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Dienstag, 31. Juli 2018

399

Gut und Böse, Freiheit und Bindung, Liebe und Hass sind einander insofern gleich, als dass sie nicht universal bestimmt und bestimmbar sind. In ihren sichtbaren Äußerungen, in ihren Erscheinungen lassen sie sich daher bisweilen kaum voneinander unterscheiden: wenn sie dem Allgemeinen, dem Recht oder der Moral scheinbar Folge leisten, wenn sie Recht und Moral beugen, biegen oder auch brechen.
Und doch ist die Verschiedenheit von Gut und Böse, Freiheit und Bindung, Liebe und Hass eine totale ontologische Andersheit. Das Gute, das Freie, das Liebevolle ist das, was sich aus der Annahme der totalen Ungültigkeit aller Gültigkeiten im Hier und Jetzt als Einzelnes ereignet. Das Böse, das Gebundene, das Hassvolle ist dagegen das, was als Funktion einzelner Gültigkeiten unvermeidlich geschieht.
Falsch ist die Annahme, das Gute, das Freie, das Liebevolle lasse sich im Allgemeinen finden. Das Allgemeine formuliert bloß bestimmte Gültigkeiten als universale Gesetze. Das ist insofern verhängnisvoll, als dass so das Gute, die Freiheit, die Liebe als Ereignis des Einzelnen begrenzt, beengt, bedrängt wird. Und das ist insofern nutzlos, als dass das Böse, die Bindung, der Hass als Funktion einzelner Gültigkeiten nicht überwunden, sondern allenfalls notdürftig und immer bloß vorläufig kanalisiert wird.

Montag, 30. Juli 2018

398

In der Postagentur die übliche Kundenschlange, die Sommerhitze schlägt in dem kleinen Laden doppelt zu. Ich warte schon eine Weile, nun wird der Herr vor mir bedient. Er will Geld abheben, stellt jedoch laut seufzend, sich selbst hörbar beschimpfend fest, er habe versehentlich bloß die Bankkarte seiner Lebensgefährtin dabei. Er beantragt eine Notauszahlung. Formulare, Anrufe, Unterschriften. Es dauert.

Freitag, 27. Juli 2018

397

Aufgabe oder Abgabe. Das ist die Weggabelung des Lebens. Hier muss man sich selbst vielleicht noch einmal an einen wesentlichen Gehalt des reformatorischen sola erinnern: Das Werk, von dem wir hoffen, dass es unseres Beitrages bedarf, ist schon immer vollbracht. Der christlich begriffene Missionsbefehl ist ein fatales Missverständnis.

Mittwoch, 18. Juli 2018

396

Es gibt Zeiten, da kann man nicht anders, als sich über sich selbst zu täuschen. In diesen Zeiten bleibt man besser im Lande und nährt sich redlich.

395

Manche erreichen Ziele, andere kommen an ein Ende.

Mittwoch, 11. Juli 2018

394

Messianische, paulinische, reservative Mündigkeit ist nicht jene Mündigkeit, die uns gegenwärtig als solche vorgeführt wird: Mündigkeit im Sinne von Authentizität, von Identität mit sich selbst. Reservative Mündigkeit meint vielmehr maximale Inauthentizität, maximale Selbstentfremdung, maximale Differenz zu sich selbst, zur eigenen Natur, zur Natur an sich – von Jesus beispielhaft demonstriert an der Überwindung des ius talionis und an der praktischen Feindesliebe (Mt 5,38–48), von Paulus beispielhaft demonstriert an der Rücksichtnahme auf die Schwäche der Schwachen (1 Kor 8 und 10,23–33).
Reservativ mündig ist nicht, wer Selbst ist, wer seiner Natur oder der Natur an sich Folge leistet. Mündig ist auch nicht, wer sich normativen (Kultur-) Systemen der Selbstdifferenzierung unterwirft. Mündig ist, wer weder mit sich selbst noch mit normativen Systemen identisch sein muss, wer sich selbst und normative Systeme vielmehr reservativ zu handhaben vermag.

Anmerkung 1: Es gibt eine Authentizität, die den Anschein der Mündigkeit erwecken kann. Natürliche Feigheit und natürliche Harmoniesucht lassen sich angesichts ihrer sichtbaren Konsequenzen durchaus als Feindesliebe interpretieren.

Anmerkung 2: Mir will die reservative Mündigkeit momentan überhaupt nicht schmecken, ich liege mit ihr im Streit. Wie gerne wäre ich derzeit schlicht unmündig, schlicht kindisch, schlicht authentisch, schlicht ich selbst. Dann würden Feinde und Schwache zumindest nicht unbelästigt den (vermeintlichen) Sieg davon tragen. Das Unbehagen an reservativer Mündigkeit hat viel mit Ohnmachtserfahrung zu tun. Die Macht reservativer Mündigkeit kann in einer Weltwirklichkeit der Gültigkeiten kaum als solche wahrgenommen werden.

Dienstag, 3. Juli 2018

393

In vertrauter Kommunikation unterläuft mir gelegentlich der immer gleiche Fehler: Ich gehe davon aus, dass mein Gegenüber genauso an Selbstaufklärung, an Aufklärung über sich selbst interessiert ist, wie ich es bin. Ich gehe davon aus, dass man nicht allein Teilnehmer seiner selbst, sondern immer zugleich auch Beobachter seiner selbst sein will, sich selbst halbwegs durchschauen will.
Aber das ist tatsächlich eine höchst naive Annahme. Und so kann es leicht vorkommen, dass ein gerade noch vertrautes Gespräch kippt. Dass sich mein Gegenüber plötzlich, durch irgendeine analytische Bemerkung, aufgeklärt fühlt, obwohl es gar nicht aufgeklärt werden will. Die Folge: Abbruch der Vertrautheit. Es gibt nicht viele, denen man die Gleichzeitigkeit von Teilnahme und Beobachtung zumuten kann.