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Montag, 30. September 2019

538

Gegen Luther: Im Ruf und unter dem Ruf zu bleiben meint nicht, den weltwirklichen Beruf als göttliche Berufung zu begreifen. Im Ruf zu verharren, im Ruf auszuharren meint, sich in jedem beliebigen weltwirklichen Beruf als Herausgerufener zu begreifen und jeden beliebigen weltwirklichen Beruf als Herausgerufener zu handhaben.

Anmerkung: Beruf ist einer dieser Begriffe, dessen repräsentativer Gehalt sich hartnäckig gegen die moderne Funktionalisierung und damit gegen seine Entzauberung zu behaupten weiß. Auch und gerade Luther ist dafür mitverantwortlich.

Sonntag, 29. September 2019

537

Bis wir halbwegs durchschaut haben, was uns treibt, bis wir halbwegs verstanden und anerkannt haben, dass und wie wir das, was uns treibt, handhaben können und müssen, bis zu diesem Zeitpunkt haben wir es zumeist schon recht weit, oft allzu weit getrieben. Und es gilt immer, von diesem Punkt, von diesem Ort unseres Lebens aus weiterzuschreiten. Neuanfang als Wirklichkeit ist unmöglich.

Dienstag, 24. September 2019

536

Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel. Wütende Anfragen an die Politik, verbissen hinausgespuckt mit zitternder Stimme und feuchten Augen. Man kann dieses Mädchen verachten, man kann es vergöttern – eines ist ganz offensichtlich: In einem fiktiven Hollywood-Streifen über eine jugendliche Klimaaktivistin wäre es zweifellos die Bestbesetzung. Es spielt seine Rolle unüberbietbar gut.

Samstag, 21. September 2019

535

Gestern an vielen Orten auf dem Globus Demonstrationen. Ein kollektiver Aufschrei gegen den menscheninduzierten Wandel des Klimas und seine Folgen. Es ist wie ein ohnmächtiges Zappeln in der selbstgestellten Falle.

Der (gerade auch christlich) hervorgebrachte Mensch der sogenannten Moderne ist nicht mehr in der Lage, interpretatorisch an zwei voneinander unterschiedenen Wirklichkeiten festzuhalten. Er kennt allein noch eine Wirklichkeit: die Wirklichkeit der Welt. Diese Welt wird ihm Einziges und Alles, sie gewinnt unentrinnbare Macht über ihn. Sie befiehlt ihm, allein noch in ihr das Heil zu suchen. Gehorsam unterwirft der moderne Mensch die Welt einer radikalen, vor allem auch technischen Optimierungskur. Was er allzu spät bemerkt: Die Weltwirklichkeit kann das, was sie verspricht, nicht einlösen. In all ihrer kausalen Komplexität und Kontingenz schlägt sie unerbittlich, gnadenlos zurück. 

Das eigentlich Irritierende am gestrigen Aufschrei: Der moderne Mensch will offenbar nach wie vor nicht von seinem Paradigma lassen. Er glaubt nach wie vor, die Weltwirklichkeit mit modernen Interpretationen und mit modernen Mitteln seinen modernen Heilszwecken entgegenbiegen zu können.

534

Eine Beobachtung: Im unvermeidlichen, mehr oder weniger heftigen Streit zwischen Natur und Interpretation setzt sich lebensgeschichtlich zumeist die Natur durch. Die Natur will nicht wahrhaben, dass zahlreiche Interpretationen nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen. Und die Natur will nicht wahrhaben, dass die Weltwirklichkeit so ist, wie sie ist. Also baut sich die Natur Stätten der Zuflucht. Das erklärt zahlreiche psychische Ausweichstrategien, die wir üblicherweise als Störung beschreiben. Das erklärt auch, warum so viele Menschen im Alter verbittern oder fromm werden.

Donnerstag, 12. September 2019

533

Abschiedsgang durch München. Diese Stadt und das, was zu ihr gehört, bedient in großem Maße meine natürlichen Bedürfnisse. Diese Stadt ist jedoch auch in besonders ausgeprägtem Maße repräsentativ – wie wohl kaum eine andere Stadt in Deutschland. Nahezu alles, was sie ausmacht, ist ein Angriff gerade auf jene Interpretation, die sich mir, am Rande dieser Stadt lebend, über die Jahrzehnte hinweg aufgedrängt hat.
Der Abschied von München ereignet sich also im Streit wider meine Natur, zugleich aber auf Drängen meiner Interpretation. Meine Hoffnung für das Kommende: eine zumindest zeitweise gemilderte Spannung zwischen Natur und Interpretation.

532

Jede Entscheidung ist eine unendliche Reduktion von Komplexität. Entscheidungen exekutieren also nie Wahrheiten (als Gültigkeiten). Jede Entscheidung ist Exekution von Wahrheit (als Gültigkeit).

Sonntag, 8. September 2019

531

In der Welt, in der Sprache der Gültigkeiten gilt: Jede Komplexitätsreduzierung ist der Wahrheit Tod.

Samstag, 7. September 2019

530

Die eigentliche Pointe der Noah-Erzählung: Die Vernichtung dessen, was wir Leben nennen, schafft keine Abhilfe. Abhilfe schafft allein die Aufhebung und Überwindung des Wirklichen überhaupt. So gesehen ist der Bogen am Himmel kein Zeichen der Hoffnung und des Trostes. Er ist Erinnerung daran, dass wir nun und künftig durch das, was wir Leben nennen, hindurch müssen – bis zum bitteren aber abhelfenden Ende aller Kausalitäten.

529

Eine der vorrangigsten Forderungen im menschlichen Beisammensein: die Anderen mit dem eigenen Selbst möglichst wenig zu belästigen. Unter der Herrschaft von Würde und Recht im Sinne von Ansprüchen ist diese Forderung kaum noch vermittelbar.

528

Jedes Ägypten hat seine Fleischtöpfe.

527

Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Unzufriedenheit und Illusionslosigkeit. Man kann dankbar und nüchtern zugleich sein.

526

Als Menschen glauben wir von Natur aus besonders gerne unseren eigenen Erzählungen. Seinen eigenen Erzählungen misstrauen zu lernen – das ist der Anfang der Weisheit.

525

Menschen mit peripherer sozialer und moralischer Wahrnehmung scheinen seltener zu werden. Die Perspektiven selbst jener Menschen, die die Wirklichkeit durch soziale oder moralische Filter hindurch wahrnehmen, scheinen sich zunehmend zu verengen.

524

Bildung ist immer auch eine Form der Kontrolle.

523

Wir wissen heute, dass unsere interpretierenden Weltzugänge nichts anderes sind als nichtige Sprachspiele. Daraus folgt aber nicht, dass wir dieser Sprachspiele nicht mehr bedürfen. Wir können nicht anders, als diese Spiele zu spielen. Allerdings: Unsere Sprachspiele als Gültigkeitsspiele sind an ihr Ende gekommen. Auch alle Gültigkeitsspiele, die wir im Übergang in zweiter Naivität (Paul Ricœur) gespielt haben. Die Frage lautet also: Wie künftig noch spielen?

522

Es gab und gibt gute Gründe, den substantialen Begriff der Schuld durch den kausal-funktionalen Begriff der Verantwortung zu ersetzen.

521

Man stellt sich der Wirklichkeit – oder man verfällt ihr. Tertium non datur.

520

Jeder Universalismus, selbst jeder partikulare Universalismus, wird geboren auch aus der Verzweiflung am Anderssein des Anderen, aus der Unerträglichkeit des Andersseins des Anderen.

519

Allein in der Erinnerung und im Entwurf können wir den Fortgang des Wirklichen auf- und anhalten. Erinnerung und Entwurf sind unsere Zuflucht vor der Flüchtigkeit.
Im Hier und Jetzt sein meint dagegen, sich der Flüchtigkeit alles Gegenwärtigen zu stellen und in dieser Flüchtigkeit gewissermaßen zu verharren, auszuharren.