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Sonntag, 22. Januar 2023

907

Der Fehler aller abendländischen Dualismen: die Herauslösung und Überhebung von Geist oder Bewusstsein aus und über Materie oder Natur, zugleich die mehr oder weniger nach Identifikation strebende Annäherung von Geist oder Bewusstsein an eine transzendente oder transzendentale Gottheit oder Rationalität. Die Folge: ein hochmütiger und ewig konfrontativer Gültigkeitsdualismus, ein unendlicher Streit zwischen Geist und Materie, Bewusstsein und Natur.
Gegen die folgenreiche abendländische Konfrontation von bewusstem, geisterfülltem Menschen und unbewusster, geistloser Welt helfen keine wie auch immer gearteten Integrationsbemühungen. Es hilft allein ein radikal anderer Dualismus, ein Ungültigkeitsdualismus, der nicht nur über Materie oder Natur, der vielmehr auch über Geist oder Bewusstsein die demütigende Annahme ausspricht: als ob nicht. Mit dieser Annahme wäre das Ende jedes gültigkeitsdualistischen Hochmuts beschlossen.

Dienstag, 17. Januar 2023

906

Angesichts der Geschlechterirritationen unserer Tage mit Freunden noch einmal die christliche Schöpfungserzählung durchdacht. Nach wie vor und immer mehr bin ich davon überzeugt, dass wir uns von dieser Erzählung verabschieden müssen (siehe u.a. Nr. 102) – unabhängig davon, ob der Schöpfungsgedanke in katholischer Tradition eher von der Analogie oder in protestantischer Tradition eher von der Differenz von Schöpfer und Schöpfung her entwickelt ist.

Sonntag, 15. Januar 2023

905

Wir müssen jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen versuchen, uns in eine nomadische Existenzweise hinein umzuprägen. Dabei gilt es zugleich, neue Formen der Verbindlichkeit für unser soziales und politisches Beieinandersein ausfindig zu machen. Das Recht – wie andere bekannte Formen der Verbindlichkeit – wird sich künftig nicht mehr eignen, wird uns künftig nicht mehr hilfreich sein. Das Recht ist die Verbindlichkeit der Sesshaften.

Samstag, 14. Januar 2023

904

Vorsicht: Unsere Bilder von dem, was wir wollen, können abweichen von dem, was wir wirklich wollen.

Freitag, 13. Januar 2023

903

Noch einmal: was es in reservativer Perspektive heißt, dass Denken Leben wird, dass sich die eigene Interpretation in der eigenen Existenz realisiert (zu Nr. 893). Es meint, dass das Außer-Ich-Ich als interpretierende Instanz des Selbst (Nr. 105) zur bestimmenden Instanz wird. Mehr noch: dass das Außer-Ich-Ich zum eigentlichen Ich, zum Kern-Ich wird, gewissermaßen zur zweiten, zur wesentlichen fiktiven Andersnatur. Das ist es, worauf reservatives Interpretieren therapeutisch, selbsttherapeutisch hinausläuft, wonach es strebt, wohin es drängt: Fiktive Ungültigkeit als Sache selbst wird zum wirklichkeitsrelevant herrschenden Ich. Und erst dann, wenn dieses wirklich unendliche Ringen einigermaßen etabliert ist, kann man das zu erahnen beginnen, was reservatives Denken im Wirklichen bewirken, was es gewissermaßen als Wirklichkeit hervorbringen will: Mündigkeit.

Sonntag, 8. Januar 2023

902

In unseren Gottesbildern spiegelt sich immer auch unser Verhältnis zum Wirklichen. Abhängig davon, was wir vom Wirklichen erwarten und abhängig davon, was uns im Wirklichen widerfährt, ist die Geschichte unseres Wirklichkeitsverhältnisses eher eine Erfüllungs- oder eher eine Enttäuschungsgeschichte. Entsprechend ist die Geschichte unserer Gottesbilder eher eine Konsolidierungs- oder eher eine Entzauberungsgeschichte.
Erweist sich das Wirkliche eher als enttäuschend, so verliert unser Gott seinen Zauber. Jenseits der Entzauberung lassen manche ihren Gott unbestimmt, manche interpretieren ihn um, manche verwerfen ihn. Auch hier ist wiederum unser Verhältnis zum Wirklichen maßgebend, das sich jenseits der Entzauberung in seiner Eigentlichkeit offenzulegen beginnt. Es offenbart sich nun vor allem unser Verhältnis zu uns selbst als Wirklichkeit. Man kann auch sagen: In unserem Gottesbild spiegelt sich immer auch unser Selbstbild. In unserem Gott spiegelt sich immer auch unser Selbst.

Samstag, 7. Januar 2023

901

Es ist unklug, als unpassend oder unbequem empfundene Konstellationen oder Umstände vorschnell zu verändern. Es kann sich als besser herausstellen, Konstellationen und Umstände so lange durchzuharren, bis sich unsere Haltung zum Wirklichen verändert hat.

900

Alter ist nur eine Zahl, so sagt man heute. Das ist eine besorgniserregende Feststellung. Festgestellt ist damit: Die Jungen halten sich für mündig, die Alten dagegen wollen gar nicht erst mündig werden. Wenn Alter bloß noch eine Zahl ist, dann heißt das: Wir sind gefangen in ewiger Adoleszenz.