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Mittwoch, 22. März 2023

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Vor gut 45 Jahren hat sich in meinem Leben das ereignet, was ein Arztbericht kürzlich als „erworbene Deformität der Nase“ bezeichnet hat.

Es war an einem sonnigen Nachmittag, die Jungs aus dem Dorf trafen sich zum nahezu alltäglichen Fußballspiel. Wie üblich, war ich auch dabei, und wie üblich, war auch an diesem Tag der Ball hart umkämpft. Nach einer hoch ausgeführten Ecke spürte ich im Gesicht plötzlich einen heftigen Stoß. Bis heute schwingt in mir die unmittelbare Intuition nach, dass ich aus dieser Situation nicht schadfrei herauskommen würde. Und so war es dann auch. Einer der Jungs hatte angenommen, er könne den hohen Ball durch einen Fallrückzieher verwandeln. Tatsächlich verwandelt hat er jedoch nicht den Ball, sondern meine Nase. Nach der schmerzhaften Konfrontation mit einem Fußballschuh, war meine Nasenscheidewand zertrümmert und s-förmig verkrümmt. Zwei Operationen, eine im Kindes- und eine im Jugendalter, waren nötig, um die Trümmerteile zu entfernen und die Atemwege halbwegs frei zu räumen. Die beiden Eingriffe haben jedoch nichts daran ändern können, dass mich die funktionalen und optischen Folgen des verfehlten Fallrückziehers bis heute durch mein Leben begleitet haben.

Ich würde diese kleine Nasengeschichte hier nicht dokumentieren, wenn sie nicht von einer anderen, von einer bedeutsameren Geschichte begleitet, in meiner Wahrnehmung sogar geradezu überschrieben worden wäre. An jenem sonnigen Nachmittag hätte ich gar nicht erst Fußball spielen dürfen. Meine Eltern hatten mir das Spiel sinnvollerweise verboten, weil ich nach einer Blinddarm-Operation erst wenige Tage zuvor aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Um meinen Ungehorsam zu verbergen, ließ ich mir auf dem Heimweg eine mir halbwegs glaubwürdig erscheinende Alternativerzählung einfallen: Ich sei mit dem Fahrrad gestürzt – so die Geschichte, die ich meinen Eltern als Erklärung für meine deformierte Nase auftischte. Eine Geschichte, die sich angesichts der zahlreichen Zeugen des wirklichen Ereignisses nicht lange halten ließ. Eine Geschichte, die mir den Ärger mit meinen Eltern nicht etwa erspart, die mir letztlich vielmehr doppelten Ärger eingebracht hat.

Vor dem Hintergrund dieser moralischen Rahmung meines Nasenereignisses, ist für mich dessen religiöse Pointe entscheidend: In der schlichten Logik des Milieus, in dem ich aufgewachsen bin, galt Elternwort als Gotteswort. Indem ich also meinen Eltern ungehorsam war, war ich zugleich Gott ungehorsam. Dieser Ungehorsam durfte –logischerweise – nicht dauerhaft verborgen, dieser Ungehorsam durfte – logischerweise – schon gar nicht ungestraft bleiben. Mein Nasenereignis war also in religiös-moralischer Lesart – logischerweise – die göttliche Strafe dafür, dass ich meinen Eltern ungehorsam war. Nicht, dass meine Eltern dieses Ereignis je so eingeordnet hätten. Ich selbst habe es so eingeordnet – zumindest an der Oberfläche, in der Perspektive der religiös-moralischen Rationalität, die mir in Kindertagen milieubedingt eingeprägt wurde. In dieser Perspektive galt mir meine deformierte Nase als religiös-moralisches Symbol, als eindrückliche (um nicht zu sagen: eingedrückte) Warnung vor Ungehorsam und Lüge. Allerdings: Unter der äußerlich eingeprägten Oberfläche, in den tieferen Schichten meines Bewusstsein, war unabhängig von der religiös-moralischen Prägung meines Herkunftsmilieus immer schon auch eine kritisch-widerständige Rationalität wirksam, die sich lebensgeschichtlich letztlich durchgesetzt hat. Diese Rationalität war in Kindertagen zunächst bloß als schwache Intuition, als noch irritierendes Hintergrundrauschen angelegt. In der Perspektive dieses Rauschens galt mir meine Nase nie als Warnung vor der religiös-moralischen Verfehlung. Sie galt mir vielmehr als Ärgernis, als Symbol der Verärgerung über mich selbst, der Verärgerung über meine Naivität in Verständnis und Handhabung des Wirklichen. Sie galt mir zugleich als nachdrückliche Aufforderung, zunehmend geschickter mit dem Wirklichen umgehen zu lernen, auch mit der Wirklichkeit religiös-moralischer Rationalitäten.

Vor einigen Tagen habe ich an meiner Nase einen dritten, jetzt korrigierenden Eingriff vornehmen lassen. Der Arztbericht spricht von einer „Rhinoplastik mit Korrektur des Knorpels mit Ohrknorpeltransplantaten“. Angesichts der religiös-moralischen Geschichte, die diesem jüngsten Eingriff ins Wirkliche ihren Rahmen gibt, dürfte unmittelbar nachvollziehbar sein, dass ich selbst die erneute Operation meiner Nase schon im Prozess der inneren Annäherung an dieses Ereignis nicht bloß als funktionale und optische Maßnahme begreifen konnte und kann. Die Korrektur meiner Nase ist für mich zugleich das Symbol einer Korrektur meiner religiös-moralischen Herkunftsrationalität. In gewissem Sinne demonstriert sich für mich in der Korrektur meiner Nase geradezu die Absurdität religiös-moralischer Rationalität überhaupt. Abgesehen von dieser symbolischen Aufladung, habe ich im Vorfeld meiner Nasenkorrektur durchaus eingehend darüber nachgedacht, ob es überhaupt geschickt sei, an dieser Stelle meines Lebens in dieser Weise noch einmal ins Wirkliche einzugreifen. Derartige Fragen beantworten sich jedoch in aller Regel erst im Nachhinein, und so gilt es zu entscheiden und zu wagen. Angesichts dessen, was schon jetzt, kurz nach dem Eingriff, als funktionales und optisches Ergebnis wahrnehmbar ist, deutet vieles darauf hin, dass sich im Falle meiner Nasenkorrektur Entscheidung und Wagnis gelohnt haben werden.

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