Diese Frage kann ich (mir selbst) nicht ohne Weiteres beantworten. Ein erster Versuch: Ob und in welcher Weise wir dankbar sind oder sein können, hat immer auch etwas mit dem zu tun, was wir begehren, wonach wir uns sehnen, was wir erwarten, wonach wir streben, worauf wir aus sind, worauf wir hinaus wollen. Nun gehöre ich selbst zu jenen Bewusstseinswesen, die nicht anders können, als aufmerksam interpretierend zu existieren, zugleich aufmerksam existierend zu interpretieren. Im Austausch von Interpretation und Existenz bin ich, seit dieser Austausch in mir wissent- und willentlich stattfindet, auch und wohl vor allem darauf aus herauszufinden, was Wirklichkeit eigentlich, was Wirklichkeit ihrem Wesen und ihrer Substanz nach ist. Nach dem (unvermeidlichen) Scheitern der durch Herkunft und Kontext an mich herangetragenen und in mich hineingelegten (religiösen) Wirklichkeitsinterpretation, habe ich in einem mühsamen Selbstaufklärungsprozess die mir eigentümliche und eigene, die mir gemäße Interpretation des Wirklichen entwickelt. Insofern und insoweit ich somit als interpretierendes Bewusstseinswesen erreicht habe, worauf ich hinaus wollte, kann ich durchaus sagen, dass ich dankbar bin. Noch etwas präziser gefasst: Ich bin dankbar, eine Interpretation des Wirklichen gefunden zu haben, die es mir ermöglicht, intellektuell redlich im Wirklichen zu existieren. Eine Interpretation sogar, für die ich nicht in Anspruch nehmen würde, sie wäre die wahre und universal gültige Interpretation, von der ich allerdings sagen könnte, sie sei die zuletzt einzige noch verbleibende intellektuell redliche Interpretation, die im Wirklichen zu existieren ermöglicht.
Nun ist in diesen sprachlichen Windungen bereits angedeutet, dass sich der Weg hinein in die mir gemäße Interpretation des Wirklichen nicht etwa als ein Weg beglückender Entdeckungen und ehrfürchtiger Annahme, sondern vielmehr als ein Weg bedrückender Enttäuschungen und ernüchterter Anerkenntnis erwiesen hat. Angesichts dessen, was ich als interpretierendes Bewusstseinswesen als Substanz des Wirklichen zu finden gehofft habe, ist die mir zuletzt verbliebene Interpretation des Wirklichen an Substanzlosigkeit kaum zu überbieten. Meine Dankbarkeit für diese Interpretation muss also insofern relativiert, zumindest eingeordnet werden, als dass sie sozusagen einem Gegenstand gilt, der mir nicht gefällt, den ich so gar nicht finden und haben wollte.
Hinzu tritt: Als interpretierende Bewusstseinswesen können wir zwar nicht nicht interpretieren, allerdings gibt es in uns (um ein Bild zu wählen, das – wie immer – nicht wahr, sondern bloß hilfreich ist) wohl durchaus auch so etwas wie einen der Interpretation vorgelagerten Raum, in dem uns gewissermaßen vorinterpretatorisch, zunächst ungedeutet das bewusst ist, was wir vielleicht unsere sinnlichen und emotionalen Bedürfnisse nennen können. Hier sind wir zunächst und unmittelbar sinnlich und emotional bedürftige Bewusstseinswesen, und auch als solche wollen (oder besser: müssen) wir immer auf etwas hinaus. In diesem Raum habe ich Vergleichbares erfahren und beobachtet, wie im Raum der Interpretation. Das, was meine Bedürfnisse vom Wirklichen eingefordert haben, hat ihnen das Wirkliche nicht gegeben. Angesichts dessen, was ich als bedürftiges Bewusstseinswesen als Substanz des Wirklichen erwarten muss, ist das, was mir hier zuteil geworden ist, an Substanzlosigkeit kaum zu überbieten. Im Raum der sinnlichen und emotionalen Bedürfnisse von Dankbarkeit zu sprechen, fällt mir demnach naturgemäß schwer.
Allerdings muss auch hier relativierend, zumindest einordnend gesagt werden: Wenn ich aus dem Raum der Interpretation in den Raum der Bedürfnisse hineinschaue, dann ist es wohl so, dass meine eigentümliche, die mir mittlerweile eigene Interpretation auch sehr viel zu tun hat mit der spezifischen Anlage und Konstellation meiner Bedürfnisse. Das bedeutet auch: Die Entwicklung und Entfaltung meiner Interpretation wäre nicht möglich geworden ohne die Enttäuschungen, ohne die ausgebliebenen Wirklichkeitserfahrungen im Raum der Bedürfnisse. So gesehen bin ich, als interpretierendes Bewusstseinswesen, auch für diese Enttäuschungen, auch für diese fehlenden Erfahrungen durchaus dankbar. Sie waren und sind als Mittel zum Zweck unverzichtbar.
Erster Nachsatz: Die Frage danach, ob wir dankbar sind, muss deutlich unterschieden werden von der Frage danach, ob wir glücklich sind.
Zweiter (messianischer) Nachsatz: Glücklich werden oder glauben lernen - wenn man das eine will, muss man das andere loslassen (siehe auch Nr. 146, 712, 676, 882).
Dritter Nachsatz: Die paulinische Forderung, dankbar zu sein in allen Dingen (1 Thess 5,18), ist ausdrücklich als eine messianische, als eine das messianische als ob nicht voraussetzende und eine davon abhängige Forderung formuliert – und nur so lässt sie sich als intellektuell redliche Forderung, als Forderung überhaupt aufrecht erhalten.
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