Montag, 25. September 2017
315
Karl Barths Umkehrung und damit Korrektur der reformatorischen Formel Gesetz und Evangelium ist unentbehrlich, weil sie Interpretation und Praxis ins rechte Verhältnis setzt und einen praktischen Gebrauch des Weltwirklichen im Lichte des messianischen Ereignisses zumindest ermöglicht. Allerdings führt Barths Umkehrung in die Irre, weil sie Evangelium und Gesetz weder ontologisiert noch existenzialisiert, weil sie eine positive Gültigkeitsanalogie zwischen Evangelium und Gesetz behauptet und damit das Gesetz als notwendige (Erscheinungs-)Form des Evangeliums einführt. Das eröffnet nicht etwa einen befreiten und befreienden (verungültigenden) Gebrauch des Gesetzes, sondern zwingt unter eine als Gnaden- und Liebesherrschaft getarnte Gesetzesherrschaft. Und dies selbstverständlich unter dem Primat der Kirche.
Freitag, 22. September 2017
314
Gestern Abend – Vortrag eines Referatsleiters im Verteidigungsministerium (er leitet jenes Referat, das derzeit den Traditionserlass der Bundeswehr federführend überarbeitet). Darin ein Begriff, den ich aus meiner militärischen Vergangenheit kenne, allerdings viele Jahre nicht mehr gehört habe: der Begriff des „gemeinsamen Zeichenvorrates“. Gesagt werden soll damit, dass eine Gruppe, eine Gesellschaft, auch eine Institution bei aller Pluralität und Differenz eines verbindenden Kerns gemeinschaftlicher und verlässlicher Zeichen bedarf. Und dies im funktionalen wie im substanziellen Sinne: Ein bestimmtes Zeichen löst bei allen Angehörigen von Gruppen, Gesellschaften, Institutionen verlässlich diese oder jene Mechanismen, diese oder jene Kausalkette aus. Ein bestimmtes Zeichen repräsentiert eine bestimmte Substanz (heute spricht man gerne von Wert), die alle Angehörigen von Gruppen, Gesellschaften, Institutionen als wesentlich, unverzichtbar und verbindend begreifen. Durch die Suche auch nach ihrer Tradition versucht die Bundeswehr, (noch einmal) einen gemeinsamen Zeichenvorrat zu finden und zu sichern.
Das Problem: Gemeinsame Zeichenvorräte transformieren sich – immer und überall. In der abendländischen Gegenwart kommt hinzu: Die Transformation der Zeichenvorräte beschleunigt sich, zugleich fallen die Zeichenvorräte der Zerstückung und Fragmentierung anheim. Das noch wesentlich fundamentalere Problem: Das repräsentative Zeitalter geht insgesamt seinem Ende entgegen, das Zeitalter, in dem wir Zeichen als Repräsentanten interpretiert haben. Eine neue Interpretation der Zeichen ist noch nicht in Sicht. Was uns derzeit bleibt, ist der Versuch einer Wiederbelebung von Repräsentationen, von gemeinsamen Zeichenvorräten im repräsentativen Sinne, die verzweifelte und durchaus auch gefährliche Reanimation von Todgeweihten.
Donnerstag, 21. September 2017
313
Heute wieder einmal eine dieser Entmündigungserfahrungen im Flughafenpissoir – diesmal beim Blick auf eine symbolisierte Kerze (das Golfloch mit Fahne wird sonst auch gerne genommen), die den Strahl ins Ziel lenken soll. Aber wohl kaum ein anderer Ort eignet sich so gut für die Einsicht, dass sich Masse allein durch Entmündigung kanalisieren lässt.
Mittwoch, 20. September 2017
312
Sämtliche Hauptvorträge der vergangenen Bonhoeffer-Tagung hatten im Kern die reformatorische Dialektik von Evangelium und Gesetz, näherhin die Dialektik von Glaube und Gehorsam zum Gegenstand.
Samstag, 9. September 2017
311
Kurz vor dem Abflug aus Tegel noch ein Gesprächsmitschnitt von der IBG-Jahrestagung. Ein Promovierter fragt einen anderen Promovierten:
„Und Sie sind auch Theologe?“
„Ach, wissen Sie, eigentlich bin ich gar nichts.“
„Das macht frei.“
Und ortlos. Heimatlos. Denke ich still.
310
Sitze gerade im Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus – Jahrestagung der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft. Bekannte Namen der gegenwärtigen deutschsprachigen evangelischen Theologie haben referiert: Pierre Bühler, Wilfried Härle, Torsten Meireis, Wolfgang Huber. Im Reformationsjubiläumsjahr steht die Frage nach Themen reformatorischer Theologie bei Bonhoeffer im Mittelpunkt, dabei auch die Frage nach der Relevanz Luthers für Bonhoeffers Denken.
Freitag, 8. September 2017
309
Die Ruhe der zurückliegenden Tage habe ich noch einmal dazu genutzt, um mich selbst dessen zu vergewissern, was mich durch mein Leben hindurch bewegt hat: die Suche nach dem, was ich will, nach dem, wie ich mich zur Wirklichkeit halten und was ich in der Wirklichkeit tun will. Gesucht habe ich jedoch nicht offen, sondern ganz im Sinne des Kampfes, der Nachfolge (Nr. 304). In diesem Sinne habe ich meine Lebensentscheidungen getroffen, und diese Entscheidungen haben mich in den Lebensraum geführt, in dem ich mich derzeit wiederfinde. Dieser Raum erscheint mir nun allzu offen. Aber ich habe noch einmal Ruhe gefunden in diesem Raum. Weil ich das Motiv und daher auch das (kausal begriffene) Warum meiner Existenz in diesem Raum kenne. Alles Andere liegt außerhalb meiner Verantwortung. Für alles Andere bin ich verantwortungslos.