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Dienstag, 17. Januar 2023

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Angesichts der Geschlechterirritationen unserer Tage mit Freunden noch einmal die christliche Schöpfungserzählung durchdacht. Nach wie vor und immer mehr bin ich davon überzeugt, dass wir uns von dieser Erzählung verabschieden müssen (siehe u.a. Nr. 102) – unabhängig davon, ob der Schöpfungsgedanke in katholischer Tradition eher von der Analogie oder in protestantischer Tradition eher von der Differenz von Schöpfer und Schöpfung her entwickelt ist.

So oder so läuft die christliche Schöpfungserzählung darauf hinaus, dass das Wirkliche in seinem Sein und in seinem Sosein mehr oder weniger als seinsollend und wohlgeordnet, dass es substanziell und strukturell als göttlich oder zumindest als gottgewollt angenommen wird. Damit bleibt für die reservativ-messianische Erzählung wenig Raum: dass nämlich das Wirkliche in seinem Sein und in seinem Sosein nicht sein soll, dass es substanziell und strukturell weder als göttlich noch als gottgewollt, dass es vielmehr als zu Überwindendes angenommen werden muss. Gott ist in dieser Erzählung nicht Schöpfer, er ist vielmehr Überwinder des Wirklichen. Er ist es, der das Wirkliche aufrollt wie einen Teppich (siehe Nr. 346). Und was hier aufgerollt wird, ist gerade auch der Mensch selbst. Gerade auch ihm gilt der göttliche Aufhebungs- und Überwindungswille, gerade auch ihm gilt das göttliche Aufhebungs- und Überwindungswirken.

Erste Anmerkung: An diese Anderserzählung anschließend, lässt sich vielleicht eine andere Theodizee, eine anders gottesrechtfertigende Erzählung gewinnen, die sich zumindest als halbwegs tragfähig erweist (siehe auch Nr. 90). In dieser anderen Theodizee ist die Weltwirklichkeit nicht die beste aller möglichen Wirklichkeiten, und Gott ist nicht Schöpfer und Vollender dieser Wirklichkeit. Diese Theodizee wiederholt nicht den Fehler der Freunde Hiobs. Sie interpretiert Gott vielmehr als den, der das Weltwirkliche notwendig aufhebt und überwindet, der es notwendig an sein Ende bringt. Der Wirklichkeitsprozess der Aufhebung und Überwindung ist notwendig, ist unvermeidlich ein Prozess des Leidens – für die Wirklichkeit an sich, insbesondere aber für das wirkliche Bewusstseinswesen Mensch. Der überwindungsglaubende Mensch stellt sich mitten hinein in das Überwindungsleiden des Wirklichen. Von seinem Gott erwartet er hier nicht Heilung und Glück, er stellt schon gar nicht die Rechtfertigungsfrage, wenn Heilung und Glück ausbleiben. Vielmehr nimmt er alles Leiden immer schon als Überwindungsleiden an, und gerade in dieser Annahme ist sein Gott immer schon gerechtfertigt. Zeiten und Räume wirklicher Heilung und wirklichen Glücks sind dann nicht mehr als Zeiten und Räume reduzierten Schmerzes. Sie sind aber auch nicht weniger, und so sind sie durchaus auch Zeiten und Räume wirklicher Dankbarkeit.

Zweite Anmerkung: Die christliche complexio oppositorum von Schöpfergott und Überwindergott lässt sich nicht dauerhaft aufrechterhalten. Sie trägt sich im Übergang zuletzt allenfalls durch die integrierte Fiktion des Fortschritts. Diese Fiktion ist jedoch zugleich Motor der Entzauberung des Wirklichen, Motor auch der Destruktion (nicht etwa der Überwindung) des Wirklichen. Das hat die christliche Theologie nach Ausschwitz noch geahnt, diese Ahnung scheint inzwischen aber leider verloren zu sein.

Dritte Anmerkung: Es gibt eine wohl unbemerkte, vielleicht ungewollte Analogie zwischen dem Symbol des noachitischen Bundes und dem Symbol der LGBTQ-Bewegung. Hier wie dort ist der Regenbogen vor allem ein Symbol menschlicher Selbstbehauptung, dort ein Symbol ihrer Duldung, hier ein Symbol ihrer Ekstase. Ob diese wie jene Symbolik des Regenbogens überhaupt eine erfreuliche ist, sei einmal dahingestellt. Sicher ist: Wirklich hat sie so oder so ihre Frist, fiktiv darf sie immer schon als aufgehoben und überwunden angeschaut werden.

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