Es ist unangebracht, Phänomene wie die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung zu bagatellisieren oder gar als solche zu leugnen. Und doch beschleicht mich bei der Beschäftigung mit Phänomenen wie diesem immer ein gewisses Unbehagen.
Weil wir – gerade dann, wenn es um psychische oder charakterliche Eigentümlichkeiten geht – mittlerweile allzu leicht dazu neigen, Diagnosen zu stellen. Allzu inflationär erfinden wir diagnostische Begriffe („Neurodiversität“) und betreiben damit auch so etwas wie eine Pathologisierung des Allzumenschlichen. Diese Pathologisierung ist eine Einladung für Trittbrettfahrer. Die einen finden hier eine geeignete Rechtfertigung für ihren Unwillen oder ihre Unfähigkeit zur Selbsthandhabung. Die anderen mühen sich mit Hilfe diagnostischer Begriffe um Selbstpathologisierung – nicht selten, um ein Aufmerksamkeitsdefizit ganz anderer Natur auszugleichen. Im Raum der sozialen Medien geht dies sogar soweit, dass Menschen tatsächliche Symptome einer fiktiven Erkrankung entwickeln.
Was mich allerdings bei der Beschäftigung mit Phänomenen wie ADHS besonders nachdenklich stimmt: Diagnostisch bleiben wir in aller Regel an der Oberfläche. Nach Dasein und Gewordensein von ADHS als Kulturphänomen wird kaum gefragt. Daher auch: Wir können Menschen mit derartigen psychischen oder charakterlichen Eigentümlichkeiten kaum mehr bieten als Medikamente und Verhaltenstherapien. Dass ADHS als Phänomen auch ein Symptom dafür sein könnte, dass uns keine rahmenden, regulierenden, zur Selbsthandhabung befähigenden Erzählungen mehr zur Verfügung stehen, dass es durchaus auch hilfreich sein könnte, sich nach solchen, heute noch möglichen Erzählungen auf die Suche zu machen – das alles bleibt ausgeblendet. Und das ist wenig menschenfreundlich.
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