blumenberg zu lesen. Derartige gegen die alltägliche Funktionalität gerichtete Bemühungen sorgen dafür, dass mir so etwas wie Denken zumindest als Hintergrundrauschen erhalten bleibt.
Den einen oder anderen Gedanken, der sich aus diesem neuerlichen Blumenberg-Rauschen gewinnen lässt, werde ich demnächst sicher auch hier im Blog einfügen können. Aber schon jetzt mache ich die immer gleiche Beobachtung: Über die Rolle des – wenn auch unverzichtbaren – Impulsgebers kommt auch Blumenberg bei mir nicht hinaus. Sobald ich mich näher auf das Denken, vor allem aber auch auf Charakter und Existenzweise der wesentlichen Impulsgeber meines eigenen Denkens einlasse, desto größer wird die Differenz, desto größer wird die Distanz. Am Ende bleiben allenfalls einige wenige Analogien. Jede Form der Schulbildung, jedes Lehrer-Schüler-Verhältnis hat mich daher schon immer irritiert, war mir schon immer verdächtig.
Was mich selbst betrifft, so gibt es hier lediglich eine Ausnahme: Lediglich zu Calvin habe ich nicht nur im Denken, sondern auch in Charakter und Existenzweise eine gewisse Nähe erkennen und empfinden können. Das gilt bis heute, wenn auch in ganz anderer Weise als noch vor nunmehr über dreißig Jahren, als ich Calvin über die Beschäftigung mit Augustinus erstmals begegnet bin – in einem kleinen aber nachhaltigen Seminar zur Politischen Philosophie bei Hans-Martin Schönherr-Mann.
Freitag, 10. Januar 2025
1094
Wenn Brautpaare ein bloß annäherndes Verständnis von dem hätten, was der messianische Begriff der Liebe in 1 Kor 13 zu fassen versucht und fordert – ihnen würde das gerührte Seufzen vor dem Altar im Halse stecken bleiben.
1093
Jedes um zu steht früher oder später vor dem Nichts.
Donnerstag, 9. Januar 2025
1092
Die gegenwärtig populäre Larmoyanz ist keine Vorstufe der Verzweiflung. Sie ist vielmehr eine Form der Flucht vor der Verzweiflung, die steht der Verzweiflung im Wege (siehe Nr. 1041).
1090
Wir irren uns durchs Wirkliche hindurch zum Zwecke des Glaubens.
Montag, 6. Januar 2025
1089
Etwas verstehen meint nicht, Wahrheit zu entdecken. Es meint, nach einem langen und mühevollen Prozess der Interpretation und Uminterpretation an einen Punkt zu gelangen, von dem aus man etwas nicht mehr anders interpretieren kann oder will.
1088
Dass wir im Wirklichen ohnmächtig sind, gilt ja auch für die Mächtigen.
Sonntag, 5. Januar 2025
1087
Rückblickend habe ich in den vergangenen Monaten – glücklicherweise wissend, was ich da tue – möglicherweise letztmalig auf eine letzte Hoffnung gesetzt, von der ich mich längst denkend verabschiedet und unabhängig gemacht habe. Der Blick auf das, was im Verlauf dieses Experiments nicht geworden, was vor allem aber auch geworden ist, erinnert mich unmittelbar noch einmal an einen Satz aus Bonhoeffers Glaubensbekenntnis (siehe Nr. 352): „Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“
1086
Zu Nr. 685: Seit einigen Tagen bewege ich in mir einen Satz, der sich mir in Rückschau und Ausschau über den Jahreswechsel aufgedrängt hat: Der Diagnostik ist Genüge getan. Was meine ich damit? Was ist sehen muss, sehe ich. Was ist verstehen muss, verstehe ich. Was ich haben muss, habe ich. Nun gilt es noch einmal neu und verstärkt dem nachzujagen, was dem paulinischen Messianismus unter seinen Voraussetzungen im Übermaß gegeben war, was meinem eigenen Messianismus unter meinen eigenen Voraussetzungen aber noch allzu sehr fehlt: einer getrösteten und ermutigten, einer tröstenden und ermutigenden Existenz.