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Montag, 29. Mai 2023

942

Eine Beobachtung zur Verunsicherung der Geschlechter: Auf der Suche nach Identität fliehen Menschen vor Rollenidealen, denen sie nicht gerecht werden können oder wollen. Dabei fliehen sie allerdings hinein in Rollenideale, denen sie ebenso wenig gerecht werden können oder wollen. Suchend und fliehend, fliehend und suchend bleiben Menschen so oder so gefangen im Symbolischen, im Repräsentativen, gefangen vor allem auch in einer stets irreführenden und nie wirklich vorfindlichen oder erfahrbaren Vorstellung von Eindeutigkeit.
Gerade auch in der Verunsicherung der Geschlechter könnte die fiktive Überwindung des Symbolischen, des Repräsentativen seine befreiende Wirkung entfalten. Sie könnte befreien zur Anerkennung und Handhabung dessen, was natürlich wie kulturell vorfindlich und nicht oder nur in engen Grenzen variabel ist. Sie könnte zugleich befreien zur Anerkennung und Handhabung dessen, was daneben und darüber hinaus natürlich wie kulturell auch noch wirklich und möglich ist. Die fiktive Überwindung des Repräsentativen könnte also zu dem befreien, wonach wir in der Verunsicherung der Geschlechter und der Verwirrung der Rollenideale letztlich suchen: zu wirklicher Diversität, gerade auch in unserer eigenen Person.

Sonntag, 7. Mai 2023

941

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Man kann auch nicht zweimal denselben Gedanken denken. Das müsste jedem Dogmatiker, das müsste vor allem jedem Ideologen zu denken geben.

940

Für das raum-zeitliche Beieinandersein von differenten Wirklichkeitsinterpretationen wäre schon viel gewonnen, wenn wir unsere je eigene Interpretation nicht als Wahrheit sondern als Wirkung, nicht als Substanz sondern als Symptom begreifen würden (siehe Nr. 6).

Montag, 1. Mai 2023

939

Nach dem Ende von Religion und Metaphysik erleben wir derzeit so etwas wie eine Naturalisierung des Normativen – verbunden mit der Hoffnung, im Natürlichen den verlorenen Halt, die verlorene Stabilität wiederzufinden.
Die nicht wirklich überraschende Entdeckung ist jedoch diese: Das Natürliche bietet normativ nur dann Halt und Stabilität, wenn ihm ein religiöser oder metaphysischer Über- oder Unterbau vorausgesetzt wird. Ohne Kosmologie keine Norm, keine Verbindlichkeit, kein Halt, keine Stabilität in der Natur.
Die Naturalisierung des Normativen kann also nur scheitern, weil sie noch nicht einmal auf Sand, weil sie letztlich in die Luft hinein zu bauen versucht. Wer das Normative naturalisiert, der baut nichts anderes als Luftschlösser.

Anmerkung: Gerade dies ist ja der eigentümliche Winkelzug jeder Kosmologie der Natur, insbesondere auch der römisch-christlichen Naturrechtslehre: Vorgetäuscht wird eine der Natur innewohnende, nicht zuletzt moralisch verbindende Ordnung, tatsächlich aber wird diese Ordnung nicht zuletzt in moralischer Absicht in die Natur hineininterpretiert.

938

In der deutschen Politik werden Forderungen laut, den Beruf des Soldaten in den deutschen Streitkräften unabhängiger zu machen von der deutschen Staatsbürgerschaft. Wie gesagt (siehe Nr. 875): Diesen Gedanken habe ich schon vor vielen Jahren vorgetragen. Ich will nicht verhehlen, dass ich die aktuelle Suche nach einem Neuansatz im deutschen Streitkräfteverständnis durchaus mit einer gewissen Genugtuung verfolge – in stiller Erinnerung an Senecas Beobachtung: Fata volentem ducunt, nolentem trahunt. Den Willigen führt, den Unwilligen schleift das Schicksal (siehe auch Nr. 911, 915).

937

Unsre Deutungszugänge zum Wirklichen, unsere Interpretationszugriffe auf das Wirkliche, unsere religiösen und säkularen Erzählungen, unsere theologischen und philosophischen Sprachspiele: Relevant ist nicht ihre vermeintliche Wahrheit, relevant sind ihre wirklichen Wirkungen.
Gerade hinsichtlich der Wirkungen unserer Erzählungen ist unser Bewusstsein mit natürlicher Kurzsichtigkeit, geradezu mit Blindheit geschlagen. Die Wirkungen unserer Erzählungen sind nicht notwendig und sinnvoll, sie sind kontingent und paradox. Wer das durchschaut hat, wer das sieht, der ist dem alten theologischen Geheimnis des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium zumindest auf der Spur.