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Donnerstag, 30. Mai 2024

1022

In der alltäglichen, vor allem sprachlichen Begegnung mit Menschen am Rande der Adoleszenz, steht mir nahezu unausgesetzt Wittgensteins Einsicht vor Augen: Die Grenze unserer Sprache ist immer zugleich die Grenze unserer Welt. Das meint im Kern: Wenn wir Welt überhaupt ergreifen und haben wollen, dann brauchen wir Begriffe. Fehlen uns Begriffe, fehlt uns Sprache, so fehlt uns die Welt. Zumindest wird unsere mögliche Welt kleiner, unspezifischer, dürftiger, brüchiger, wenn uns Begriffe, wenn uns Sprache verloren geht. Und gerade das lässt sich beobachten: Die junge Generation läuft zunehmend Gefahr, mit ihrer Sprache zugleich auch die Welt zu verlieren.

Montag, 20. Mai 2024

1021

Eine Freundin, höchst geschickt in Wahrnehmung, Analyse und Interpretation, bemerkt kürzlich eher beiläufig, sie würde sich gelegentlich wünschen, so denken zu können wie ich. Dieser Satz soll keine Bewunderung zum Ausdruck bringen (was auch völlig verfehlt wäre). Dieser Satz formuliert den bisweilen sich aufdrängenden Wunsch, die eigenen Fragen mit den Denkmitteln des anderen beantworten zu können.
Dieser Satz, dieser Wunsch geht mir noch eine Weile nach. In ihnen verbirgt sich ein altes abendländisches, gerade auch christliches Ideal: das Ideal eines möglichen Austauschs, einer möglichen Verständigung, gar einer möglichen Einheit im Denken. Dieses Ideal ist geradezu der Eckstein des christlichen Abendlandes. Entfernt man diesen Stein, so brechen Theorie und Praxis der gesamten abendländischen Kultur regelrecht in sich zusammen. Theorie und Praxis der abendländischen Kultur stützen sich letztlich auf eine zählebige, erstaunlich unsterbliche Fiktion. Denn nicht mehr als dies ist das Ideal einer möglichen Einheit im Denken: pure Fiktion. Ein zwar tapferes, aber zum Scheitern verurteiltes als ob. Tatsächlich, wirklich ist und bleibt es nämlich so: Nie und nirgendwo teilen wir die Denkvoraussetzungen des anderen. Deshalb können wir uns nie und nirgendwo im Denken austauschen, verständigen, vereinigen. Nicht auszudenken, was das bedeuten könnte und müsste. Für unsere philosophischen, theologischen, pädagogischen und therapeutischen, nicht zuletzt auch für unsere politischen Konstrukte und Zwecke.

Sonntag, 19. Mai 2024

1020

Manche Menschen nehmen die Form als Substanz – und sind zufrieden. Der ihnen angemessene Lebensraum ist die Großinstitution, das ausgreifende Ordnungs- und Regelsystem. Etwa die Kirche. Oder auch die Streitkräfte. Hier sind sie besonders willkommen. Sie funktionieren ohne ernsthafte Anfragen.

Sonntag, 12. Mai 2024

1019

Alle Erfahrung ist Differenzwahrnehmung. Differenzwahrnehmung nötigt zu Differenzminimierung. Erfahrung hat, wer sich dieser Nötigung zu entziehen vermag. Differenzwahrnehmung ist permanent auch jenseits aller Differenzminimierung. Erfahren sein heißt, Differenz und ihre Wahrnehmung so zu handhaben, dass beide permanent erträglich bleiben.