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Freitag, 30. Oktober 2020

670

Nichts befördert derzeit die nihilistische Gleich-Gültigkeit alles Gültigen so sehr, wie jedermanns Möglichkeit, sich digital selbst zu behaupten.

669

Jeder Streit um Gültigkeiten, um Wahrheiten, ist nicht mehr als ein Streit der Erzählungen, der unterschiedlichen Weisen, die Wirklichkeit in Begriffe zu fassen und diese Begriffe miteinander zu verbinden. Jede Erzählung lässt sich erklären, hat unendlich viele Ursachen, die unser Bewusstsein auch gerne als Gründe begreift.

668

Noch einmal eine sicherheits- und militärpolitische Randbemerkung: Seit heute online – ein neues Positionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik zu einer möglichen Reform der Bundeswehr (hier). Bei aller Aktualitätsbedingtheit und damit Begrenztheit des Textes – die Autoren verfolgen unausgesprochen aber unübersehbar zwei wesentliche Absichten, die ich (wenngleich anders begründet und zu anderen Zwecken) teile. Zum einen: Raus aus der strukturellen Zivilisierung der Streitkräfte. Zum anderen: Politische Aufwertung der militärischen Führung. Zwar bevorzugen die Autoren in ihrem Papier eine „evolutionäre Semantik“, dahinter verbirgt sich aber nicht weniger als die Forderung nach Einleitung eines Systemwechsels. Gerade dieser Wechsel aber ist weder gesellschaftlich noch politisch gewollt. Deutsche Streitkräfte sollen letztlich nicht können, was sie müssen. Weder politisch noch militärisch.

667

Mehrheiten haben viele Gründe. Die Wahrheit muss nicht immer darunter sein. Auch nicht das Gute.

Donnerstag, 29. Oktober 2020

666

Corona-Update: Inzwischen haben wir uns sozial und politisch in eine Lage hineinbewegt, in der die Warner und Dramatisierer immer und überall Recht behalten müssen. Und dies auf beiden Seiten der Frontlinie. Die Differenzierer können sich nur noch ins Unrecht setzen. Sie haben immer und überall zahllose Fakten gegen sich. Es wird nur sehr schwer möglich sein, sozial und politisch wieder von der Frontlinie zurückzutreten und zu verantwortlichen Wahrnehmungen, Interpretationen, Entscheidungen und Taten zurückzufinden.

665

Wir brauchen Ideale. Wir brauchen Illusionen. Indem wir uns auf sie ausrichten, indem wir ihnen hinterherlaufen, bewegen wir uns unter der Hand in einen Stand, der uns zumindest materiell gegen ihren Verlust absichert. Ohne Illusionen am Beginn des Weges durch die Wirklichkeit können nur Wenige in späteren Jahren ohne sie auskommen. Illusionslosigkeit muss man sich leisten können.

Dienstag, 27. Oktober 2020

664

Wie wenden sich Kulturen? Durch Ideen und Interessen, durch interessengeleitete Ideen und durch ideengeleitete Interessen. Wie lassen sich Kulturen wenden? Durch Gewaltsamkeit, die – mit einer spezifischen Rationalität hinterlegt – ausreichend Rückhalt findet bei der Mehrzahl derjenigen, die der Gewaltsamkeit ausgesetzt sind.
Allerdings: Wie sich die Kultur jeweils wendet, ist nie vorhersehbar. Und die (immer flüchtigen) Ergebnisse jeder Kulturwendung entsprechen nie der Absicht jener, die sie unabsichtlich oder absichtlich angestoßen haben (siehe auch Nr. 127).

Sonntag, 25. Oktober 2020

663

Derzeit wird zunehmend beklagt, man dürfe in Deutschland nicht mehr jede Meinung äußern. Das mag sein, und hier wirken gegenwärtig ohne Zweifel höchst problematische soziale und politische Mechanismen. Allerdings: Es gilt gerade jetzt noch einmal daran zu erinnern, dass nicht jede Meinung geäußert werden muss, auch und wohl noch mehr, dass nicht jede Meinung tatsächlich äußerungswert ist. Freiheit der Meinungsäußerung meint, wenn ich sie richtig verstehe, durchaus auch die Freiheit des Schweigens. Des Schweigens aus Klugheit und des Schweigens aus Einsicht in die eigene Torheit. Gerade diese Einsicht scheint mir jedoch, wenn es sie je gab, zunehmend abhanden zu kommen.

Freitag, 16. Oktober 2020

662

Vor Jahresfrist habe ich mich dem Kommenden mit der Hoffnung anzuschmiegen versucht, es warte auf mich eine zumindest zeitweise gemilderte Spannung zwischen Natur und Interpretation (Nr. 533). Diese Hoffnung hat sich als nichtig erwiesen. Die Spannung hat sich verschärft. Das gilt es nun - vorläufig - zu handhaben.

661

Eine vertiefte, existenziell provozierte Beobachtung: Als Wesen, in denen die Natur die Augen aufschlägt (Schelling), ist es uns unmöglich, den drei Zirkeln der innerwirklich-ewigen Wiederkunft zu entkommen: dem Zirkel der Kausalität, dem Zirkel der Finalität und dem Zirkel des Sinns oder Werts. Wir interpretieren das Wirkliche (mehr oder weniger bewusst hoffend) als eine Abfolge von Ursache und Wirkung, wir interpretieren diese Abfolge als zielgerichtet, und wir interpretieren die jeweiligen Ziele der Kausalitäten als bedeutsam (als gut oder böse). Diese drei Akte der Interpretation setzen uns in einer unausgesetzten Wiederkehr gefangen, die an sich eitel, nichtig ist.

Viele Bewusstseinswesen scheinen diese Nichtigkeit nicht zu bemerken. Sie wiederholen ihre zirkuläre Interpretation alltäglich und schlüpfen so weitgehend unbelastet durch die Wirklichkeit hindurch. Andere suchen entlastende Zuflucht in Religion oder Metaphysik, wieder andere in Verzweiflung oder Selbstüberhebung. Sie alle bleiben auf ihre Weise Sklaven des Zirkels (was nicht zuletzt für Nietzsches Übermenschen gilt).

Wie, im nichtigen Zirkel der Wiederkehr gefangen, den Zirkel selbst auf- und durchbrechend handhaben, ohne ihm zu entfliehen (was nicht möglich ist) und ihm damit letztlich verschärft anheim zu fallen. Das ist die wohl größte Aufgabe des Denkens.

Freitag, 9. Oktober 2020

660

Existenzielle Denker muss man durch ihre Existenz hindurch interpretieren. Das relativiert das jeweilige Denken nicht, es bekräftigt vielmehr die jeweilige existenzielle Wahrheit.

Religiöse und metaphysische Denker muss man auch durch ihre Existenz hindurch interpretieren. Das relativiert das jeweilige Denken und die jeweilige Wahrheit.

Samstag, 3. Oktober 2020

659

Ein lieber Freund in der Heimat (er wird diese Formulierung schmunzelnd zur Kenntnis nehmen) hat mich auf eine sehr schöne Anmerkung Einsteins aus dem Jahr 1918 hingewiesen: „Ich lese unter anderem Kants Prolegomena und fange an, die ungeheure suggestive Wirkung zu begreifen, die von diesem Kerl ausgegangen ist und immer noch ausgeht. Wenn man ihm nur die Existenz synthetischer Urteile a priori zugibt, ist man schon gefangen."
Das trifft, was mich selbst angeht, den Nagel auf den Kopf. Die Annahme der Existenz synthetischer Urteile a priori hat mich im Interpretieren und Leben lange Zeit eingekerkert. Bis mich vor allem Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ zurecht gebracht hat.

658

Zu Nr. 533, 540, 541: Überraschend, wohl aber erwartbar – meine nomadische Existenz hat gerade erst begonnen. Jeder Versuch, unter Rückgriff auf bürgerliche Bilder und Ideale irgendwo existenziell anzukommen (contradictio in adiecto), muss unvermeidlich scheitern. Noch überraschender jedoch, und dies war nicht offensichtlich erwartbar – meine Natur eilt mir zu Hilfe. Sie treibt mich zu dem, was meine Interpretation von mir fordert (immer die Gefahr mit bedacht, dass ich hier in eine selbst gestellte Falle laufe).