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Dienstag, 15. Juli 2025

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In den vergangenen Tagen eine noch eingehendere Auseinandersetzung mit dem physikalischen Wirklichkeitsverständnis. Dabei erneut die vertraute, immer gleiche Beobachtung: Selbst die traditionell ihrer Sache so sicher erscheinenden Physiker stehen bei ihrem Versuch, Wirklichkeit (wesentlich, substanziell) zu fassen, vor eben jenen instrumentellen Schnittstellenunsicherheiten, mit denen sich jedes ernsthafte epistemologische und sprachphilosophische Denken immer und überall konfrontiert sieht.

Vor der Unsicherheit der möglichen Wahrheit unserer Wahrnehmungen des Wirklichen, an uns heran- und in uns hineingetragen durch das, was wir Sinne nennen. Vor der Unsicherheit der möglichen Wahrheit der Interpretation unserer Wahrnehmungen, in uns vorgenommen oder vollzogen durch das, was wir Bewusstsein nennen. Hier zugleich vor der Unsicherheit des Begriffs von Bewusstsein überhaupt, vor der Unsicherheit, ob, inwiefern und inwieweit Bewusstsein auch als unabhängig begriffen werden kann von aller Wahrnehmung, ob, inwiefern und inwieweit im Bewusstsein also eine wahrnehmungsunabhängige Wahrheit gegeben ist oder ob, inwiefern und inwieweit Bewusstsein unter Umgehung oder Ausschaltung von Wahrnehmung etwas Wahres über Wirklichkeit aussagen kann (was durchaus nicht unwesentliche Voraussetzungen wären für eine mögliche Objektivierbarkeit oder Universalisierbarkeit von als wahr auftretenden Interpretationen). Schließlich vor der Unsicherheit der möglichen Wahrheit der Veräußerlichung oder Abbildung unserer Interpretationen in Zeichen- oder Symbolsystemen, in einer wie auch immer sich konkretisierenden Sprache, die uns die Möglichkeit eröffnet, Interpretationen zu dokumentieren, zu vermitteln, zu teilen, auszutauschen. In der Physik tritt eine weitere schwerwiegende Unsicherheit hinzu: die Unsicherheit der möglichen Wahrheit von Messungen, die Unsicherheit also, ob, inwiefern und inwieweit Apparaturen, mit deren Hilfe Wahrnehmung unterstützt oder substituiert wird, überhaupt Zugänge eröffnen können zur Wahrheit, zu einer wahren Interpretation des Wirklichen. Diese Unsicherheit hat sich erheblich verschärft durch die sich aufdrängende Annahme, auf Quantenebene könnten die Ergebnisse von Messungen auch und nicht unerheblich beeinflusst sein vom vermeintlich unbeteiligten Beobachter, durch die Annahme einer möglicherweise uneindeutigen, undefinierbaren, unberechenbaren Abhängigkeit von Objekt und Subjekt – durch eine Annahme also, die das Ende der Möglichkeit wahrer, objektiver und universaler Aussagen über das Wirkliche überhaupt bedeuten könnte.
Die epistemologischen Erzählungen, in denen sich die verschiedenen physikalischen Wirklichkeitsdeutungen angesichts dieser Unsicherheiten einzuhausen versuchen, sind ebenso vertraut wie die Unsicherheiten selbst. Sie bewegen sich – sehr grob gefasst – zumeist im Spektrum zwischen Realismus und Positivismus, damit zugleich im Spektrum der jeweiligen ideengeschichtlichen Vorläufer. Und auch bei den Physikern bestimmt nicht selten die jeweilige Existenz oder der jeweilige Charakter die jeweils gewählte Erzählung, nicht selten ist das Motiv der jeweiligen epistemologischen Orientierung also erkennbar nicht-physikalischer, bisweilen metaphysischer oder religiöser Natur.
Insgesamt scheint mir, allen Unsicherheiten zum Trotz, der Gültigkeitsglaube der Physiker bis heute weitgehend ungebrochen zu sein, zugleich der Glaube an die grundsätzliche Möglichkeit einer eher realistischen oder eher positivistischen, so oder anders wahren Erzählung des Wirklichen, an die Möglichkeit der Einheit der Physik, an die Möglichkeit einer alles Wirkliche integrierenden Theorie oder Formel. Vielleicht liegt eine Erklärung für den physikalischen Trotz darin, dass die auch physikalisch ermöglichten Entwicklungen in der Vernutzung und Instrumentalisierung des Wirklichen doch allzu sehr blenden. Als Fortschritte gedeutet, erwecken sie den Anschein, als schreite man mit ihnen zugleich voran in wahrer Wirklichkeitserkenntnis. Fortschritte in der Entzauberung, hier im Sinne einer Entzauberung der Möglichkeiten der physikalischen Entzauberer, werden durch diese beeindruckenden Entwicklungen zumindest deutlich erschwert.
Allerdings: Seit nunmehr einem Jahrhundert ist jeder physikalische Gültigkeitsglaube zumindest hinter- und untergründig irritiert durch die quantenphysikalische Verunsicherung, durch die Verunsicherung nämlich, unter der Oberfläche der Zuverlässigkeiten identifizierbarer, berechenbarer, beherrschbarer Determinismen und Funktionalismen könnte sich eine ganz andere, eigentliche Wirklichkeit verbergen, eine Wirklichkeit des wirklichen Zufalls, die sich jedem kosmologisierenden Zugriff entzieht. Es könnte also durchaus nicht unwahrscheinlich sein, dass es Wahrheit als physikalische Theorie oder Formel gar nicht geben kann. Es könnte durchaus sein, dass sich die Idee des Gesetzes auch in ihrer physikalischen Erscheinungsform als vorläufige, vielleicht vorübergehende Täuschung erweist. Bislang hat sich die Physik dieser Verunsicherung noch nicht wirklich gestellt, zumindest hat sie noch keine erkennbaren Konsequenzen in Haltung und Praxis gezogen. Das ist aber auch wenig verwunderlich. So wie jede Wissenschaft, so zieht sich auch die Physik bis heute im Angesicht ihres spezifischen Nihilismus auf ein ihr spezifisches als ob zurück. Denn da, wo es zum Wesen der Aufgabe gehört, Gültigkeiten zu produzieren, da gilt nicht nur der methodologische Atheismus, sondern auch der methodologische Anihilismus als gesetzt.

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